Auch so kann Fußball manchmal sein. Da denkst du, du bekommst in der 88. Minute den Sieg geschenkt, und dann wird dir so fies ein Bein gestellt. Aber fangen wir mal von vorne an. Es war der späteste Anpfiff seit Bestehen der Bundesliga, die in dieser Saison ihren 50. Geburtstag feiert. Grund dafür war die Auslosung unseres Gegners Dynamo Moskau, oder vielmehr der wenige Stunden später folgenden Verlegung des Spiels auf je 2 Tage vorher, da sonst zeitgleich 3 Moskauer Vereine Spiele hätten.

Dass der VfB dann nach dem ursprünglich für Sonntag geplanten Spiel gegen Wolfsburg nur 2 Tage Pause hätte, wäre der UEFA egal gewesen. Deshalb beantragte der VfB eine Spielverlegung, stieß zunächst auf taube Ohren beim DFB und es klappte dann doch, Samstag Abend, 20:45 Uhr. So spät wie noch nie. Das hatte natürlich auch Einfluss auf den traditionell vor jedem ersten Saison-Heimspiel stattfindenden Fanumzug, die Karawane Cannstatt, der ich auch schon in den letzten Jahren regelmäßig beiwohnte, vom Mitlaufen bis zu einer der Fotografen, die vorne weg laufen und die beste Sicht haben.

Kurz nach halb 6 machten wir uns auf den Weg, wie üblich an der Aral-Tankstelle Waiblinger Straße gegenüber vom Burger King. Die Uhrzeit des Treffpunkts war angegeben mit 18 Uhr, sehr viele waren schon vor Ort. Ein paar Bekannte gegrüßt, hier und da noch ein Schwätzchen gehalten trennten sich Felix’ und meine Wege recht bald. Er suchte die Wohnung seines Kollegen im 4. Stock in der Daimlerstraße auf, während ich mich weit vorn platzierte um die Karawane von vorne fotografisch zu dokumentieren.

Ein riesen Mob machte sich auf seine Reise, die allermeisten davon im gewünschten Heimtrikot, weiß mit rotem Brustring. Unzählige Fahnen und Schals bannten sich ihren Weg die Waiblinger Straße entlang, durch die Fußgängerzone, am Cannstatter Bahnhof vorbei, durch den Tunnel die Daimlerstraße herunter und dann die Mercedesstraße entlang bis zum Stadion. Gelinde gesagt: ich war etwas im Stress, genau wie Felix, der sich nach dem Passieren der Karawane, die er von oben fotografieren konnte, auf den Weg machte um sie rechtzeitig vor der Brücke an der Schleyerhalle sogar noch zu überholen.

Das Display meiner Spiegelreflexkamera zeigte 280 Bilder, alleine von der Karawane, die nochmal etwa 50% Zuwachs gegenüber letztem Jahr verzeichnen konnte (wenn ich das richtig mitbekommen habe). Ich war auch überaus dankbar, dass der Wetterbericht sich geirrt hatte mit seinen 85% Regenwahrscheinlichkeit ab ca. 17 Uhr, es blieb vorerst trocken. Vor dem Stadion ließ ich meine Kamera noch sicher wegschließen und wir gingen hinein, ich hatte natürlich noch meine normale Stadionkamera dabei.

Das erste Bundesligaheimspiel, Erinnerungen wurden wach. War das toll letzte Saison, als wir unsere Kurve nach dem Umbau in Beschlag nehmen durften in einer weiß-roten Einweihungszeremonie, wenn man so will. Von oben regnete es weiße und rote Papierschlangen, am Spielfeldrand schossen Feuerfontänen in die Höhe, wir hatten unsere Kurve wieder, die Kurve hatte uns wieder. Dazu noch der euphorische 3:0-Sieg gegen Schalke, das alles bleibt im Gedächtnis haften. Sollte doch gegen Wolfsburg wieder funktionieren, oder?

