Molde, Bratislava, Odense, Chemnitz, Schalke, Bayern und Mainz. Ein Auszug der Gegner, die ein oder mehrere Tore von Martin Harnik hinnehmen mussten. Ob Europa League, DFB-Pokal oder Bundesliga, eines haben sie gemeinsam: es dauerte meist nicht mehr als 10 Minuten nach seiner Einwechslung. Den Status des Edeljokers wird er somit nicht so schnell los.

Ich wusste schon gar nicht mehr, wie es sich anfühlt. “Pfeif ab!” tobte die Kurve, nachdem wir 80 Minuten gehadert und 10 Minuten gejubelt hatten. Als die Hoffnung auf ein gutes Ende schon nahezu begraben war und die meiste Zeit des Spiels geschimpft, geflucht und gehadert wurde, so genügte ein weiteres Mal die Einwechslung unserer Nummer 7 um uns die Freude zu schenken, die uns allzu oft in dieser unsäglichen Hinrunde abging.

Die Untertürkheimer Kurve ist noch neu, dennoch lagen um ca. 17:20 Uhr überall Steine und schwere Felsbrocken auf den Rängen. Sie fielen von unseren Herzen, als Harnik in der 79. Minute völlig überraschend zum 1:0 einschob. Einen derartigen Jubelrausch gegen Ende des Spiels erlebte ich zuletzt am 12. April 2009 – jenem Tag, seit dem ich kein einziges Heimspiel mehr verpasst hatte.

Dabei war der Gedanke durchaus präsent, dieses Heimspiel eventuell ausfallen zu lassen. Grund dafür waren hämmernde Kopfschmerzen aufgrund des abrupten Wetterumschwungs. Vogelgezwitscher, warme Sonnenstrahlen und ein angenehmer Wind – frühlingshaftes Wetter im Januar, mehr als mein Kreislauf auf einmal verarbeiten konnte. Die Sucht trieb mich dann doch ins Neckarstadion, in die Arme meiner Fußball-Familie, wo jeder Schmerz vergessen und die Begeisterung wieder zum Leben erweckt wird.

Die Kopfschmerzen schwanden, die Laune bei den tollen Temperaturen stieg, zumindest bis zum Anpfiff. Ab da fragte ich mich nämlich für ganze 80 Minuten, wieso ich nicht doch lieber heim geblieben bin. Ein engagierter Start und dann plumpste das Gebilde, genannt VfB, wieder in sich zusammen wie ein Soufflé. Das kleine, aber fiese Gespinst in meinem Hinterkopf – genannt Aberglauben – summte vor sich hin, als würde es sagen wollen: “Ich hab`s dir ja gesagt!”.

Einer der zahlreichen Kommentatoren zum Spiel, wobei ich nicht mehr weiß, wo ich es aufgeschnappt habe, sagte: “Mainz war in allen Statistiken besser. Nur nicht in der, in der Tore gezählt wurden” – die Meinung teile auch ich, denn ein berauschendes Spiel war es nicht. Die Hoffnung auf Besserung hielt wenige Minuten bis die Mainzer wieder daran erinnerten, was sie in der Hinrunde so stark gemacht hatte: Schnelligkeit, Cleverness, Genauigkeit, Spielwitz und Leidenschaft. Hat mal jemand ein Messer, ich würd meiner Mannschaft gern ein paar Scheibchen davon abschneiden.

Mit hochgekrempelten Ärmeln tat ich im Block zumindest das, was ich konnte: anfeuern. Die Ernüchterung stieg, als ich hilflos zusehen musste, wie sich das Spielgeschehen immer mehr in unserem eigenen Strafraum abspielte und nur die Mainzer Unfähigkeit uns vor einem längst überfälligen Gegentor bewahrte. Mal war es auch pure Knappheit oder ein Spieler wie Cristian Molinaro, der den Ball in höchster Not von der Torlinie wegköpfte. Durchatmen? Sorry, gibts heute nicht. Das Bruddeln wurde lauter und lauter.

