Wir schreiben Mitte April 2011, das Spiel ist fast schon 2 Monate her. Die Erinnerung ist abgeschwächt, aktuell sind es noch 5 Spieltage bis zur am Ende hoffentlich erfolgreichen Mission “Klassenerhalt 2011”. Und am Ende sind es eine von jenen 3 Punkten, die an diesem Tag in Greifweite lagen und die gerade jetzt auf dem Punktekonto sehr gut täten. Es hätte etwas Beruhigendes. Eine Einwechslung in der 75. Minute leitete die Wende zum Negativen ein.

Dabei hätte mir ein bisschen Aufmunterung sehr gut getan. Das Auswärtsspiel in Leverkusen wurde zum Anschlussspiel an die Auswärtsniederlage in Lissabon und dem damit verbundenen Kurzurlaub an Europas westlichstem Punkt. Seit Beginn der Saison hingen wir schon in den Seilen, scheinbar aus eigener Kraft kaum aufstehen zu können, doch zu stur, um den Knock-Out vorzeitig schon hinzunehmen. Leverkusen wurde zur weiteren Kerbe im Holz einer enttäuschenden Saison.

Es war mein erstes Mal in Leverkusen und auch das erste Bundesliga-Auswärtsspiel in der Saison, kostete der Umzug nach Stuttgart ja nicht nur Nerven, sondern vor allem Geld und Zeit. Am Samstag Nachmittag landeten wir am Flughafen Köln-Bonn und suchten von dort aus erst einmal unser Hostel neben dem Hauptbahnhof in Köln auf. Köln wählten wir mit einer Selbstverständlichkeit, hat Leverkusen doch nicht einmal annähernd den Reiz, ohne jetzt die beleidigen zu wollen, deren Herz für die Werkself schlägt.

Abends ging es noch Spazieren, Essen und Trinken, doch der anstrengende Tag forderte schneller seinen Tribut als mir lieb war. Mit schweren Beinen legten wir uns ab – mit Vorfreude und Hoffnung, dass etwas Gutes dabei herauskäme. Am nächsten Morgen noch ein herrliches Frühstück in einem Cafe in der Schildergasse genossen, bevor wir langsam aufbrachen nach Leverkusen.

Viel war noch nicht los, für ein Bier in der nahe gelegenen Fankneipe war zumindest noch Zeit, bis sich das Stadion rings um den Gästeeingang herum füllte und man so manch bekanntem Gesicht “Hallo” sagen konnte. Eine Weile war es noch hin bis zum Anpfiff, viele Fotos vom halbleeren Stadion sind entstanden, solange ich noch die Gelegenheit hatte, mich mehr oder weniger frei zu bewegen. Wer sagt, dass nur ein Panorama des Stadions ein schönes Motiv sein kann – Aufkleber, Sitzschalen und Treppen sind nicht weniger interessant, wenn man sie gewissenhaft in Szene setzt.

Das Spiel begann etwas holprig, nach nur 7 Minuten schien sich jene frustrierende Maschinerie in Bewegung zu setzen, die schon den VfB-Fans in den letzten Jahren wenig bis gar keine Erfolgserlebnisse beschert hat. Kießling, verdammt noch eins. Noch nicht einmal 10 Minuten gespielt und schon wieder hinten. Das konnte ja verdammt lustig werden. Doch wer vor Leidenschaft brennt, dem kann auch ein Glas Wasser nichts anhaben.

Nach weiteren 10 Minuten war der Schock verdaut und die Mannschaft spielte wieder nach vorne. Traumhaft setzte sich da unser österreichischer Stürmer Martin Harnik gegen einen Gegenspieler durch und vollendete zum Ausgleich, es sah sogar aus wie durch die Beine geschossen. René Adler, mein Leipziger Landsmann, tat mir jedoch nur bedingt leid. Jeder ist sich selbst der Nächste. Wieder alles auf Anfang.

Dann passierte erst einmal lange Zeit nichts, von den Leverkusener Fans war nichts zu hören, von den Spielern beider Mannschaften nicht wirklich etwas zu sehen. Man bereitete sich eher schon auf die Halbzeitpause vor. Dass es nicht immer so läuft, wie man es sich in den Gedanken ausmalt, ist bekannt. Gonzalo Castro, deutscher Nationalspieler spanischer Abstammung, sorgte für die erneute Leverkusener Führung in der 41. Minute.

Mit den Schock in den Gliedern ging es zur Halbzeitpause, erstmal für kleine Auswärtsfahrer. Interessant: 2 Damentoiletten und 3 Waschbecken für den gesamten Gästeblock. Äh, ja. So war ungefähr meine Reaktion. Mit 2 Currywursten in der Hand ging es zurück in den Block, der – soweit ich das überblicken konnte – gut gefüllt war, 1.600 Gästefans waren dabei. Die Currywurst verbleibt als beinahe einzige gute Erinnerung an Leverkusen – die war nämlich richtig lecker.

Gerade einmal 7 Minuten gespielt in der 2. Halbzeit (Richtig, nach 7 Minuten fiel in der 1. Halbzeit das Führungstor für Leverkusen!), da war schon wieder alles offen: mit einem wunderschönen Distanzschuss markierte Zdravko Kuzmanovic den erneuten Ausgleich. Mir ist vor Begeisterung fast die gute Currywurst wieder hochgekommen! Alle schmissen sich vor Euphorie durcheinander, ein einziges Gewühl, mit ganz viel Gefühl. Doch noch waren ja fast 40 Minuten zu spielen.

