Ich hatte gehofft, nicht wieder in ein altes Muster zu verfallen. Ewig lange her scheinen die Tage, als ich nach besuchten Spielen regelmäßig einige Tage brauchte, um einen ansprechenden Bericht zu verfassen. Etwas wehmütig sitze ich nun vor dem Editorfensters und versuche in Worte zu fassen, wie sich der Abschied von der geliebten Cannstatter Kurve ins Gedächtnis gebrannt hat. Das Spiel gegen Mainz, mit dem wir vorzeitig das internationale Geschäft hätten klar machen können, geriet zur Nebensache. Vielmehr war es das Gemeinschaftsgefühl und der schwere Abschied, was diesen 1. Mai zu einem besonderen Tag machte.

Viele von euch, verehrte Leser, kenne ich schon eine ganze Weile, manche wiederrum erst seit kurzer Zeit. Einige von euch schauen nur gelegentlich hier vorbei, andere wiederrum sind zum ersten Mal hier und auch Stammleser darf ich begrüßen. Ein paar von euch begleiten mich schon seit meinen Anfängen vor nicht einmal 3 Jahren, nicht wenige von meinen Lesern kennen mich nicht, jedenfalls noch nicht. Wo auch immer hierherkommt, wie auch immer ihr auf diesen Blog gekommen seid, ich möchte euch anteil nehmen lassen am letzten Tanz, bevor unsere Kurve ihren ewigen Frieden fand.

Selbstredend habe ich den meisten von euch gegenüber einen schweren Stand – für euch vermag es normal zu sein, dass die Cannstatter Kurve, Heimat der treuesten VfB-Fans, seit 10, 15, 20 Jahren euer Zuhause ist. Alle 2 Wochen ein Heimspiel im geliebten Stadion, die Seele aus dem Leib schreien und sich an manche Spiele später gerne wieder zurückerinnern, manches lieber schnell vergessen. Es ist Teil des Lebens geworden, ein Stück Alltag. Für andere wiederrum begann es harmlos, mit einem Heimspiel alle 2-3 Monate. Daraus wurde rasch eine Leidenschaft, die keine Worte dieser Welt auch nur halbwegs erklären könnten.

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Gerade einmal 2 Jahre ist es her, als ich das erste Mal die Treppenstufen hinauf stieg, für mich scheint es lange her. Viel ist seitdem passiert, viele Spiele wurden besucht, viele Siege wurden gefeiert, viele neue Freunde wurden gewonnen und unzählige schöne Stunden verbracht. Es wurde mein neues Zuhause, und auch wenn diese 2 Jahre in euren Augen vielleicht lächerlich erscheinen mögen, ich bin dankbar für das, was ich die letzten beiden Jahre erleben durfte, dass ich ein Teil von euch war und Freude empfand für alles, was die Liebe zum Verein aus meinem Leben gemacht hat – und vor allem die Menschen, die seitdem in mein Leben getreten sind, einige sind treue Gefährten geworden.

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Nur eine Vorstellung kann ich von dem haben, was in manchen vor und nach dem Spiel vorgegangen ist. Wer 15 Jahre auf den Rängen dieser Kurve verbracht hat, muss Abschied von etwas nehmen, das er vielleicht mehr liebt als alles andere auf dieser Welt. Nun möchte ich zurückblicken auf einen Tag, der mir eine Überdosis an Emotionen bescherte und der die Liebe zu dem Verein und deren Fans nur noch größer werden ließ.

Am Anfang dachte ich, es wäre nur ein Scherz gewesen – nur war es ernst gemeint, als ich von Oli gefragt wurde, ob ich nicht Lust hätte, bei einer der großen Abschluss-Choreographien mitzuwirken, um der Kurve eine würdige Verabschiedung zu ermöglichen. Sofort war ich dabei, ob seit 20 oder erst seit 2 Jahren, letztenendes ist jede helfende Hand eine gute Sache. Die Kurve hat mir so viele schöne Stunden geschenkt und nun war es an der Zeit, ihr etwas zurückzugeben. Die Frage, ob ich beim Aufbau der Choreographie mit helfen wollen würde, war in Bruchteilen einer Sekunde beantwortet.