Wie sehr wie es vermisst haben in der Sommerpause, die zwar nicht frei von Fußball war, aber frei von dem, was wir damit verbinden. Fußball bedeutet uns mehr als 90 Minuten, in denen 22 Männer einem Ball hinterherrennen. Es ist das Gefühl, wie du jedes Wochenende deine Freunde und Bekannte triffst, daheim oder 800 Kilometer weit weg, das Gefühl, durch das Drehkreuz zu gehen, die Treppenstufen zu deinem Platz, der Blick in die Kurve, dieser Moment, den du gegen Nichts in der Welt eintauschen wollen würdest: das Gefühl, zu Hause zu sein. Egal wo du bist. Bei deinesgleichen.

Es war angerichtet, von mir aus konnte es sofort losgehen. Wir haben so viele Monate darauf warten müssen, dass die Bundesliga wieder losgeht, da sind die letzten Stunden besonders schwer (das Qualifikationsspiel gegen Moskau ist ja keine Bundesliga, also davon ausgenommen). Eine dreiviertel Stunde war allerdings auch noch Zeit bis zum Anpfiff. Noch gab es viele Lücken im Stehplatzbereich, das nutzten viele Karawanenläufer für eine kleine berechtigte Verschnaufpause.

Noch nie habe ich jedoch erlebt, dass die zahlreichen Ordner, die im Stehplatzbereich eingesetzt sind, zu den Leuten hingehen und sie auffordern, sich hinzustellen, es sei immerhin ein Stehblock. Gehts noch? Wenn 2 Meter vor uns alles frei ist? Er hatte seine Anweisungen und kann im Prinzip nichts dafür. Doch meint er denn, wir bleiben das Spiel über sitzen und belegen kostbaren Platz? Seine Chefs haben anscheinend nie im Stehblock gestanden. Kurzes intensives Geplänkel und die Sache war erledigt.

In der anderen Ecke des Neckarstadions war eine kleine Anzahl mitgereister Wolfsburger zu sehen. Berichten zufolge waren es etwa 250 Leute, immerhin ein vielfaches mehr als noch vor einigen Jahren, als sie wenn ich mich recht entsinne mit lediglich 50 Leuten ankamen. Wie jedem durch einen Konzern oder Mäzen gesponserten Verein haben wir nichts als Verachtung und Häme übrig.

Wenn wir mal Vergleichen: der VfB hatte (laut Informationen unserer Fanbetreuer) über die gesamte letzte Saison (Bundesliga und DFB-Pokal) durchschnittlich 3.100 Fans auswärts mit dabei, trotz vieler Freitags- und Sonntagsspiele, die teilweise sehr weit entfernt waren. Dass das immernoch kein Vergleich zu Dortmund ist, die jedes Auswärtsspiel zum Heimspiel machen könnten, ist uns jedoch ebenfalls bewusst.

Während ich noch darüber sinnierte, was dieses Spiel für uns bereit halten könnte, vergingen die letzten paar Minuten. Die Mannschaften liefen ein, jetzt konnte die Bundesliga-Saison wirklich beginnen. Und wenns nach uns geht, gerne mit einem überzeugenden Sieg. Dass das am Ende so gar nicht eintraf, hat keiner von uns für möglich oder vorhersehbar halten können. Wie denn auch, die Geschichte der letzten Jahre stimmte zuversichtlich.

Zu groß das Selbstbewusstsein, dass es trotz der naturgemäß mittelprächtigen Hinrunden doch zumindest für Wolfsburg reichen dürfte, gegen die wir daheim in den letzten Jahren immer gut ausgesehen haben. Von 16 Heimspielen gegen Wolfsburg nur 2 Niederlagen, die letzte davon vor über 10 Jahren in der Saison 1999/2000. Wer sich dachte, es sei ein leichtes Spiel, sah sich nach 90 Minuten schwer getäuscht \” und enttäuscht.

Auch das letzte Heimspiel gegen Wolfsburg blieb in Erinnerung \” denn es war das letzte Spiel der vergangenen Saison, als wir in strömenden Regen zuerst 0:2 zurücklagen und dann binnen weniger Minuten das Spiel noch drehten und mit 3:2 gewannen. Das hier war auch schon von Beginn an kein einfaches Spiel, statt dem häufig üblichen Abtasten in den ersten Minuten gingen beide Mannschaften gleich hohes Risiko. Zumindest hatte man nicht das Gefühl, dass der VfB dieses Spiel dominieren würde, wie er es sonst gegen Wolfsburg zu tun pflegt.

