Von nichts und niemanden wollte und konnte ich mich trösten lassen. Als die meisten der leidgeprüften Fans der Cannstatter Kurve bereits in die Nacht entschwunden waren, verblieben wir noch lange Zeit vor den Toren des Stadions. Am Samstag wollte ich am liebsten über jenen umgestoßenen Bock berichten, der das Saisonende noch einigermaßen erträglich gemacht hätte. Was ich denn nun darüber schreibe sollte, hatte ich verzweifelt gefragt. Fanbetreuer Christian Schmidt hatte mir gesagt, ich solle nur einen Satz schreiben: „Dieses Spiel bewerte ich erst am Ende der Saison“.

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Ganz so einfach ist das in der Praxis natürlich nicht. Dabei gäbe es vermutlich nicht zeitschonenderes und entspannenderes, als das Wochenende vollumfänglich nutzen zu können. Nun sitze ich hier bei meiner ersten Tasse Kaffee, kurz nachdem ich mich gerade erst aus dem Bett gepellt habe. Gut neun Stunden Schlaf nach einem mehr als kräfte- und nervenzehrenden Spiel, so wachte ich auf und musste feststellen, dass ich all das nicht einmal geträumt hatte. Wie gerne ich diesen Tag noch einmal durchleben würde, so lange, bis am Ende die drei Punkte stehen.

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So vergehen weitere Tage, Wochen, Monate. Wo das Enden wird, müssen wir trotz allem Frust abwarten, doch mit jedem nicht gewonnenen Spiel rückt der Abstieg näher. Woher ich die Kraft nehmen soll, das alles durchzustehen, weiß ich nicht. Natürlich ist es nur Fußball, natürlich ist es nur eine Freizeitbeschäftigung, natürlich kann ich es selbst nicht beeinflussen. Doch allen Ernstes: Wieviel kann ein Fan ertragen?

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DO oder DIE!

Abstiegskampf kostet Kraft, Geduld und Nerven. Da kann man mir erzählen, was man will. Die Kunst des Ganzen wäre, nach Niederlagen aufzustehen, sich den Brustring zu richten und weiter zu laufen. Dass das Aufstehen mit gerissenen Sehnen, gebrochenen Knochen und blutigen Wunden nicht einfacher wird, diese Metapher sollte jedem schmerzlich bewusst sein. Wie gerne ich etwas anderes behaupten würde, dass man die Dinge immer im Leben so nimmt, wie sie kommen, ohne sich davon runterziehen zu lassen. Nein, davon bin ich offenbar weit entfernt.

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Mir war bewusst, um wieviel es geht. Uns allen. Die Reaktionen nach dem Auswärtsspiel in Hannover waren deutlich, die Hände hatte man hochgehalten und drei Finger der Mannschaft entgegen gestreckt, die über ein 1:1 gegen unheimlich schlechte Gegner nicht hinaus gekommen war. Drei Punkte hätten es sein müssen. Somit stand man ausgerechnet gegen die Hertha unter Zugzwang. Vier Punkte aus zwei Spielen und die Hoffnung würde weiterleben. In der aktuellen Situation jedoch schwerer als gedacht.

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Die ganze Woche über dachte ich an fast nichts anderes als den Showdown am Freitagabend. Täglich wurde die Aufregung größer, wie aber auch die Angst davor. Vor dem Misserfolg, vor dem Abstieg und vor den Reaktionen der Cannstatter Kurve, die immer alles gegeben hatte und doch so wenig entlohnt wurde. Und dann war er da, der Freitag, der Tag an dem sich vermeintlich entscheiden sollte, welchen Weg der VfB für den Rest der Saison gehen wird.

