Mein Fußballjahr 2008 hatte alles, begeisternde Wahnsinnsspiele und bittere Niederlagen, aber es war keine einzige langweilige Vorstellung dabei. Auch das letzte Spiel für mich im alten Jahr peilte ich zielgerichtet an: mein persönlicher Jahresabschluss in Stuttgart – und das gegen die Bayern, die sich mit allem bekleckern können – außer Bescheidenheit.

Die Karte für dieses Spiel, was am vergangenen Samstag stattfand, hatte ich schon, da war die Bundesliga-Saison 2008/2009 noch nicht einmal offiziell eröffnet, seit August 2008 halte ich das Ticket in Ehren, wartete so lange auf den großen Tag. Und ich sollte nicht enttäuscht werden.

Mitten in der Vorweihnachtszeit um 6 aufstehen müssen, wie immer bezeichnet als höchst unchristliche Zeit, ist hart, gerade wenn man nur 5 Stunden geschlafen hat. Nützt ja nix, alles eine Frage der Motivation, und nach einem leckeren Cappuchino aus der Glück bringenden VfB-Tasse gehts einem dann auch schon viel besser.

Wie vereinbart wurde ich 10 vor 8 Uhr in der Frühe an der Haustüre von meinem Stammfahrer Reinhart abgeholt, schnell noch am Hauptbahnhof 2 weitere Mitfahrer abgeholt und los gings nach Stuttgart, zum vierten und zum letzten Mal in diesem Jahr.

Das Wetter war ein Traum, kaum eine Wolke am Himmel sowie links und rechts von uns eine traumhafte, schneebedeckte Landschaft soweit das Auge reichte. Mein Bauchgefühl war äußerst positiv, es sollte ein schöner Tag werden. Ohne jegliche Probleme kamen wir rekordverdächtige 3 einhalb Stunden in der baden-württembergischen Landeshauptstadt an, wo ich am Hauptbahnhof “rausgeworfen” wurde und mich dort erstmal mit meinem Kumpel Franz traf, seines Zeichens gebürtiger Crailsheimer (Baden-Württemberg) und seit einigen Jahren Wahl-Leipziger und selbstverständlich auch Anhänger des Vereins für Begeisterung.

Zum Geburtstag bekam er das Bayern-Ticket von mir, wie positiv angespannt und aufgeregt er war, dass es endlich soweit war, konnte er nicht vergeben, er versuchte es nichtmal. Sein drittes VfB-Heimspiel sollte nicht verloren werden wie die anderen beiden zuvor (gegen Hertha BSC Berlin und den VfL Wolfsburg). Nach einem leckeren Mittagessen mit Spätzle und Maultaschen (ganz fair geteilt) machten wir uns schon auf zum Stadion, wo meine Freunde und Bekannten vom Fußballforum tooor.de bereits warteten, lediglich ein einziges neues Gesicht gab es dabei zu begrüßen, einer von den beiden Bayern-Fans, die zum Treffen erschienen sind.

Als auch Marc, der mich im November letzten Jahres zum Länderspiel nach Hannover mitgenommen hat, endlich da war, gabs erstmal was Feines auszuteilen: er hatte die Fotobücher dabei, die zum Rinnecup 2008 angefertigt wurden, unser foreninternes Fußballturnier im Sommer in Thüringen. Gemeinsam wurde beim Treffen viel gelacht, erzählt, gemutmaßt und – selbstverständlich – die Bayern-Fans angestichelt, die übliche neckische Giftspritzerei wie jedes Mal. Und ich bekam endlich die Chance, ein wenig schlechtes Gewissen aus dem Weg zu räumen: einer der Jungs bekam 2 Hefeweizen von mir ausgegeben, als “Bezahlung” für die geliehene Dauerkarte fürs Frankfurtspiel im Mai.