Es entwickelte sich ein kampfbetontes Spiel mit vielen Torchancen auf beiden Seiten, zur Begeisterung der 48.000 Zuschauer, die soweit ich es einschätze, ein Negativrekord der letzten Monate sein dürfte, im Schnitt waren es bei Heimspielen bisher 55.000 gewesen sein von maximal 60.000 Zuschauern. Bei der späten Anstoßzeit seien Eltern mit ihren Kindern weitgehend entschuldigt.

Tief durchatmen, beinahe hätte Dejagah vor unseren Augen das 0:1 gemacht. Glück gehabt, auf ihn musst du aufpassen, dass sollten die Jungs eigentlich wissen, darüber hinaus waren da immernoch Olic und Diego, die zu manchen Geniestreichen durchaus in der Lage waren. Die Hälfte der ersten Halbzeit war vorbei, die Stimmung in der Kurve war klasse. Klatschen, Hüpfen, Fahnenmeer und Schalparaden, das volle Programm.

Der Ball war beim VfB, im Vorwärtsgang ging es Richtung Untertürkheimer Kurve, auf einmal war der Ball im Tor. Alles jubelte, ich war verhalten. Dass sich die Spieler nicht sofort jubelnd aufeinander stürzten, stimmte mich stutzig, und ich hatte Recht: es zählt nicht. Sehr zu unserem Unmut, denn es wäre zur rechten Zeit gewesen. Und wie das halt immer so ist, stellst du im Nachgang fest, dass es zu Unrecht aberkannt wurde, steigt deine Enttäuschung ins Unermessliche.

Noch ahnten wir nicht, dass dieser Treffer die Partie in eine ganz andere Richtung hätte lenken können. Immer wieder gab es aussichtsreiche Torchancen für unsere Jungs im roten Brustring, doch immer war entweder Keeper Diego Benaglio, von 2002 bis 2005 selbst beim VfB, zur rechten Zeit am rechten Ort oder es war immer irgendein Fuß oder ein Kopf eines Wolfsburgers im Weg. Wenn es denn zumindest nicht das eigene Unvermögen war, mit einem schwachen Schüssle aus der Distanz sind die Chancen, ein Tor zu erzielen, zumindest gering.

Erst einmal Pause, durchatmen, trinken, schwätzen, und wie üblich, Vermutungen und Analysen im vertrauten Kreise bei mehr oder weniger großem Fußballsachverstand. Weiter zur zweiten Halbzeit, Gerd, der bereits schon öfter irrsinnige Behauptungen vor dem Spiel aufstellte, die hinterher so eintraten (z.B. gegen Bratislava), meinte vor dem Spiel, es ginge mit einem 0:0 in die Pause, am Ende 3 Tore vor der Cannstatter Kurve und das Ding ist geritzt. Ich wollte ihm so gerne glauben.

Es fing an zu regnen, nach der Karawane konnte es einem fast schon egal sein, die Balljungen und Journalisten am Spielfeldrand stülpten sich hektisch Regenponchos über und setzten ihre Kapuzen auf. Den Jungs auf dem Platz konnte man keinen Vorwurf machen, dass sie sich nicht reingehangen hätten, sie gaben alles, das musste man ihnen lassen. Immer wieder erarbeiteten sie sich die Chancen, rannten weite Wege um dann aber kurz davor doch wieder zu scheitern.

Man stellte sich langsam aber sicher auf ein 0:0 ein. Es waren nur noch wenige Minuten zu spielen, wir alle wissen, dass es Tage gibt, an denen das Tor wie zugenagelt scheint, doch auch, dass man nie vorzeitig das Stadion verlassen sollte im Falle eines entscheidenden Tores in der 93. Minute. Ich hoffte zwar noch, war mir aber nicht sicher, ob hier noch irgendwas passiert, außer dem Schlusspfiff. Damit stand ich nicht alleine da.