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Sonnige Vorzeichen

Nur mit einem Sieg könne die Hoffnung auf den Klassenerhalt bewahrt werden. Das wussten nicht nur wir Fans, sondern auch die verunsicherten Spieler und nicht zuletzt Trainer Huub Stevens, der in der Öffentlichkeit bereits angezählt wurde. Nervös und angespannt, ja geradezu ängstlich packte ich am Donnerstagabend mein leichtes Gepäck, wie ich es bereits gegen Dortmund zwei Wochen zuvor dabei hatte. Noch ein paar Stunden ins Büro, doch wie solle man sich konzentrieren, wenn man mit den Gedanken nur bei der einen Frage ist, ob es dem VfB gelingt, die Wende einzuleiten.

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Die Sonne strahlte am Himmel, frühlingshafte Temperaturen sollte es über das ganze Wochenende geben. Ein gutes Vorzeichen für einen erfolgreichen Fußballtag? Angespannt machte ich mich auf den Weg, hielt die Augen offen nach allem, was vermeintlich blau-weiß gekleidet war und zog den Reißverschluss meiner Kapuzenjacke bis oben hin zu. Hunderte von befreundeten Karlsruhern hatten sich zur „Unterstützung“ der Hertha angekündigt, ein Spiel mit Explosionsgefahr in jedweder Hinsicht. Man konnte nicht vorsichtig genug sein.

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Felix fing mich am Cannstatter Bahnhof ab, wo bereits Heerscharen von Polizisten zu sehen waren. Sie lachten, flachsten und scherzten, als seien sie sich der Brisanz nur geringfügig bewusst. Wir waren früh dran, da durfte es auch noch eine Rote Wurst sein. Prompt den Ketchup auf meiner Jacke verteilt – na wunderbar. Wie war das nochmal mit den Vorzeichen? Mein Herz raste bereits jetzt, schon Stunden vor dem Anpfiff. Vor den Toren des Stadions war die Stimmung merklich angespannt, doch waren wir bereit, noch einmal alles in die Waagschale zu werfen.

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Eine eingeschworene Kurve

„Um 20:05 Uhr gemeinsam in die Kurve!“ stand in großen Lettern auf einem Transparent geschrieben, gut sichtbar für all jene, deren Heimat zwischen den Blöcken 32 und 37 liegt. Unter der Woche ging ein gemeinsames Schreiben der aktiven Fanszene an alle Fanclubs des Vereins, mit der einen großen Bitte, sich vor der Partie gemeinsam vor den Blockeingängen einzuschwören um dann voller Elan den Stehblock zu stürmen. Getreu dem Motto: Noch sind wir nicht abgestiegen.

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Szenen mit Gänsehaut-Garantie. Tausende Leute standen in dem schmalen Gang vor den Blockeingängen, in der Mitte die Vorschreier und die Trommeln, im Rhythmus sangen, hüpften und klatschten wir, machten uns heiß für dieses immens wichtige Spiel. Immer und immer wieder hallte es durch den Gang: „Wenn die ganze Kurve tobt, schlägt mein Herz in weiß und rot, ich lass dich niemals allein, du bist ewig mein Verein, wir werden niemals untergehen, solange unsere Fahnen wehen!“ – in solch schweren Zeiten wie diesen sind solche Emotionen Gold wert.

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Wir zählten herunter und stürmten schließlich den Block, ein interessantes Bild für alle Unbeteiligten, auch für jene, die dem Aufruf leider nicht gefolgt waren und sich wissentlich an der Aktion nicht beteiligen wollten. Auf dem Feld machte sich die Mannschaft bereits warm, auf der gegenüberliegenden Seite des Stadions waren bereits zahlreiche Herthaner mit ihren mitgereisten Freunden aus Karlsruhe zu sehen. Die Zaunfahne der Phoenix Sons sagte ja bereits alles.

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Mit Druck nach vorn

Noch einmal alles geben – und dann? Diese Frage wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Was wird passieren, wenn es nicht zum Sieg reicht, war es das dann mit der Unterstützung einer Mannschaft, die mental ohnehin schon am Boden liegt? Ich kann diese Frage nicht beantworten, weder vor, und auch nach dem Spiel nicht. Ernüchterung machte sich breit, viele weitere Optimisten haben vergangene Nacht ihre Segel gestrichen und sich dem vermeintlich Unausweichlichen gefügt. Wer es gegen enorm schwache Berliner nicht schafft, den Ball mindestens einmal über die Linie zu drücken, der steht zurecht auf dem letzten Tabellenplatz.