Während wir es uns oben auf der Terasse bequem gemacht haben (und das ist leichter gesagt als getan bei eisigen Temperaturen) und unter uns immer mehr und mehr Menschen zusammenkamen und man letztenendes nur noch durch genaues Hinsehen klären konnte, wer VfB- und wer Bayern-Fan ist fassten wir den Entschluss, frühzeitig ins Stadion zu gehen. Am Eingang trafen Franz und ich noch eine andere Bekannte von mir, die leider keine Zeit mehr hatte, zum Treffpunkt zu kommen.

Ohne jegliche Leibesvisitation durch die Eingänge gekommen und einmal drinnen fanden wir auch schnell unseren Platz am Scheitelpunkt der Untertürkheimer Kurve, leider viel zu sehr in Hörweite zum Bayern-Gästeblock. 3 Mal Untertürkheimer Kurve (Hamburg, Karlsruhe und nun Bayern) und nur 1 Mal Cannstatter Kurve (Frankfurt) reichen, um mich davon zu überzeugen, das es zwar schön ist, überhaupt dabei zu sein, ich es aber tunlichst vermeiden möchte, nochmal dort hin zu gelangen. Keine Stimmung, kaum Support, zu nah bei den Gästen. Aber keinen Vorwurf an Jonas, der mir das Ticket vor Beginn der Saison im August besorgt hat.

Die Zeit des Wartens ging schnell vorüber als wir uns köstlich amüsierten, das Bayern-Torwart Rensing beim Aufwärmen kaum einen Ball halten konnte. Wenn es nach mir geht, konnte es gern so weiter gehen, auch während des Spiels. Die Mannschaftsaufstellung brachte das, was wir schon befürchtet hatten. Der nach dem Spiel gegen Schalke als “angeschlagen” gemeldete Mario Gomez, der beim Auswärtserfolg in Cottbus fehlte, wurde zunächst auf der Bank gelassen. Und es war natürlich etwas gewöhnungsbedürftig, das persönlich erste Heimspiel nach der Ära Veh mit neuem Trainer in der Aufstellung zu beginnen. Doch wir alle sollten nicht enttäuscht werden.

Und auch mein außerordentlich gutes Bauchgefühl meldete sich nicht zu Unrecht bereits auf der Hinfahrt, unser VfB Stuttgart legte los wie die Feuerwehr, erspielte sich überragende Spielanteile, nichts zu sehen von den überheblichen und hochnäsigen Bayern. Doch es wollte nicht fallen, das längst überfällige 1:0 für den VfB, gespannt sahen wir zu, wie eine weiß-rote Lawine nach der anderen auf den Kasten von Michael Rensing zurollte, jederzeit den Torschrei auf den Lippen.

Wir waren uns sicher, der klasse spielende Ciprian Marica würde bei dieser Leistung heute sicher ein Tor erzielen, nur knapp scheiterte er jeweils vorm Kasten, zog einmal Millimeter über die Latte, aber wir hatten ein gutes Gefühl, “Cipri knipst heute!” waren wir uns sicher. Leider waren die Bayern-Spieler, deren Spielhärte bisweilen jenseits von Gut und Böse waren, damit nicht einverstanden und sorgten für Ciprians vorzeitiges Ende in dieser Partie, und das nach nur einer halben Stande. Mit Applaus für viele gute Aktionen wurde er verabschiedet und mit Trost auf die lange Monate geschundene Stürmerseele bedacht, was ihm sicher gut tat, wenn auch kein vollständiger Trost, ein solch wichtiges Spiel unfreiwillig beenden zu müssen. Für ihn kam Mario Gomez, der vorm Spiel in Cottbus mit 4 gelben Karten vorbelastet war und die Tatsache, das er auf einmal fehlt, für die einen die angebliche Verletzung, für die anderen eine Vorsichtsmaßnahme war.