Die Kurve sang unterdessen immer weiter, jene Leute sind es, die mit bedingungsloser Leidenschaft alles für ihren Verein tun würden, egal was passiert. Ein Schrei, ein Pfiff und lauter Jubel. Der Blick zur Uhr, die 88. Minute. Elfmeter für den VfB. Na bitte, wer sagts denn?! Wenn schon nicht aus eigener Kraft, dann doch zumindest mit der Brechstange, alles egal, solange dieser Ball im Tor ist. Eine hochprozentige Chance, ein Spiel zu gewinnen, und nochmal, es waren nur noch 2 Minuten regulär zu spielen. Der Gefoulte schießt selber \” meist als Unding verschrien, ging es beim VfB schon mehrmals erfolgreich.

Vedad Ibisevic nahm sich gleich den Ball und trat an. Eine Millisekunde blickte ich durch die Kurve. Alle Hände vor dem Mund, betend, oder über dem Kopf gefaltet, flehend. Ein kurzer Anlauf, Benaglio taucht ab und lässt abprallen. “Oh nein!”, gleich der Nachschuss, drüber! “Oh Gott!”. Was war hier auf einmal los, wie kannst du den Sieg auf dem Silbertablett serviert bekommen und die Platte mit Wucht gegen die Wand schmeißen? Einen Elfmeter zu verschießen, sei ihm verziehen, doch wie er den Nachschuss vor dem leeren Tor drübergeschossen hat, wird so schnell keiner vergessen.

Gefühlt war der Sieg in diesem Moment unwiderruflich futsch. Dann bliebe es eben beim 0:0, dachten sich die Meisten. Leider kann man aber in die Köpfe der Spieler nicht hineinsehen, geschweige denn ihnen sagen, sie sollen sich jetzt doch bitte zumindest zusammen reißen. Der Fußball kann fies sein, das wissen wir alle. Er war es an diesem späten Samstag Abend. Mit schändlicher Selbstverständlichkeit traf Wolfsburg im direkten Gegenzug zum 0:1, dicht gefolgt vom Abpfiff. Der Fußball ist eine Hure. Eine ziemlich fiese.

Bedröppelt standen wir da, kopfschüttelnd. Wie so häufig in den letzten Jahren. Einen derartigen Spielverlauf hatten wir jedoch lange nicht, dass man binnen 2 Minuten einen Elfmeter samt tausendprozentigen Nachschuss verschenkt und im Gegenzug noch hinten einen kassiert. Nein, ich müsste mich anstrengen, um mich daran zurück zu erinnern, wann wir zuletzt derart dämlich am eigenen Unvermögen gescheitert sind.

Spiele wie diese verleiten dazu, einem die Stimmung von mindestens mehreren Tagen zu verhageln, zumindest das Wochenende sei damit verdorben, so die Worte eines Freundes. Ich pflichte ihm ohne Widerworte bei, bin mir dabei aber auch dessen bewusst, wie oft es schon so war, dass es nicht bei 1-2 Tagen blieb. Und gesetzt dem Fall, dass aus einem verpatzten Spiel eine richtig schlimme Phase wird, kann daraus eine doch recht frustrierende Zeit werden.

Doch ich will nicht Schwarz malen, nicht am ersten Spieltag! Wir haben noch viele Spieltage Zeit, um zu beweisen, dass wir es können, dass es nicht immer erst an den letzten 10 Spieltagen funktioniert. Ich will glauben, nein, ich glaube an die Qualität der Mannschaft. Jeder von uns will viele berauschende Fußballfeste feiern, am Besten ohne Niederlage und immer mit 4-5 Toren Unterschied. Doch so läuft das nunmal nicht. Auf dem Weg zur Selbstfindung in jeder Saison gehören wohl auch solche Drecksspiele, die dich zweifeln lassen, was du in deinem Leben Schlimmes verbrochen haben musst, um jetzt so bestraft zu werden.

Unter dem Nieselregen der Nacht trotteten wir mit schmerzenden Füßen und hängenden Köpfen heim. Das war nicht so gelaufen, wie wir gehofft haben. In München würde es am nächsten Spieltag zumindest nicht einfacher werden, wir könnten sogar Tabellenletzter werden. Ich bemühe mich, nicht in Panik zu verfallen. Denn ich weiß: wir Fans jubeln gemeinsam und feiern gemeinsam. Es kommen bessere Tage \” das weiß ich.

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