In der Halbzeitpause erwartete mich der obligatorische Kurz-Treff mit meiner besseren Hälfte und meiner Kumpeline Diana sowie ein großes 0,5-Liter-Trinkpäckchen. Lasst mich durch, ich hab Durst! Beim Halbzeitstand von 0:0 konnte man nicht zufrieden sein, und bei der Mainzer Überlegenheit, die wir auf dem Spielfeld sahen, war die Frage, was man aus der Hinrunde gelernt hätte, durchaus angebracht. Offenbar nichts – nicht ein Transfer wurde (bisher) abgewickelt.

Ein Zauberer steht beim VfB leider auch nicht auf der Gehaltsliste, was die Halbzeitmotivation angeht. Die Hoffnung, uns würde eine sensationelle 2. Halbzeit bevorstehen, war ebenso schnell zunichte wie vorerst der Glaube, dieses Spiel zu gewinnen. Es mangelte einfach an zu vielen Dingen. Noch stand es 0:0, Mainz dem Führungstreffer näher als wir – ein Gefühl, was man nur allzu oft in der Hinrunde hatte.

Während sich auf der Haupttribüne die ersten “Fans” in Bewegung setzten, um dem großen Menschenstrom zu entgehen, brachen für die wahren Fans die letzten spannenden 10 Minuten an. Niemand konnte voraussagen, was passieren würde, ein einziger kleiner Fehler könnte über Sieg oder Niederlage entscheiden. Ersteres stand definitiv auf der Wunschliste.

Leiser wurde das Bruddeln nicht, im Gegenteil. Die Uhr lief gnadenlos gegen uns, zumindest die echte Uhr. Die Uhr auf der Anzeigetafel war wieder einmal stehen geblieben – wie kann eine Digitaluhr eigentlich stehen bleiben? Schweig, mein dummes Herz! Macht was, Jungs! Noch ein paar Fotos der letzten Minuten, die die Mannschaft in unsere Richtung spielte.

Das Foto, das ich um etwa 17:11 Uhr auf die 2-GigaByte-Speicherkarte schrieb, hat Symbolcharakter. Es zeigt Timo Gebhart im Ballbesitz während eines unwiderstehlichen Solos, die anderen Spieler um ihn herum unscharf. Der Puls raste, der unsere kaum langsamer als sein eigener. Eine Flanke, ein Gewusel und dann: nur noch Geschrei.

Ich wusste nicht, wie mir geschah, ich wurde in die Arme meiner Freunde gerissen und hopste wie wild im Block herum. Konnte es wahr sein? Ein Blick zum Linienrichter, es wäre nicht unüblich gewesen, wäre dieses Tor aberkannt worden. Die Fahne war unten, die Tormelodie “Bro Hymn” wurde zum Engelschor in meinen Ohren.

Torschütze mit der Nummer 7 – Martin Harnik. Nur 9 Minuten vor dem Abpfiff, ein Tor, welches das Spiel entscheiden könnte, ohne sich zu früh zu freuen. Die verbleibende Spielzeit wurde erwartungsweise zur Qual, aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten scheinbar Stunden. “Pfeif ab!”, doch noch war es nicht soweit. Als um etwa 17:20 Uhr die Arme in die Luft gerissen wurden, war die Freude und die Erleichterung gleichermaßen perfekt. Für einen Moment war die Welt wieder in Ordnung.

Das haben wir gebraucht: einen richtig dreckigen Sieg, der nicht einmal verdient war. Wen interessierts? Wichtig waren einzig und allein drei Punkte, und auch, wenn am Ende der Saison auch der Erfolg und Misserfolg der Konkurrenten entscheidend sein kann, so gibt es nur eine Mannschaft, die uns vorm drohenden Abstieg bewahren kann. Und das sind wir selbst.

Zufrieden seufzends ging es heim, im Schlepptau mit Diana. Einen besseren Tag für den dritten Teil meiner Wohnungseinweihung hätte ich wohl kaum wählen können. Später kamen noch weitere Freunde hinzu, es wurde ein lustiger und geselliger Abend. Und dennoch, war an diesem Tag kein Gefühl stärker als dieses: Sieg.

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