Unbarmherzig klingelte der Wecker. Keine Gnade, raus aus den Federn. Schon am frühen Morgen ging es nach Bad Cannstatt zum Neckarstadion – und weil 10 Hände bekanntermaßen besser anpacken können als 2, nahm ich die Jungs von den Boys in Red einfach mit. Oder sie mich, das weiß ich nicht so genau. Zahlreiche Helfer waren schon Ort. Schon irgendwie ein eigenartiges Gefühl, wie leer es trotzdem am Stadion war, nirgendwo waren andere Fans zu sehen, die Security war stark dezimiert und man konnte sich nahezu frei bewegen.

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Der Blick ins Stadion jagte mir nicht weniger eine positive Gänsehaut ein – das erste Mal fast alleine im Neckarstadion. Für gefühlte 5 Sekunden schaute ich mich um, als wir die Treppenstufen zu den Blöcken B und 32 hinaufstiegen. Doch für den Ausblick sind wir ja nicht hergekommen. “Gebt mir was zu tun, ich bin nicht hergekommen, um dumm rumzustehen!” – der klügste Satz, den ich um 9 Uhr morgens von mir geben konnte.

Recht schnell gab es dann auch wirklich zum ersten Mal etwas zu tun, rote Papptafeln mussten aus dem neben dem Stadion liegenden Fahnenraum ins Stadion getragen werden, alle in Reih und Glied, jeder einen Stapel unter die mehr oder weniger kurzen, bzw. langen Arme geklemmt und los gehts. Endlich nicht mehr nutzlos! Ich freute mich sehr, hier und heute vor Ort zu sein und wollte tun, was ich konnte, um diesen Tag unvergesslich zu machen.

Nach der Einweisung im Innenraum vor der Cannstatter Kurve bekamen wir etwas zu tun, was uns die nächsten Stunden nicht nur gut beschäftigte, sondern uns auch bei Laune hielt. Aus roter und weißer Folie zurecht geschnittene Leibchen mussten laut einem Plan auf jedem einzelnen Platz der Cannstatter Kurve ausgelegt, mit Klebeband befestigt und mit einem DIN A4-Blatt mit Instruktionen versehen werden. Klingt viel und anstrengend, das war es auch, aber es hat Spaß gemacht, mit guter Teamwork ging das ganze viel schneller. Mein Wunder von Barcelona, mein Felix, war ebenfalls mit von der Partie. Daheimbleiben und ausschlafen wollte er schließlich auch nicht.

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Immer wieder die Treppen hoch und runter, die Rollen mit den Leibchen entfaltet und über die Klappsitze gelegt, Felix folgte mit Klebeband und Instruktionszetteln. Das Brustringshirt, welches mir bei Ankunft am Stadion von Oli sofort übergeben wurde (an dieser Stelle meinen ergebensten Dank fürs Zurücklegen!), war nach wenigen Stunden schon mit dunklen Dreckflecken übersät. Doch wen stört es schon, wir sind hier nicht im Schönheitssalon sondern im Stadion. Und wenn ich nicht gewollt hätte, dass ich mich so richtig schön für meinen Verein und die Fans schmutzig mache, wäre ich daheim geblieben und würde im Bett noch gemütlich schlummern statt von Reihe zu Reihe zu eilen und dafür zu sorgen, dass jeder Platz das farbige Leibchen bekommt, was er laut Blockplan zugewiesen bekommen hat.

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Die Stunden vergingen wie im Flug, wenn man mittendrin statt nur dabei ist und anpackt, wo es nur irgendwie geht, merkt man nicht, wie spät es schon ist. Die Nervosität stieg, wurde ich doch erst eine Woche zuvor in Bochum informiert, ich wäre ebenfalls zur Durchführung der Choreographie im Innenraum eingeschrieben und zugeteilt worden. Klipp und klar war Olis Ansage im Vorfeld per E-Mail: “12 Uhr Generelprobe, unbedingt anwesend sein!” – geht klar! Kurz vor um 12 suchte ich ihn auf, er bat mich auf die Kommandos eines Michi zu hören, zuordnen konnte ich ihn bis dahin noch nicht. Ich hielt die Augen auf und packte noch hier und da mit an.

