Hätte ich mein Mundwerk nur nicht so weit aufgerissen. Auf der mehrstündigen Zugfahrt nach Bremen sagte ich noch, ich wäre im Falle einer Niederlage weniger enttäuscht, als wenn wir zuvor gegen Augsburg verloren hätten. Wenn ich mich da mal nicht täuschen sollte. Und dass Vorfreude, wenn der beste Torschütze des Gegners verletzt ist, auch nicht immer berechtigt ist, haben wir schmerzhaft erfahren müssen.

Die Frage, ob wir zum Auswärtsspiel nach Bremen fahren oder nicht, stand lange Zeit im Raum. Grund dafür war die Unsicherheit, mit welchem Verkehrsmittel wir hinkommen. Ursprünglich sollte das Spiel an einem Freitag stattfinden, als wir einst beim Auswärtsspiel in Kaiserslautern waren, erfuhren wir, dass das Spiel auf Sonntag Nachmittag verlegt wurde. Viele würden am Montag wieder arbeiten müssen. Und ob das Wetter mitspielt, konnte zu diesem Zeitpunkt auch noch keiner voraussagen.

Der Entschluss kam auf den letzten Drücker, am Tag als die Bestellphase für die Fanclub-Tickets abgelaufen wäre. Die Anreisemodalitäten wurden auch erst wenige Tage zuvor final klar gemacht: mit dem Zug sollte es gen Norden gehen. Eine lange Reise stand uns bevor, wurde aber durch das teilweise Nutzen des ICE’s auf Hin- und Rückfahrt ein wenig kürzer gemacht.

Zu Viert \” Felix, Gerd, Ingrid und ich \” machten wir uns am frühen Morgen des Sonntags auf den Weg. Vom Cannstatter Bahnhof aus mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof. An diesem Sonntag sollte auch entschieden werden, wie es weitergeht: Stuttgart 21 bauen oder aussteigen. Wir hatten unsere Kreuze bereits gemacht.

In der Hoffnung, dass der Zug einigermaßen leer bleibt und wir ohne Sitzplatzreservierung einen 4er-Tisch ergattern konnten, ging es gegen halb 8 los. Unser Weg führte uns als erstes bis nach Hannover, wo wir überpünktlich ankamen und nicht wie befürchtet 1 Stunde warten mussten sondern sofort in den Regional Express nach Bremen einsteigen konnten, der schon bereit stand. Alles nach Plan, zumindest vorerst.

Vorbei an ein paar kleinen und größeren Städten und Käffern, von denen ich noch nie im Leben gehört habe, erreichten wir den Ort Achim, direkt daneben einer Produktionsstätte von Lieken Urkorn. Aber statt dort weiter zu fahren, blieb der Zug stehen. Wie sich im Laufe der nächsten Minuten herausstellte, hatte ein vorangefahrener ICE einen Schaden und die Fahrgäste mussten aussteigen.

Da diese “evakuierten Fahrgäste” direkt auf den Gleisen rumliefen, wie per Durchsage mitgeteilt wurde, wurde der Verkehr vorerst ausgesetzt. Fast eine Stunde verging, bis der Zug abgeschleppt wurde und es weiter gehen konnte. Und ich war dankbar, dass wir in Hannover zumindest direkten Anschluss hatten, sonst wäre es fürs Spiel verdammt knapp geworden.

In Bremen angekommen war an Stadtrundgang oder gar eine Verschnaufpause nicht zu denken. Ein kurzer hastiger Blick auf ein paar Weihnachtsmarkt-Buden ging es direkt weiter zu den Straßenbahnen, wo sich bereits viele Grün-Weiße und Weiß-Rote versammelt hatten. Schnell noch in eine Bahn Richtung Weserstadion hineingepresst und nach einer Viertelstunde Fahrt dort angekommen, wo wir uns bereits beim Spiel letzte Saison versammelt hatten. Den Weg kannte ich sogar noch.

Auch für ein Treffen mit Freunden und Bekannten war keine Zeit, viele waren auch schon reingegangen. Ohne zu zögern ging es durch die Eingangskontrollen, nach der hatten Felix und ich noch einen kurzen Plausch mit VfB-Fanbetreuer Christian Schmidt, der dachte, wir hätten im Stadion geheiratet, weil er davon flüchtig in der Mitgliederzeitung gelesen hatte. Doch wer lesen kann, ist klar im Vorteil: bisher heiratete nur ein Pärchen im Stadion, wir waren eine von 10 Liebesgeschichten, die in der aktuellen Ausgabe von Dunkelrot abgedruckt wurden. Nur, um nicht noch weitere Gerüchte zu streuen…

Wie erwartet war es zu dieser Zeit schon gut gefüllt im Gästeblock, viel mit Platz aussuchen gabs da nicht mehr. Also einen einigermaßen akzeptablen Platz gesucht und dort erstmal durchgeatmet. Wir waren hier, rechtzeitig vor Anpfiff, jegliche Sorge zu spät zu kommen, die sich in dem Städtchen Achim langsam aufgebaut hatten, waren nun verflogen. Man begrüßte wie immer Sven Ulreich, der als erster zum Warmmachen auf den Platz kam. Unsere Nummer Eins. Wer war nochmal Bernd Leno?