Noch ein paar Sekunden in der 1. Halbzeit zu spielen, viele haben sich bereits von ihren Plätzen erhoben und suchten die nächstbeste Toilette oder den nächstbesten Bierstand auf. Da der VfB in der ersten Halbzeit in unsere Richtung spielte und die Jungs von der ersten bis zu letzten Minute der 1. Halbzeit Druck gemacht haben, gab es noch eine Ecke, die letzte Aktion des 1. Durchgangs. Simak lief zur Ecke um den ruhenden Ball auszuführen, noch einmal Herzklopfen, noch einmal größte Anspannung. Nahezu in Zeitlupe sah ich, wie der Ball von unserem Abwehr-Franzosen Matthieu Delpierre per Kopf verlängert wurde und wie auf einmal unser Mittelfeld-Genie Sami Khedira mit einem traumhaften Flugkopfball den Ball dort versenkte, wo er nach dieser super Leistung auch hingehörte: ins Tor. Ob man jetzt Mitleid mit den vorzeitig gegangenen Leuten haben sollte? Ein wenig vielleicht. Um mich herum hörte ich nur noch Jubel, Franz und ich fielen uns in die Arme und konnten diesen Last-Minute-Treffer kaum fassen. In diesem Trubel konnte man die Bayern-Fans in der Untertürkheimer Kurve plötzlich ganz genau ausmachen: sitzend, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ein leerer, schockierter Blick. Ich mache eine Dose Mitleid auf, wenn ich Zeit habe.

Das Spiel wurde danach nicht mehr angepfiffen, es ging direkt in die Halbzeitpause. Voller Adrenalin starrten Franz und ich uns an, beide noch etwas ungläubig, was da gerade eben passiert ist. Mit so viel Euphorie in den Adern half es einem zudem, die Kälte jenes Dezembernachmittags nicht allzu schlimm zu spüren. Der Blick schweifte durchs Stadion: das vierte und letzte Heimspiel 2008 (ich habe mich dabei trotz 550 km Entfernung schon an den Ausdruck “Heimspiel” gewöhnt) und es sieht gut aus für den VfB Stuttgart. Weiter so, kämpfen und siegen.

Meinen Wunsch haben die Jungs aber wohl leider nicht bis in die Kabine gehört. In der 2. Halbzeit waren dann die Bayern am Drücker, erspielten sich Spielanteile und aus der Partie, die zuerst nur von den Gastgebern dominiert wurde, wurde ein ausgeglichenes Spiel, der Ausgleich für die Bayern nach einem Abpraller war fast folgerichtig, hätte aber wegen Abseitsstellung nicht gegeben werden dürfen. Ausgleichende (Un)gerechtigkeit nennt man das wohl.

Als dann nach etwas mehr als einer Stunde das 2:1 für die Bayern fiel, waren wir diejenigen mit den leeren Blicken und den über den Köpfen zusammengeschagenen Händen. Ich konnte es nicht glauben: so gut begonnen und jetzt lagen wir sogar hinten. Noch gab ich die Hoffnung auf, aber als die Bayern immer weiter die drückende Mannschaft war und die Uhr auf der Anzeigetafel erbarmungslos herunter zählte, bekam ich weiche Knie und der eiskalte Angstschweiß sammelte sich auf meiner Stirn. Auch als der VfB wieder allmählich besser wurde und die Optimisten unter uns noch an einen Ausgleich glaubten, war ich bereits frustriert, deprimiert, geschockt und geknickt.

Franz, der unerschütterliche Optimist, zog mich aus meinem Loch heraus, das Spiel lief schließlich noch und wenn es einen gibt, der eine zeigen kann das alles möglich ist, wenn man den Willen hat, dann ist es unser VfB Stuttgart, der Verein, dem wir unser Herz geschenkt haben und dem wir Beistand und Support in guten und schlechten Zeiten gelobten, jetzt, gerade jetzt, kam es darauf an, die Mannschaft grenzenlos nach vorne zu peitschen, auf dass die Erlösung noch rechtzeitig komme.

Eine Stunde, nachdem diejenigen, die noch da waren, quasi mit dem Halbzeitpfiff von ihren Plätzen aufsprangen und den Führungstreffer von Sami Khedira bejubelten, erhob man sich erneut für ein letztes Anfeuern von den Sitzschalen. Steht auf, wenn ihr Schwaben seid! Und auch wenn ich keine gebürtige Schwäbin bin, so ist es doch ein Teil meiner Identität, dass ich selbstverständlich für meinen VfB in diese wichtigen letzten Minuten noch einmal alles gebe.