Einen Moment des Durchschnaufens gönnte ich mir für kurze Zeit im Innenraum, begeistert betrachte ich das überdimensionale Bild, was im Rahmen der Choreographie in der Mitte hochgezogen werden sollte. Ebenfalls eigenartig, einfach im Innenraum herumlaufen zu können. Da blieb auch Zeit für ein kurzes Schwätzchen mit Arne von der Cannstatter Kurve Berlin, der ebenfalls mit ein paar anderen Jungs vom Fanclub schon zum Aufbau erschienen war. Da durfte ein kleines Erinnerungsfoto nicht fehlen.

Da war sie, auf die ich gewartet hatte: die Durchsage zur Generalprobe. Vorab hatte ich mich schon informiert, wo ich hinmusste. Fast schon neben meiner ursprünglichen Heimat, dem 37er Block, in dem ich den Großteil der Saison 2009/2010 verfolgt habe, stand ich nun vor Block 36 – wie bestellt und nicht abgeholt. Der Reihe nach postierten sich weitere Helfer, die sich wohl freiwillig zur Generalprobe bereit stellten, wäre es schwierig geworden, die fest zugeteilten Heber an Ort und Stelle zu versammeln.

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Viele Wochen Arbeit und viele Monate der akribischen Vorbereitungen hatte das Commando Cannstatt, Stimmungskern der Kurve, hinter sich. Liebevoll handgemalte Banner lagen nun vor den Helfern auf dem Boden des Innenraums, bereit, um diese auf Kommando hochzuheben. Es ist nicht so, dass ich nicht vorgewarnt worden wäre, die Banner waren schon schwer, doch es ging noch recht gut zu heben und alles ging gut, ohne ein einziges Problem. Zu guter letzt wurden noch Kommandos gerufen wie “1 Meter nach vorn”, “ein Stück nach links” und so weiter, bis schließlich der Treffpunkt 2 nebeneinander liegender Banner auf dem Boden mit Packband markiert wurde. Somit waren auch die Banner ausgerichtet, für deren Hochheben ich zugeteilt war. Dass es eine Ehre ist, mitmachen zu dürfen, erwähnte ich ja bereits, oder?


Bilder: www.lostboys99.de

Weder zum ersten noch zum letzten Mal jagte es mir einen schönen Schauer über den Rücken, als nach Errichtung der Banner etwa 2 Meter hinter uns das große Bild empor kletterte, hinaufgezogen an mehreren Seilen sah es einfach nur gigantisch aus. Aus der Froschperspektive beobachtete ich die feinteilige Detailarbeit, die bei der Produktion des riesigen Bildes nötig war – meinen Respekt an alle, die an der Entstehung beteiligt waren. Darunter auch Kumpel Philipp, dessen Grinsen bei diesen Worten ich mir jetzt gut vorstellen kann. Schnell noch kleine Nachbesserungen, die Seile fixieren und alles wieder langsam herunterlassen, das galt auch für die Banner, die äußerst behutsam wieder auf den Boden gelegt wurden, damit alles richtig bereit liegt, wenn der große Moment gekommen ist.

Viel gab es dann auch nicht mehr wirklich für mich zu tun, somit führte mich mein Weg vorerst wieder nach draußen. Mit meinem Schatz im Schlepptau wurde hier mal ein Schwätzchen geführt, da mal eine Plauderei entfacht, allesamt voller positiver Anspannung auf den würdigen Abschied unserer Kurve. Auch mein Kumpel Jonas war schon da, oft hatte es in dieser Saison nicht geklappt mit einem Treffen, erst jetzt gegen Ende haben wir das endlich in den Griff bekommen. Erste Eindrücke aus dem neuesten Heft der 2. Ausgabe von StoCCarda, dem Magazin des Commando Cannstatt, tolle Fotos, tolle Berichte, toll gemacht. Später sollte auch Marc von vfb-bilder.de dazu gekommen.

