Im Oktober 2010 warf ich den vorerst letzten Blick auf meine Heimatstadt Leipzig – durch den Rückspiegel des Umzugstransporters, der ein letztes Mal bis unters Dach gefüllt war, die letzte von drei großen Umzugstouren. Es war das letzte Mal, das ich auf ostdeutschem Gebiet stand.

Viele Monate hat es gedauert, bis ich wieder dorthin zurückkehrte, wo ich meine Eltern und meinen Bruder sowie einige Freunde, die in Leipzig geblieben sind, zurückgelassen habe für mein neues Leben in Stuttgart. Ein Wiedersehen mit der Vergangenheit, etwas Wehmut war dabei, aber auch erneut die Bestätigung, dass ich alles richtig gemacht hatte. Zuhause ist, wo das Herz ist.

Nach einem schönen Wochenende mit Klassentreffen (Jahrgang 2002, wenig spektakulär mit dem Wissen, dass dieses Treffen jedes Jahr statt findet. Weiterhin wurden alte Freunde besucht und Zeit mit der Familie verbracht, Entspannung pur, keine Spur von Stress. Das alles war nur machbar durch das letzte Sonntagsspiel dieser Saison, Anpfiff 17:30 Uhr, Aufbruch dennoch in aller Herrgottsfrühe. Mit an Bord: David, alter Kumpel und natürlich auch VfB-Fan. Er ist des Studiums wegen in Leipzig, wird aber schon bald nach Stuttgart zurückkehren. Und so setzte sich halb 6 morgens setzte sich der Opel Astra mit der Beule am Kotflügel in Bewegung.

Was Felix und mir schon die Hinfahrt nach Leipzig zur Qual machte, war die Kunststoff-Abdichtung oberhalb der Windschutzscheibe. Auf der Autobahn gab es einen kurzen, aber lauten Schlag und der Wind pfiff hörbar hinein. Am nächsten Rastplatz mussten wir raus, das Teil wieder festklopfen und weiterfahren – so ging das ganze Fahrt weiter. Für die Rückfahrt klebten wir Panzertape fest über die komplette Breite. Es hielt etwa 10 Minuten.

Viele Kilometer hatten wir noch nicht geschafft, bis David auf der Rückbank einen Geistesblitz der Genialität hatte: das Panzertape in mehreren kleinen Stücken nicht quer über die Länge sondern versetzt anzubringen. Es hielt für die gesamte Fahrt, obwohl ich dem skeptisch gegenüber stand. Die beiden gingen bei der Weiterfahrt eine Wette ein – David bekommt eine Flasche Tequila von uns.

Bei herrlichem Wetter kamen wir in Stuttgart an, setzten unseren Mitfahrer direkt vor der Haustür ab und waren rechtzeitig zum Mittagessen da. Damit war noch genug Zeit, sich mental auf das Spiel vorzubereiten, welches uns mehr Nerven kosten sollte, als uns lieb gewesen wäre, dabei begann das Spiel am 27. Spieltag eher lahm und beschaulich.

Lange passierte nichts wirklich aufregendes. Die Jungs würden das schon machen, glaubten wir. Dennoch schrillten bei mir die Alarmglocken, als wenige Tage zuvor Felix Magath, grade entlassen auf Schalke, als neuer Trainer vorgestellt wurde. Vorteil Wolfsburg? Magath wurde 2009 Deutscher Meister mit der Werksmannschaft aus Golfsburg. Wäre dieser Umstand gewesen, man wäre noch unbeeindruckter von den Grünen aus Niedersachsen gewesen. Ebenfalls ein Mit-Abstiegskandidat, so wie wir. Es sind jene Wochen, in denen jedes Spiel gegen einen direkten Konkurrenten ist.