Seit wenigen Tagen bin ich stolze Besitzerin eines neuen Smartphones, ein Samsung Galaxy S2 \” das selbe wie Felix auch hat. Bevor es losgehen konnte markierte ich noch schnell meinen Besuch im Weserstadion auf Facebook. Bald hagelte es Kommentare “Bring 3 Punkte mit!”. Nichts hätte ich lieber getan als das, glaubt mir.

Wie bereits vorab geschrieben, die Tatsache, dass sich Bremens bester Torschütze derzeit, Claudio Pizarro, verletzt hatte, stimmte mich ein bisschen optimistischer. Denn abgesehen von letzter Saison, als wir mit einem 1:1 relativ gut bedient waren, sah es die letzten Jahre in Bremen für den VfB meist weniger gut aus. Doch eines war ebenso klar: die Begegnungen unserer beiden Mannschaften sind regelmäßig torreich, laut Statistik fallen im Schnitt 5 Treffer pro Spiel, Heim- und Auswärtsspiele zusammengerechnet.

Dann konnte es auch schon losgehen, die Spieler betraten das Feld. Auf gehts Stuttgart, kämpfen und siegen. Wer weit reist, möchte auch was sehen für die Zeit, das Geld und die Nerven, die man investiert. Das Aufwand und Ertrag aber nicht immer zwangsweise fair verteilt werden, gehört zum Fußball dazu. Keiner vermochte zu wissen, was passieren würde. Selbst der Bremer, der uns im Regional Express zwischen Hannover und Bremen gegenüber gesessen hatte, war pessimistisch gestimmt.

Der VfB begann so, wie wir ihn die letzten Wochen immer wieder erlebt hatten, er tat das, wie schon die Spiele zuvor: nämlich die erste Halbzeit nahezu völlig zu verschlafen. Der einzige, der so richtig auf dem Posten war, war unser Sven Ulreich, der aus den wenigen Szenen der 1. Halbzeit alle der teils hochkarätigen Chancen vereilten konnte.

Es wurde schon langsam dunkel im Stadion, trotz Flutlichtmasten bestätigten sich meine Befürchtungen, die ich letztes Mal hier bei strahlendem Sonnenschein nicht hatte: die Lichtverhältnisse ruinierten auf die doch recht weite Entfernung zum Stimmungskern beinahe jedes Foto. Auch Felix hatte damit zu kämpfen, der jeden Modus, jede Einstellung seiner Kamera durchprobierte und kaum ein anständiges Bild hinbrachte.

Besonders ermutigend war das Spiel nicht. Zuzusehen, wie Bremen eine Chance nach der anderen hat, unsere Spieler nach wenigen Sekunden den Ball wieder verlieren, und wie nur noch unser Torwart der Bremer Führung im Weg stand. Aufwachen, Leute! Nach vorne ging nicht viel, Tasci mit einem Kopfball, aber Tim Wiese, einer der letzten Paradiesvögel der Bundesliga, war zur Stelle.

Der Wind pfiff uns in den Nacken, die Partie war kein Augenschmaus, doch noch stand es 0:0. Schon längst hätte es 1:0 oder gar 2:0 für die Gastgeber stehen können, unser Glück dass wir Ulle im Tor haben. In der Halbzeit wurde wie immer geschwätzt und Mutmaßungen angestellt, welchen Spieler man neu reinbringen könnte.

Bis auf Ulreich wäre allerdings auf jeder Position Bedarf gewesen, denn das, was bis hierher geboten wurde, ist einfach nur schlecht. Doch auch gegen Augsburg spielten wir schlecht und gewannen am Ende doch. Auch hier in Bremen? Warten auf den Wiederanpfiff.

Meine Vermutung schien sich zu bestätigen, dass die zweiten Durchgänge einer Partie stets die wesentlich besseren sind. Etwa 2.000 mitgereiste Fans, die auf unterschiedlichsten Wegen die Reise in die Hansestadt antraten, sahen zu, wie kurz nach Wiederanpfiff Martin Harnik und Shinji Okazaki nur knapp am Tim Wiese scheiterten. Doch auch wenn dies das 0:1 gewesen wäre, meine innere Unruhe wäre nach wie vor da gewesen.