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Die Fahnen wehten, doch vermochte die Stimmung auch dieses Mal nicht die Außenblöcke mitzureißen. Wenn nicht jetzt, wann wollt ihr denn dann euren Mund aufmachen? Dann, wenn es schon zu spät ist? Für die Unterstützung zu fein, doch beim Meckern ganz groß! Hilft alles nichts, zusammenreißen und raushauen, was geht. Das sollten sich vor allem die Spieler zu Herzen nehmen. Bei allem Verständnis, wie schwer die Last auf ihren Schultern ist, noch hatten sie es selbst in der Hand.

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Die offensivere Aufstellung gegen Hannover hatte offenbar auch den störrischen Coach überzeugt, denn was nützt es, wenn hinten die Null steht, wenn sie auch vorne steht? Und auch hier konnte sich die Aufstellung sehen lassen: Filip Kostic, Alexandru Maxim, Timo Werner, Serey Dié und Daniel Ginczek in der Startelf. Sie müssen nur das Tor treffen, dann wäre auch die weniger starke Defensive ohne Timo Baumgartl das vermeintlich kleinere Übel. Dieser eine Moment, wenn der Knoten platzt und der Befreiungsschlag gelingt, was sehnen wir uns danach.

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Zwei Herzen in meiner Brust

Handgestoppte 25 Sekunden waren gespielt, da sah der erste Berliner bereits die gelbe Karte. Es darf gemunkelt werden, ob es sich hierbei um die schnellste gelbe Karte der Saison handelte. Es gab Freistoß für den VfB, meine Emotionen spielten völlig verrückt, wie auch die der ganzen Kurve. Was wäre, wenn.. Alexandru Maxim hier gleich die Vorlage zum 1:0 gibt? Ein frühes Tor, ungeachtet der Restspielzeit, wäre doch ein Mutmacher der ganz besonderen Art. Was wäre, wenn… alles in Erfüllung gehen würde, was wir uns erhoffen.

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Man vermochte seinen Augen kaum glauben, was sich in den ersten Minuten abzeichnete, stimmte mich durchaus hoffnungsvoll. Sie waren bissig, spielbestimmend und mutig – Attribute, die man schon seit sehr langer Zeit bei der Mannschaft vermisst hatte. Ein Ruck ging durch die Kurve, man spürte: „Hier geht was!“. Sehr viel andere Möglichkeiten hatte der VfB aber ohnehin nicht, sie mussten gewinnen, ohne Wenn und Aber.

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Weiter machen, immer weiter, dann fallen früher oder später auch die erlösenden Tore, die uns Luft und Hoffnung verschaffen sollten. Zwei Herzen rasten in meiner Brust; das eine schrie mir zu, es würde heute endlich klappen; das andere jedoch flüsterte mir immer wieder das gleiche Horrorszenario ins Ohr, der VfB würde das Tor nicht machen und dafür ein ganz krummes Ding der Hertha kassieren. Fußball ist so ein wunderbarer Sport – wenn er denn hin und wieder Spaß machen würde.

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Mit Wut im Bauch

Sie rannten, kombinierten teilweise künstlerisch – wer waren die in den weißen Trikots und was hatten sie mit den behäbigen und verunsicherten jungen Männern der letzten Wochen gemacht? Timo Werner wurde an diesem Freitag 19 Jahre alt, vor einem Jahr hatte er uns VfB-Fans zu seinem 18. Geburtstag seine Unterschrift unter dem Profivertrag geschenkt und uns Mut gemacht, wir hätten einen neuen jungen Wilden in unseren Reihen. Abgesehen von einer Sternstunde in Freiburg hatte man nicht viel gesehen.