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Mein Großer ließ sich abkommandieren zum Bewachen der oberen Banner, die in den Fenstern der obersten Kurvenreihe befestigt waren – “Damit die nicht geklaut werden”. Nach einigen Schwierigkeiten mit dem genauesten kontrollierenden Sicherheitsdienst an den mittlerweile geöffneten Eingängen und einer raschen Lösung durch alte und neue Bekannte versorgte ich meinen am Fleck klebenden Riesen mit Speis und Trank und fand mich wieder zum vereinbarten Treffen mit Jonas und Marc ein, ihn lernte ich zum ersten Mal persönlich kennen. Auch hier war die Zeit begrenzt, aber äußerst erfreulich, dass sich mir noch die Chance bot, die “üblichen Verdächtigen” zu treffen, die allesamt irgendwie den Weg zu mir fanden, darunter auch Daniel, ebenfalls vom tooor.de-Forum.

Als der letzte der Bande begrüßt war, musste ich auch schon wieder gehen, mit den Worten “Ich muss noch arbeiten!” und einem angespannten Grinsen verabschiedete ich mich und fand mich ein zum Treffpunkt zwischen Cannstatter Kurve und Haupttribüne, auch Björn von der Cannstatter Kurve Berlin erwischte ich noch kurz – Björn, ich glaube, wir werden wohl nie wieder so viel Zeit zum Plaudern haben wie während der 3 Tage in Glasgow, nicht wahr? Alles lief nach Plan, die Heber und Helfer fanden sich zahlreich ein, darunter auch einige mir bereits bekannte Gesichter. Der Puls stieg exponentiell zu meiner Aufregung, welch elektrisierende Momente.

Es erschien mir wie eine Zeitlupe, als sich vor mir das Eisentor öffnete und den Weg freigab, dem ich inmitten der anderen Jungs und Mädels folgte. In den letzten beiden Heimspielen gegen Gladbach und Leverkusen sah ich sie ebenfalls stehen, und als sie in den Innenraum hineinliefen, wusste ich, mit wieviel Liebe und Leidenschaft die Kurve von den Fans verabschiedet werden sollte, dass eine 3-teilige Choreographie geplant wurde, die hier nun ihren grandiosen Schluss-Akt erreichen sollte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich 2 Wochen zuvor noch nicht, dass ich selbs dort stehen würde, wahnsinnig aufgeregt wie ein kleines Kind vor Heilig Abend. Ich wusste, was ich zu tun hatte, doch frei von jeglicher Macht, meinen Puls wieder zu beruhigen.

Nicht selten kommt es vor, dass mich das Lob für die mit Liebe geschriebenen und mit Leidenschaft garnierten Blog-Artikel erreicht, ich freue mich selbstredend über gute Bewertungen und nette Kommentare. Würde bei den langen Texten (die nur deswegen so lang sind, weil die Liebe zum Detail sonst nicht hineinpassen würde), denn eigentlich auffallen, wenn ich für einen Moment jegliche Poesie und Sinn für Artikulation vergessen würde? Der Moment, als das Signal kam und ich vor 41.600 Zuschauern im Neckarstadion in den Innenraum einlief, lässt sich nicht mit Poesie beschreiben. Das erste, und beunruhigenderweise das einzige, was mir in diesem Augenblick in den Sinn kam, als sich wenige Meter vor mir die Cannstatter Kurve empor hob, waren folgende Worte: “Ach du Scheiße, wie geil ist das denn?”.