Nach nicht einmal einer Stunde war es das dann gewesen mit dem 0:0. Verteidiger Maza, der wie viele der Stuttgarter nur halbherzig anwesend war, hinderte Bremer Aaron Hunt nicht energisch genug im Strafraum. Auch Ulreich konnte nichts mehr machen, das Hupen des Dampers brummte durchs Stadion, 1:0 für Bremen, das tut weh.

Das musste ich erstmal verarbeiten. Kurze apathische Stille im Gästeblock, doch direkt darauf stieg man wieder ein in den Support der Mannschaft, die es in dieser Phase gewiss ganz dringend gebrauchen konnten. Es waren noch mehr als 30 Minuten zu spielen, jetzt schon die Flinte ins Korn werfen wollte keiner von uns.

Dass es dann doch schneller gehen würde, als wir dachten, war gelinde gesagt ziemlich bitter. Gerade einmal 10 Minuten nach der Führung durch Aaron Hunt gab es einen Freistoß für Werder direkt vor deren Fankurve, die einige Male optisch in Erscheinung trat, mit Schalparaden, Fahnen und gemeinschaftlichem Hopsen.

Naldo trat an zum Freistoß, den es kurz vorm Strafraum gab. Die Mauer stand falsch, genau wie Sven Ulreich, dem man aber am allerwenigsten einen Vorwurf machen kann. Ein Strahl mit 108 km/h in den berüchtigten Torwart-Winkel. Das berauschte Jubeln der Norddeutschen war grässlich mit anzuhören.

An einem Tag, an dem fast jeder der VfB-Spieler mit dem falschen Fuß aufgestanden ist, gab es nur weniges, was einen ermuntern konnte. Eines musste man ihnen lassen, sie gaben nicht auf. Viel zu spät wurde ihnen bewusst, was auf dem Spiel stand und dass nicht mehr viel Zeit wäre, um das Ergebnis einigermaßen wieder gerade zu biegen.

Ein Anschlusstreffer (wie eine Freistoß-Variante, die noch gegen Dortmund in abgewandelter Weise funktioniert hatte) wäre durchaus drin gewesen, hätte man sich geschickter angestellt und wäre nicht ein ums andere Mal an der Abwehr der Bremer hängen geblieben. Leider hatte es nicht sollen sein. Frustriert schauten wir zu, wie unseren Jungs, die uns in den letzten Wochen sowohl Freude als auch Trauer brachten, nichts zählbares zu Stande brachten.

Immer wieder der Blick auf die Uhr, die Minuten liefen gnadenlos runter, während Bremen fast noch das 3:0 gemacht hätte. Ich hatte mir das eigentlich irgendwie anders vorgestellt. Nun bekamen wir die Quitting dafür, noch keine Konstanz im Spiel zu haben, die uns recht gut tun würde. Und ein Harnik allein, der häufig unser Retter war, hat nicht immer die 100%ige Zuverlässigkeit.

Nicht wenige Tore entstehen in den letzten Wochen mehr durch Glück als mit durchdachtem Spielaufbau, nur wenige Male können wir über die komplette Spiellänge überzeugen und was schon gegen Augsburg in der ersten Hälfte eine Zumutung war, setzte sich in diesem Spiel fort, auch wenn sie es immer wieder versuchten. Sie wirkten zu oft sehr ungelenk und ungeschickt. So kannst du nicht gewinnen.

Das Unheil nahm seinen Lauf, nach 92 Minuten war der Spuk vorbei und Schiedsrichter Kinhöfer erlöste uns. Vermutlich hätte der VfB noch 2 Stunden spielen können, ohne ein Tor zu schießen. Ohne das Geringste etwas dagegen tun zu können, musste man sie hinnehmen, die nächste Niederlage. Verglichen mit letzter Saison aber immernoch kein Genickbruch.

Die letzten Momente der Partie beobachteten wir auch nicht mehr oben im Stehblock, sondern unten am Zaun, wo wir mit Abpfiff sofort das Weite suchten. Nicht, weil das Leid unerträglich war, vielmehr im Bestreben, die Straßenbahn Richtung Bahnhof zu bekommen, wo unser Regional Express zurück nach Hannover nicht extra nur auf uns warten würde.