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Er hätte sich zurückmelden können, nach nur 15 Minuten und schoss nur neben das Tor vor der Cannstatter Kurve, die so flehentlich den Sieg erhofft hatte. Auch Christian Gentner war kurze Zeit später nah dran am 1:0, doch wer direkt auf den Torwart köpft, nunja, ihr wisst schon. Hertha unter Dauerfeuer, jetzt muss doch mal ein krummes Ding rein! Egal wer, egal wie, nur eben nicht egal, wann. Mit mehr Konsequenz im Abschluss und mehr Präzision beim letzten Ball hätte es hier bereits 2:0 stehen können. Hätte.

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Doch auch die Hertha war bei ihren wenigen Versuchen nicht ungefährlich. Die Partie wäre komplett auf den Kopf gestellt worden, wenn Valentin Stocker (der im Sommer beim VfB gehandelt war und Fredi Bobic es fertig brachte, beim falschen Berater anzufragen) nach 25 Minuten den Spielverlauf zunichte gemacht hätte. Tief durchatmen, aber ganz tief. Denn das war knapper, als man sich eingestehen möchte. Aufwachen, Leute!

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Das sehnliche Warten auf das erlösende Tor

Die Einstellung war da, die Qualität, die der Mannschaft zuletzt so abging, allerdings leider nicht. Warum in Sachen Offensive wenig bis gar nichts geht, zeigte die Tatsache, dass stets der letzte Pass gefehlt hatte. Das Mittelfeld präsentierte sich gut, brachte die Bälle nach vorne, doch fehlte immer etwas: der letzte kleine Schritt, ein paar Zentimeter Sprunghöhe beim Kopfball oder auch der letzte kurze Sprint. Das alles sollte mir egal sein, solange wir als Sieger vom Feld gehen.

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Und wenn es die Hertha ist, die am Ende ein Eigentor hineinmurmelt, alles hinfällig, in dem Moment, wenn man nach langer Zeit mit einem breiten Lächeln im Gesicht die Mannschaft vor der Cannstatter Kurve empfängt, ohne die wütenden Pfiffe, ohne die frustrierten Gesten, einfach nur mit einem Lächeln und dem Gefühl: „Es geht weiter, und wir gehen den weiteren schweren Weg mit euch“. Man sollte nicht drauftreten, wenn man schon am Boden liegt – doch sich gegenseitig aufzuhelfen, wäre etwas dringend Notwendiges.

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Sie hatten es ganz klar versäumt, hier das hochverdiente Führungstor zu machen. Am Tag darauf trauere ich nachhaltig über all die vergebenen Möglichkeiten, aus denen der VfB deutlich mehr hätte machen können, beziehungsweise müssen. Torlos ging es in die Pause, Gelegenheit für mich, ein paar Worte mit Kumpel Sascha zu wechseln, dessen Bild vom Trost für Timo Baumgartl um die Welt gegangen war. „Das wird noch, warts ab!“ hatte er gemeint und lief die Treppe hoch. Verhalten schaute ich aufs Spielfeld, atmete tief durch und dachte „Ich hoffe so sehr, dass du Recht hast“.

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And the Oscar goes thomas Kraft

Von allen Heimtoren, die der VfB vor heimischer Kulisse erzielt hat, sind es doch die Tore vor der Cannstatter Kurve, die besonders frenetisch gefeiert werden, wenn die Spieler vor Jubel schreiend vor die Fans treten, die am liebsten auf den Rasen springen und mitfeiern wollen. Diese Chance hatte der VfB vertan, es ging nun in Richtung Untertürkheimer Kurve, doch wäre es mir egal, wenn das Siegtor auf der anderen Seite fällt, solange es denn fällt. Der bange Blick auf die Uhr, als immer mehr Minuten der zweiten Halbzeit verstrichen waren und über uns auf der Anzeigetafel noch immer das 0:0 geschrieben stand.