Ein tolles Gefühl, vorbei an den Blöcken 31, 32, 33, 34, 35 bis hin zu Block 36. Da lag er wieder vor mir auf dem Boden, der Banner, für den ich zugeteilt war. Jegliches Gefühl für die Zeit war mir schon am Vormittag abhanden gekommen, ich weiß es nicht mehr, ob es noch 10, 15 oder 20 Minuten waren, bis es tatsächlich losging. Auch hier muss ich ausgesehen haben wie bestellt und nicht abgeholt, das sah auch mein Liebster, der noch immer im Block 38 der Hüter über den Banner war.


Bilder: www.lostboys99.de

Aus den anderen beiden Teilen der Choreographie, bzw. aus den letzten beiden Heimspielen war mir bekannt, dass die Banner nacheinander hochgehalten werden würden, bis alle stehen. Die Kamera schon längst wieder bei seite gepackt und voll bei der Sache, um meinen Einsatz ja nicht zu verpassen, machte mein wohl ebenfalls etwas nervöser Nachbar einen Fehlstart, der den ganzen Banner in Hysterie versetzte und für einige unangenehme Blicke sorgte. Nach Startschwierigkeiten war er oben – genauso wie mein Puls, der fast schon oben durch den Kopf hindurch nach draußen drang. Immer diese Aufregung. Mit beiden Händen und festem Griff hielt ich die Stange des Banners, die am Stoff festgetapt war.


Bilder: www.vfb-bilder.de

Auf den Instruktionszetteln, die wir zusammen mit den Leibchen auf jedem Platz bereitstellten, standen die genauen Anweisungen für die Fans. Nachdem die Banner standen, erstrahlte die Cannstatter Kurve in weißen und roten Papptafeln, allein das war schon ein schöner Anblick. Gemäß der Generalprobe folgte nun das große Bild, das man an einem Ballfangnetz befestigt hatte.


Bilder: www.lostboys99.de

Alleine der Vorschmack bei der Generelprobe ließ sich meine Nackenhaare schon aufstellen, doch als es dann soweit war und sich Zentimeter für Zentimeter das Bild nach oben erhob, sorgte die zunehmende und überaus wohlwollende Geräuschkulisse des Stadions für noch mehr Gänsehaut. Hinter mir erhob sich die größte Choreographie, die die Cannstatter Kurve je gesehen hatte – korrigiert mich, wenn ich falsch liege, war sie doch scheinbar noch größer als die bisher unerreichte Derby-Choreographie vom September 2008 im Heimspiel gegen Karlsruhe.


Bilder: www.lostboys99.de

Es vermag kaum einen Moment zu geben, der diesen Augenblick noch toppen konnte, das dachte ich zumindest. Während meine Hände das Banner unablässig und stabil festhielten und hinter mir noch das riesige Bild  prangte, wurde das Gefühl des Glücks noch einmal schlagartig verstärkt. Der Geräuschpegel war ohnehin schon recht hoch, somit verstand ich es kaum, was der Stadionsprecher sagte: “Cacau wird den Verein… (Pause) NICHT verlassen!” – die Jubelstürme, die trotz des dazwischenhängenden Riesenbildes auf mich einstürzten, waren allenfalls als unbeschreiblich zu bezeichnen. Cacau bleibt – obwohl er im März kund getan hatte, den Verein aufgrund mangelnder Wertschätzung verlassen zu wollen. Zuhause ist, wo das Herz ist – damit waren wir schon mindestens 2 mit dieser Erkenntnis.


Bilder: www.vfb-bilder.de

Langsam senkte sich das Bild und auch die Banner wurden langsam synchron herabgelassen. Petrus weinte jetzt schon die Abschiedstränen und schickte uns einen nicht gerade sanften Regenschauer. Schnell wurden die Banner zusammengerollt und mit raschen Schritten aus dem Innenraum entfernt. Ich dackelte als eine der letzten hinterher und nutzte die letzte Chance für ein einmaliges Erinnerungsfoto. Nun aber schnell an meinen Platz bevor ich völlig durchgeweicht bin.