Wie es aber so oft heißt: wer vorne die Tore nicht macht, kriegt sie hinten. Wer sollte eigentlich auf Grafite aufpassen? Der Torschützenkönig des Jahres 2009 war nahezu ungedeckt, als er unter zaghaften “Berührungen” unserer Abwehr, die da eigentlich nicht wirklich eine war, zum 0:1 für die Gäste traf. Noch 5 Minuten bis zur Halbzeit, das gibt wohl wie immer lange Gesichter. Im Süden nichts neues.

Die zweite Halbzeit verbrachte man weitestgehend mit der Hoffnung auf Schadensbegrenzung, auf dem Rasen verfolgte man einen müden bis mäßigen Kick, große Euphorie konnte man nicht vernehmen. Erschreckend schwach, wie sich unsere Mannschaft erneut präsentierte. Und das gegen Wolfsburger, die jetzt auch nicht unbedingt vor Selbstbewusstsein und Spielfreude strotzten. Frustriert schaute ich immer wieder auf die Uhr. Minute um Minute verging, kein Tor wollte fallen, weder das 0:2 für Wolfsburg, noch das 1:1 für uns. Und es sah auch nicht so aus, zumindest nicht nach Ausgleich.

Die Nachspielzeit lief, nur noch wenige Sekunden. Etwa zu dieser Zeit wird jeder Kommentator (so auch der Live-Kommentar bei vfbtv) gesagt haben: “Sieht nicht so aus, als würde der VfB hier noch den Ausgleich erzwingen zu wollen”. Da kam Christian Gentner an den Ball, der seinen Erwartungen nach seiner Rückkehr – aus Wolfsburg – nicht gerecht werden konnte. Mal sehen, welchem Wolfsburger er den Ball jetzt freiwillig abgeben würde, es hatte schon etwas von Galgenhumor.

Doch weit gefehlt, er lupfte den Ball wunderschön auf Georg Niedermeier. Ja, ganz recht, Georg Niedermeier – eigentlich Abwehrspieler. Was macht er da vorne? Zumindest wird sich das jeder Wolfsburger gefragt haben. Die Gerüchte um seine Torgefährlichkeit scheinen sich noch nicht rumgesprochen zu haben: derzeit 5 Tore an der Zahl.

Als er sein Torekonto um ein weiteres erhöhte, explodierte das Stadion geradezu. Wunderschön vollendet, das Bundesliga-Logo als Vorlage. Ja ist denn das zu fassen? Wenn er nur auch so viele Tore verhindern würde, wie er vorne schon geschossen hat (übrigens: sein erstes mit dem Fuß), dann hätten wir auch so manche Niederlage abwenden können. Hier und heute liebten wir ihn – aus “Krampen-Schorsch” (oder andere abscheuliche Spitznamen) wurde “Der Niederstrecker”.

Ihm allein hatten wir den Endstand von 1:1 nach 94 Minuten jedoch nicht zu verdanken. Fast in der gesamten 2. Halbzeit tote Hose, doch statt nach 94 Minuten abzupfeiffen, eröffnete Schiedsrichter Manuel Gräfe das Spiel erneut und ließ somit unseren Puls noch einmal schlagartig nach oben schnellen. Beinahe noch der 1:2-Siegtreffer durch Grafite, Ulreich parierte geistesgegenwärtig. Puh, da geht dir Allerwerteste auf Grundeis, “Alter!”.

Erst Stunden später war mein Puls wieder auf Normalwerte gesunken, zu plötzlich kam der Ausgleich, zu euphorisch war der unerwartete Jubel. Ja, auch über einen Punkt kann man sich freuen, es hätte auch anders ausgehen können. Doch die Liebe zu unserem VfB Stuttgart ist stärker als jedes Panzertape. Im Anschluss an das Spiel fand noch der Tag der offenen Kurve statt, der in einem gesonderten Artikel abgehandelt wird. Und wir trafen noch auf Sven Ulreich, einer der beiden Helden der letzten Minuten. Achja, und falls jemand den Titel des Berichts immer noch nicht verstanden hat, den verweise ich auf die Werbungen der DKV.

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