Bis etwa zur 75. Minute schien es, als wollten sich beide Mannschaften offenbar auf ein 2:2 einigen. Cacaus Pfostentreffer, der auch von Neuzugang Shinji Okazak im Nachschuss nicht versenkt werden konnte, verursachte kollektives Raunen und über den Köpfen zusammengeschlagene Hände, ein Bild der Nervosität und Anspannung. Ich wäre eher für ENTspannung. Mit einem Punkt hätte ich (vorerst) auch leben können, ich glaube, das wäre mehr gewesen, als der VfB die letzten Jahre mit nach Stuttgart zurückgebracht hat. Hängende Köpfe werden in der Tabelle leider nicht mit produktiven Punkten gewertet. Und wenn doch, hätten wir in dieser Saison auch keine Probleme.

Martin Harnik, der den 1:1-Ausgleich erzielt hatte, verließ am Ende seiner Kräfte das Feld, für ihn kam der in letzter Zeit so wacklige Innenverteidiger Georg Niedermeier, der schon seit gewisser Zeit für keine positiven Erlebnisse mehr sorgen konnte. Für diese Wechselentscheidung gehört das VfB-Trainerteam übers Knie gelegt und den A…llerwertesten versohlt. Noch ahnte keiner, was geschehen würde.

Nicht einmal 10 Minuten noch, die Uhr tickte, weder für die eine noch für die andere Mannschaft. Alles war theoretisch noch möglich, auch für uns, die wir uns mit starker Moral nach zweifachem Rückstand zurückgekämpft haben. Solche Moral sollte immer belohnt werden – zumindest, wenn es den VfB betrifft, selbstverständlich.

Sehenden Auges schlug vor uns das 3:2 für die Gastgeber im Netz ein. Schockstarre, für einen kleinen Moment. Noch 9 Minuten plus Nachspielzeit, kommt schon Jungs, wer zwei Mal zurückkommt, kann das auch ein drittes Mal. Banges Warten, Zittern, Flehen, hilflos standen wir einer weiteren Situation gegenüber. Als würden wir unseren Kampfgeist aus der Kurve auf die entsetzten Spieler übertragen wollen, die Funken sprühten, doch das Feuer entfachte nicht.

Die Nachspielzeit war angebrochen. Viele von uns haben schon zu viel erlebt, als dass sie nicht daran glauben würden, was im Fußball alles möglich sein kann. Verloren geglaubte Spiele können gedreht werden, sicher geglaubte Siege noch aus der Hand gegeben werden, selbst ich habe schon viel gesehen. Die Hoffnung auf ein letztes einen einzigen Punkt rettendes Feuer wurde von einem Wasserfall überschwappt. Das 4:2 machte die Niederlage “perfekt”, ein Ergebnis, was den Spielverlauf wohl kaum wiederspiegelt.

Es ist der Job der Verteidiger, dafür zu sorgen, dass die eigene Mannschaft ohne Tor bleibt. Das weiß man schon seit der F-Jugend. Sei es Wegkköpfen, Weggrätschen, Wegdreschen, hauptsache Weg. Wo waren Molinaro, Delpierre, Tasci und der 5 Minuten vor dem 3:2 eingewechselte Niedermeier, als Leverkusen die beiden aus unserer Sicht rückgratbrechenden Gegentore schoss? Wenn ich meinen Job so erledigen würde, wie so mancher Spieler, wäre ich längst arbeitslos. Sie bekommen Millionen dafür, dass sie uns das Herz brechen und uns mehr Herzblut kosten, als man als leidenschaftlicher Fan ertragen kann.

Jeder Tag, den ich mit und für den VfB verbringe, jedes Spiel, jeder Sieg, jede Niederlage, jedes Unentschieden, jeder einzelne Moment macht mir eines klar: für mich ist es nicht nur ein Spiel. Es ist ein Stück meines Lebens. Blutet der VfB, blutet auch mir das Herz. Und immer, wenn wir Seelenlosigkeit zu Gesicht bekommen, fragen wir uns, wie weit jeder einzelner Spiele zu kämpfen bereit ist.

Sie hatten gekämpft, und den großen Fehler begangen, anscheinend mit einem 2:2 zufrieden zu sein. Ein Moment der Unaufmerksamkeit kann Spiele entscheiden. Das hätte unsere Mannschaft eigentlich wissen müssen. Geknickt zogen wir von dannen. Steh auf, wenn du am Boden bist. Arrogante Leverkusener “Fans” ließen meinen Puls nur unnötig in die Höhe schnellen, die Versuche, mich zu beruhigen, oder gar zu trösten, sind allenfalls so effektiv wie die VfB-Abwehr – nämlich gar nicht.

Erneut zurück nach Köln, ging es nach einem weiteren McDonalds-Besuch wieder in Richtung Heimat, mit dem ICE, den wir durch unsere “Reise-Komplett-Paket” mit inklusive hatten. Als wäre der Tag nicht schon schlimm genug gewesen, zog ich mir beim Umsteigen in Mannheim eine überaus schmerzhafte Patellaluxation zu. Wie das heißt, wusste ich auch erst nach Besuchen im Krankenhaus, bei einem Sportarzt, bei der Kernspintomographie und beim Physiotherapeuten.

Beim wüsten Gedränge in den schmalen Gängen des Zuges dachte sich meine linke Kniescheibe nach einem komischen Schubser, sie müsse mal eben ihre angestammte Position verlassen und mich mal eben den ganzen Waggon zusammenschreien lassen. “Ist Ihnen das schonmal passiert?” – die erste Frage, nachdem mir ein älterer Fahrgast mutig half und mein Bein streckte. Ein kurzes “Knack” und die Schmerzen waren erst einmal vorbei, der Schock blieb. Ein weiteres Erlebnis, auf das ich gern verzichtet hätte. Doch was wäre das Fandasein ohne Leid und Schmerz? Zumindest weniger schmerzhaft. In diesem Sinne: her mit den Krücken!

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