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Ganz so einfach machte man mir es nicht. Bereits im Vorfeld wusste ich ja, dass ich vom Innenraum nicht die kleinen Tore zum Block benutzen darf, nicht einmal wenn ich den ultimativen Liebguck-Blick aufsetze mit Wimpernklimpern und allem, was dazu gehört. Stattdessen musste ich heraus aus dem Innenraum, raus aus dem Stadion, einmal ringsrum zum Block 37, Treppe hoch und da war ich schon. Als wäre es die normalste Sache der Welt beantwortete ich die Fragen nach meinem Verbleib während dieser wunderschönen Choreographie grinsend mit einem “Hajo, ich stand da unten im Innenraum und hab nen Banner hochgehalten!”. Noch immer schlug mir mein Herz bis zum Hals, die Aufregung und Anspannung legte sich nur langsam.

Nun konnte es auch endlich losgehen. Nach 2747 Wörtern und 17246 Anschlägen beginnt erst mein Bericht zum eigentlichen Spiel – aber dass dies an diesem Tag zur Nebensache wurde, erwähnte ich ja bereits. Der letzte große Auftritt vor heimischen Publikum an einem ohnehin schon emotionalen Tag. Ein letztes Mal saß ich auf meinem Platz, Block 37c, Reihe 44, Platz 6. Seit August 2009 war das meine Wohnanschrift, mit gelegentlichen Ausflügen zum Block 32. Mir wurde klar, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich diese Aussicht in dieser Form haben würde. Die letzte Halbzeit, meine Planung sah vor, in der Halbzeitpause den Stimmungskern aufzusuchen, um ein letztes Mal meine Mannschaft im Herzen der Cannstatter Kurve zu unterstützen.

Gedankenverloren schwelgte ich in Erinnerungen an die Heimspiele, die ich hier gesehen habe, nur nebenbei verfolgte ich das Spiel. Viel passierte in den ersten 45 Minuten ohnehin nicht. Der Regen, der währenddessen unablässig auf das Neckarstadion hinab fiel, schien so, als wären es Tränen zum Abschied. Damit hatten auch die beiden Mannschaften zu kämpfen, die teilweise Schwierigkeiten hatten, den Ball richtig zu führen und ein Spiel aufzubauen. 45 Minuten Ballgeschiebe, liegen gelassene Torchancen auf beiden Seiten, hier ein vertendelter Ball, da eine gute Aktion. Die Schönheit des Spiels lag jedoch fürs erste im Verborgenen.

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Neben mir gab der Stimmungskern der Kurve noch einmal alles, während die Zuschauer dort, wo ich noch verweilte, wie jeden 2. Samstag auf ihren Sitzen hockte, bruddelten und Bier tranken. Alles, nur nicht das, um der Kurve die letzte Ehre zu erweisen. Entsprechend enttäuscht war ich obgleich der erschreckenden Stimmung in den Blöcken 36 bis 38. Beim Ertönen des Halbzeitpfiffs, der die Spieler mit einem 0:0 in die Kabine schickte, verabschiedete ich mich von Marc, Andi und der netten Frau schräg hinter mir, in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Somit verließ ich den Block 37, wie ich ihn kannte, für immer. Ein letztes Mal drehte ich mich um, wehmütig ohne Frage, dennoch mit Vorfreude auf das, was noch kommt.


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Am Block 32 wartete mein Liebster bereits auf mich, gemeinsam ging es hinein. Dichtes Gedränge, wenig Platz, genau so muss das auch sein im Stehplatzbereich. Anpfiff zur 2. Halbzeit, möge sie besser werden als die erste. Seit einigen Wochen hatte ich immer wieder gehofft, noch einen gepflegten 3:0- oder 4:0-Sieg einzufahren, würde es heute soweit sein? Was auch immer geschehen würde, ich wollte dabei sein, beim letzten Tanz.