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Auf einmal Unruhe vor der Untertürkheimer Kurve, nach Hannover die nächste Rudelbildung mit VfB-Beteiligung, die Nerven lagen bei beiden Mannschaften sichtlich blank, ist die Hertha doch selbst nicht unbedingt mit einem entspannten Tabellenplatz gesegnet. Viel konnte ich nicht erkennen, doch Torhüter Thomas Kraft war vorne mit dabei, ebenso wie Christian Gentner, beide wild gestikulierend, immer mehr kamen herbei gelaufen. Ein Schockmoment, war mein erster Gedanke doch eher, zu zehnt weiterspielen zu müssen, als dass es gar Elfmeter geben könnte.

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Undurchsichtiges Handgemenge, Thomas Kraft lag plötzlich am Boden, die Berliner Wechselspieler bei ihm, die Sanitäter eilten herbei. Was war denn hier nur passiert? Nach einem Zusammenstoß mit Georg Niedermeier zeigte sich der Schlussmann der Gäste so erzürnt, dass er schließlich auf Christian Gentner losging. Der Sinn dieser Aktion erschloss sich mir nicht wirklich, ebenso wenig, warum er auf einmal am Boden lag.

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Die Zeit rannte

Im Nachgang betrachtet hatte er sich hier offenbar eine Gehirnerschütterung zugezogen und spielte weiter. Umso trauriger, dass es der VfB nicht schaffte, den Ball über die Linie zu drücken, wenngleich er nicht einmal mehr auf dem Feld hätte stehen dürfen. Vergangene Woche hatte Martin Harnik für sehr viel weniger die rote Karte gesehen. Diese Nachspielzeit würde aller Voraussicht nach sehr lange andauern. Schließlich gab es nur Gelb für Thomas Kraft, wegen Zeitspiels hätte ihn Dr. Felix Brych dann aber auch vom Feld stellen können.

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Die Pfiffe halten durchs Neckarstadion, fortan konzentrierte sich die Wut doch recht gezielt auf den Berliner Torhüter. Zu wissen, dass der VfB hier unbedingt gewinnen muss, machte es mir als Fan auch nicht einfacher. Sie gaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles, doch am Ende fehlte immer noch das letzte Stück. Eine einzige Unachtsamkeit in der Hintermannschaft und schon würde diese Partie verloren gehen. Das Tor schien wie zugenagelt.

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Die Uhr tickte. Mit jeder vergebenen Möglichkeit und mit jedem verlorenem Ball wurde die Angst größer. Der Ball muss rein, egal wie! Doch wie? Ein weiteres Mal konnte man ihnen das Bemühen nicht absprechen, doch reichte alleine Kampf und Wille in dieser Partie nicht aus. In den letzten 20 Minuten hauten sie noch einmal alles rein, sowohl Mannschaft als auch Fans mobilisierten auch noch einmal alle Kräfte. Es ging doch um so verdammt viel!

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Das Tor muss her – nur wie?

Es darf in Frage gestellt werden, was Huub Stevens all die Zeit an Alexandru Maxim und Filip Kostic gefressen hatte, dass er sie nicht spielen lässt. Und auch der neue Mann von der Elfenbeinküste, Serey Dié wusste zu gefallen mit enorm starkem Zweikampfverhalten und viel Leidenschaft. Weiter, weiter, immer weiter, und das Ding noch irgendwie reinsemmeln. Und wieder sind wir bei der Frage „Wie?“ – denn ohne Tor gewinnst du bekanntermaßen kein einziges Spiel.

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Der Schock saß tief. Um ein Haar wäre hier die Hertha in Führung gegangen, zehn Minuten vor dem regulären Ende. Nico Schulz fehlten nicht viele Zentimeter, um den bereits geschlagenen Sven Ulreich ganz alt aussehen zu lassen. Bei ihm war kein einziger Abwehrspieler, sondern Timo Werner, der eigentlich zum Toreschießen aufgestellt worden war. Das gibt’s doch gar nicht, es muss doch einen Grund geben, warum es hier die ganze Zeit so knapp zugeht, und warum dieser Ball eben nicht hinein gegangen ist.