Schnell flüchteten wir vom Ort des Geschehens, bahnten uns unseren Weg durch die Massen, die sich zeitgleich mit uns in Bewegung gesetzt hatten, direkt in eine der schon recht vollen Straßenbahnen. Irgendwo festhalten und versuchen nicht umzufallen. Hat irgendwie nicht so ganz geklappt, ein Radfahrer sorgte für eine Vollbremsung und es beförderte mich ungebremst und ohne Halt zu Boden. Ein Bremer Fan fragte mich besorgt “Alles klar?” – “Geht schon!”. Ich dachte: “Die Niederlage ist wesentlich schmerzhafter”.

Ohne weitere Probleme erreichten wir den Bremer Hauptbahnhof, warteten noch ein paar Minuten auf unsere Bahn und fuhren dann gemütlich in Richtung Hannover, wo wir wieder in den ICE einstiegen. Nach ärgerlichen Niederlagen, die absolut unnötig sind, gibt es bei mir oft nur 2 Möglichkeiten. Bruddeln oder Schweigen. Im aktuellen Fall: beides.

In Hannover gabs noch eine Vesperpause, bevor es weiter ging. Beim Umsteigen in den ICE achtete ich penibel genau darauf, mit niemanden zusammenzustoßen, immer ausreichend Abstand zu den Armlehnen, als wir uns durch die Menge quetschten. Mein letztes Umsteigen in einem ICE habe ich noch gut in Erinnerung, einst sprang mir nach dem Auswärtsspiel in Leverkusen letzte Saison die Kniescheibe raus, unheimlich schmerzhafte Geschichte.

Immer wieder schlief ich ein, ob im gemütlichen Sitzplatz oder mit verschränkten Armen auf dem Tisch liegend, so richtig erholsam war weder das eine noch das andere. Aber dennoch war ich kurzzeitig weg, als ich zwischenzeitlich aufwachte, war auf einmal Kumpel Daniel am Nachbartisch und schwätzte mit Gerd.

In der Zwischenzeit haben wir auch das Ergebnis von der heutigen Volksabstimmung zu Stuttgart 21, oder vielmehr zum Kündigungsgesetz erfahren: knapp 60% stimmten gegen das Kündigungsgesetz, also für das Weiterbauen des Milliardengrabs Stuttgart 21. Die nächste Niederlage, an unserem Tisch saßen durchweg nur Leute, die dem Ganzen nichts abgewinnen können. Nun, da wir nichts mehr dagegen tun können, hoffe ich zumindest, dass man optimiert, was noch zu optimieren geht und es nun gut zu Ende bringt. Auch wenn wir es uns anders gewünscht hätten, wie so manches an diesem Sonntag.

Kurz vor 1 Uhr nachts erreichten wir Stuttgart. Per Durchsage erfuhren wir, dass der Regional Express, letzte Fahrmöglichkeit Richtung Bad Cannstatt, auf uns warten würde. Gerd und Ingrid versuchten ein letztes Mal \” vergeblich \” mich wieder aufzumuntern. Es vermochte nicht gelingen.

Die beiden fuhren heim mit ihrem Auto, dass sie am Morgen hier abgestellt hatten. Und für mich setzte sich die innerliche Aufarbeitung des Spiels weiter fort. Mit Frust im Bauch schläft man nicht besonders gut, dennoch wurmte es mich. Offiziell wurde das Spiel mit dem Freistoßtreffer von Naldo verloren. Inoffiziell seit der 1. Minute, als es der VfB verpasste, ernsthaft aktiv am Spiel teilzunehmen.

Und das zu wissen ist alles andere als ermutigend für den Rest der Saison. Es folgen noch Heimspiele gegen Köln und Bayern München sowie das Abschluss-Spiel in Wolfsburg, an dem ich mehr oder weniger nur nach dem Motto “der Weg ist das Ziel” teilnehme. Mit einem eigenen Bus machen wir uns auf den Weg, eine schöne Sache. Hoffnungen auf einen Auswärtssieg halten sich in Grenzen, dabei wäre es schön, wenn ich mein altes Wolfsburg-Trauma mit 10:1 Gegentoren (4:0, 4:1, 2:0) endlich besiegen könnte.

Auch die anderen beiden Spielen stimmen mich nicht gerade zuversichtlich, die letzten Jahre sahen wir daheim gegen Köln stets alt aus, unvergessen das 0:1 letzte Saison. Und gegen Bayern München, nunja, das ist eine Geschichte für sich. Ob sich die teils grausigen, teils ermutigenden Ergebnisse der letzten Saison (3:5 in der Bundesliga, 4 Tage später 3:6 im DFB-Pokal) wiederholen, wird sich zeigen. Ich hoffe es nicht. Aber meine Hoffnung ist bekanntermaßen auch da, wo nichts zu holen ist.

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