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Die ersten Minuten des 2. Durchgangs gaben allerdings wenig Grund zur Begeisterung, als die Mainzer Karnevalstruppe in der 52. Minute in Führung ging. Nicht verzagen, weiter machen, sofort wurde wieder angefeuert, wir selbst wollten uns nicht unsere Begeisterung nehmen lassen. Nur 11 Minuten später sah es jedoch schon etwas anders aus. Statt lautstarker Anfeuerung oder gar Jubelstürme sah ich in den Gesichtern um mich herum nur eines: das blanke Entsetzen. Der 2. Gegentreffer, Mainz führte nun schon mit 0:2, die Mannschaft wurde blamiert im eigenen Stadion.


Bilder: www.vfb-bilder.de

Als der Schock einigermaßen verdaut war und der Support wieder voll da war, waren etwa 10 Minuten vergangen. Oft haben wir in den vergangenen Wochen einen 0:1-Rückstand noch in einen Sieg verwandelt, doch einen 0:2-Rückstand wieder wett zu machen brauchte schon mehr als einfach nur die Ambition, man würde sehr viel mehr brauchen.


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Wie oft schüttelten wir über Ciprian Marica den Kopf, bevor er anfing, im denkwürdigen Champions League Spiel gegen Unirea Urziceni auf einmal Tore zu schießen. Wie oft wollten wir ihn loswerden, wie oft hätten wir ihn sogar hergeschenkt. Nur 10 Minuten nach dem 0:2 war er an Ort und Stelle um den 1:2-Anschlusstreffer zu markieren. Da war sie wieder, die Hoffnung, die Leidenschaft und der Wille, dieses Spiel doch noch umzubiegen. Eine knappe halbe Stunde war noch zu spielen, das kann in Fußballspielen eine Menge Zeit sein.


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Das bewies er eindrucksvoll nur wenige Sekunden später, als im Stadion der größte Jubel losbrach seit der Bekanntgabe von Cacaus Verbleib. Noch 2 Minuten zuvor rannten wir einem 0:2 hinterher, nun jubelten wir lautstark über das 2:2, ich wurde geschubst, geherzt, geküsst (nur von dem einen oder keinen!) und wieder geschubst, ich genoss es in vollen Zügen. Durchs Megaphon hörte ich die Worte: “Könnt ihr euch geileres vorstellen, als nach einem 0:2 noch ein 3:2 feiern zu können?” – also momentan konnte man sich wohl kaum etwas Schöneres zum Abschluss vorstellen, jeder tat sein Bestes, um die Mannschaft nach vorne zu peitschen.

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Am Ende hat es jedoch nicht sollen sein. Wir gaben alles, und auch die Jungs auf dem regengetränkten Rasen waren sichtlich bemüht, am Ende hofften wir vergebens auf den Siegtreffer des VfB. Erfreulicherweise schoss auch Mainz kein weiteres Tor mehr, so dass das Spiel, wenn am Ende auch etwas enttäuschend, mit 2:2 endete. Der Abpfiff kam leise, still und heimlich, ein eigenartiges Gefühl, konnte ich doch beobachten, dass sich kaum einer vom Platz bewegte. Es begann die Zeit des Verharrens und Abschiednehmens, die letzten Minuten der Cannstatter Kurve waren nun gezählt.


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Nach dem Abpfiff begaben sich die Spieler noch nicht gleich zur Kurve, wie sie das sonst immer getan haben. Sie verharrten am Mittelkreis und warteten darauf, ein letztes Mal vor die Kurve zu treten. Auf dem Rasen blieben sie stehen und bildeten eine Gasse, um die Spieler, die den Verein verlassen, würdig zu verabschieden: Jens Lehmann, Aleksiandr Hleb, Ricardo Osorio und Roberto Hilbert. Der Stadionsprecher bat jeden dieser Spieler vorzutreten und eine letzte Ehrenrunde auf dem Rasen zu laufen, ein paar nette Worte von Präsident Erwin Staudt sowie Blumen und Präsente für die scheidenden VfB-Spieler.