Die letzten 2 Minuten des Spiels haben begonnen, die Nachspielzeit wurde bereits vom 4. Offiziellen angezeigt und niemand stand mehr im Stadion, völlig unabhängig von den “Hinsetzen!”-Rufen von den Reihen hinter uns, die konnten mich jetzt alle am Popo schmatzen, wie beim 1:0 gab es noch eine Ecke für uns. Auch unseren Keeper Jens Lehmann hielt jetzt nichts mehr im eigenen Strafraum, unter dem Support der Zuschauer lief er mit nach vorne, um vielleicht etwas Unruhe zu stiften. Stürmer Cacau, der für den Eckengeber des 1:0 Jan Simak ins Spiel kam, trat an, wieder wurde der Ball verlängert, diesmal nach hinten Richtung Mittelkreis, und wieder war Sami Khedira zur Stelle, der Mann des Spiels. Während Jens Lehmann den Bayern-Keeper Rensing etwas behinderte, allerdings regelkonform und nicht zu ahnden, brachte er diesen vollends durcheinander und so drosch Khedira den Ball unhaltbar volley in die Maschen und brachte das Stadion zur Explosion. Die nächsten Sekunden waren wie in Trance, wo ich auch hinsah, ich sah nur die pure Freude in den Gesichtern der VfB-Fans, das Adrenalin schoss bis zum Hals und ich schrie vor lauter Glück.

Noch war das Spiel aber immer noch nicht vorbei, doch unsere Jungs und auch wir Zuschauer (mal abgesehen von den paar schimpfenden Bayern-Fans in unserem Block) waren so euphorisiert, dass wir das späte, aber derart verdiente Unentschieden nicht wieder hergeben konnten. Der Abpfiff des Schiedsrichters kam wie ein Segen für alle VfB-Fans, alles jubelte, alles sprang, alles tanzte und alles freute sich enorm. Meinereiner war verdammt froh, dieses Geschenk bekommen zu haben – und Franz? Der war natürlich unbeschreiblich froh, sein drittes Heimspiel in Stuttgart mal zur Abwechslung nicht verloren zu haben. Meine Serie hält ebenfalls. Mein viertes Heimspiel wurde nicht verloren, auch wenn hier und heute der Sieg drin gewesen wäre.

Schnell noch ein Blick auf die Tabelle: da die Mannschaften, die hinter uns standen, zu unserem Ungunsten gespielt haben, rutschten wir durch dieses Unentschieden sogar einen Platz nach unten, aber das holen wir schon wieder in der Rückrunde auf. Es ist erstaunlich zu sehen, was der Trainerwechsel bisher bewirkt hat: unter Markus Babbel haben wir bisher nicht verloren (und sollten es auch nicht einige Tage später beim richtigen Jahresabschluss mit einem 3:0 gegen Standard Lüttich) und spielen wieder richtig befreit, leidenschaftlich, engagiert. Und ich war schon drauf und dran, nach der Niederlage in Wolfsburg das Jahr 2008 mental abzuhaken.

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Zusammenfassung – auch wenn man kein Wort versteht 😉

Was bleibt an Eindrücken? Unbeschreiblich aufregend waren natürlich die beiden Tore, die zur psychologisch perfektesten Zeit kamen, um den Gegner zu überraschen und kalt zu stellen. Es war letztenendes spannender, als ich es gedacht hatte (mein armes Herz!) aber ich bin unglaublich erfreut, dabei gewesen zu sein, als das Stadion wieder einmal vor Freude explodierte. Wen interessieren da schon Eiseskälte und unangenehmer Wind, der einem ins Gesicht peitscht? Am Ende war es wie im Paradies, oder jedenfalls eine ganz gute Vorstellung davon.

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