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Neben mir wurde unterdessen ein wenig Pyro abgebrannt und leider auch die eine oder andere Leuchtrakete aufs Spielfeld geschossen. Dennoch ließ man sich die Stimmung nicht verderben. Gemeinsam mit dem ganzen Betreuerstab und dem Team hinter dem Team lief die Mannschaft schließlich die paar Schritte zu unserer geliebten Kurve, nahmen alle Aufstellung an der Bühne in Reih und Glied.

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Den Moment werde ich wohl nie vergessen, als die ganze Kurve intonierte “Für immer Cannstatter Kurve!”. Eine Kurve verabschiedete sich, mit allem was die Lungen jetzt noch hergaben. Seit vielen Monaten haben wir gewusst, dass dieser Moment kommen würde, und dass er schwer werden würde, für jeden von uns, egal ob man seit 2 oder 20 Jahren dabei ist. Seit Wochen bereiteten wir uns mental darauf vor, die Emotionen, die einen in diesen Minuten übermannten, sind mit Worten kaum zu beschreiben. Um mich herum lag Schwermut und Abschiedskummer in der Luft. Wir alle wollten unser reines Fußballstadion, wohlwissend, dass auch die Kurven neu gebaut werden müssen. Wir wussten, dass der Abschied schwer werden würde, doch wie willst du da ruhig und entspannt bleiben.

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Zu guter letzt spielte noch die Berliner Band “Die Fraktion”, von ihnen kommt unter anderem “VfB en Leben lang”, alles erklärte VfB-Fans aus der Hauptstadt und Bekannte des Fanclubs Cannstatter Kurve Berlin, die ich an der Stelle auch nochmal alle zusammen grüßen möchte. Doch kaum einer vermag die Begeisterung aufzubringen, die wir an so manchen Tagen hier an Ort und Stelle erlebt haben.

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Teil 1: Vorbereitung der Choreographie
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Minutenlang blieben die Treuen und Unentwegten stehen oder sitzen, rangen mit den Emotionen, vom enthusiastischen Schüler bis hin zum gestandenen Familienvater. Souvenire wurden mitgenommen, in dem man mit aller Kraft versuchte, die Sitzschalen oder Teile davon auseinander zu nehmen, 2 Tage später würden ohnehin de Bagger anrollen. Ich ergatterte ein Stück zerbrochene Sitzschale, welches nun als Erinnerungstisch in Sichtweite auf meinem Schreibtisch liegt, direkt unter dem Poster “Eine stolze Kurve voller Geschichte”, welches der Sonderbeilage im letzten Stadionheft der Saison beilag und nun an meiner Wand hängt.

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Teil 2: Die Choreographie
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Dann wurde es für uns jedoch Zeit, loszulassen. Wir kämpften mit den Tränen, auch wenn wir das nicht zugeben wollten. Doch hätten wir uns nicht dazu aufraffen können, zum letzten Mal Abschied zu nehmen, würden wir heute immernoch dort stehen und nicht wahrhaben wollen, dass der Tag wirklich schon gekommen ist. Traurig stiegen wir die Treppenstufen hinab, ein letzter emotionaler Blick auf die Sitzreihen und Stehblöcke, unser Zuhause. Doch wir sind keinesfalls obdachlos, in einem Jahr wird unsere Kurve neu gemacht sein, wir sind näher am Spielfeld und können für eine noch bessere Stimmung sorgen.

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Teil 3: Ein letztes Mal alles geben!
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Lang und schwer war der Weg zurück. Selbst für mich war es schwer, nach nur 2 Jahren im Neckarstadion. Ich kann mir nur vorstellen, was in Felix vor sich ging, der 10 Jahre hier verbracht hat. Ich konnte lediglich ein schwacher Trost sein. Als ich am nächsten Tag heimfahren musste, wurde es auch nicht leichter. Die Dinge, die man liebt, zurückzulassen, gehört zu den schwersten Momenten im Leben. Manche kommen wieder – andere leben ewig weiter in der Erinnerung, untrennbar verbunden mit Gedanken an schöne Momente, die man erlebt hat. Ruhe in Frieden, geliebte Kurve, wir werden dich niemals vergessen.

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www.vfb-bilder.de

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