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Nur eine Erklärung für diese Partie war mir eingefallen: Der Fußballgott lässt uns VfB-Fans bin in die Nachspielzeit schmoren und gönnt uns dann in der letzten Minute des Spiels noch das Kopfballtor eines Georg Niedermeier, dem Mann für die brutal wichtigen Tore. Wenns denn sein muss, denn die Stürmer scheinen aktuell nicht einmal einen Grashalm zu treffen. Wie anstrengend das noch für unsere Nerven werden würde, konnte ich mir nur zu gut vorstellen. Alles schon erlebt, beispielsweise der Nervenkrieg gegen Hamburg in der vergangenen Saison. Einst mit versöhnlichem Ende – aber heute?

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Sie waren stets bemüht

Immer wieder schlug Thomas Kraft der Hass des Neckarstadions entgegen seit dem Handgemenge zu Beginn der zweiten Halbzeit. Er deutete an, nicht weiterspielen zu können, unsanft bedacht mit alles andere als liebevollen Gesängen aus der Cannstatter Kurve. Er ließ sich auswechseln, später war zu lesen, er wusste nicht mehr, wo er war. Erinnerungen wurden wach an Christoph Kramer, der während dem WM-Finale in Rio den Schiedsrichter zwei Mal fragte, ob dies das Endspiel sei.

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Auch der VfB wechselte noch einmal, für Filip Kostic kam erstmals der junge Wilde Jerome Kiesewetter. Bange Blicke unter den 45.420 Zuschauern, die nichts sehnlicher wollten, als die Arme in einem einzigen lauten Jubelschrei hochreißen wollten. Die Zeit schwand und meine Furcht vor dem Punktverlust wurde immer größer.

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Es würde in den letzten Minuten sicherlich nicht einfacher werden, die Berliner standen ohnehin bis auf die zwei Torschüsse nur hinten drin. Es wurde ein wenig leiser im Stadion, manche machten sich schon auf den Weg nach Hause, statt einen möglichen Lucky Punch abzuwarten. Laut wurde es dann aber doch nochmal, als die Anzeigetafel mit der Nachspielzeit in die Höhe gehalten wurde. Sieben Minuten! Raus aus der Lethargie! Für diese sieben Minuten nahm Huub Stevens Serey Dié vom Feld und brachte Moritz Leitner, das verstehe, wer will.

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Sieben Minuten Nachspielzeit – null Tore

Die Angst schnürte mir spürbar die Luft ab, mit weit aufgerissenen Augen schaute ich aufs Spielfeld hinaus und wollte nicht viel mehr als einfach nur das eine Tor sehen. Dass es statt dem ersehnten Erlösungstreffer in der letzten Minute der Nachspielzeit noch Gelb-Rot für Nico Schulz gab, interessierte jetzt auch niemanden mehr, es war zu spät, um daraus noch Kapital zu schlagen. Noch einmal Freistoß, ein letzter langer Ball nach vorne, wie so oft getreu dem Motto „Vorne hilft der liebe Gott“. Er half uns nicht. Dr. Felix Brych pfiff ab, wir alle wussten, was das zu bedeuten hatte.

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Vor der Untertürkheimer Kurve brach Timo Werner schließlich zusammen, saß trauernd auf dem Hosenboden und muss sich gedacht haben, dass er in seinen jungen Jahren bereits schon bessere Geburtstage gefeiert hatte. Verhaltene Pfiffe von den Rängen, und auch die Kurve war nicht auf Krawall gebürstet, wie ich es doch insgeheim befürchtet hatte. Ein wenig Applaus für die zumindest bemühte und leidenschaftliche Vorstellung.

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Ist es nicht insgeheim die tragischste aller Erkenntnisse? Verhältnismäßig gut zu spielen, und nach 97 Minuten permanenter Überlegenheit und einem Torwart mit Gehirnerschütterung nicht ein einziges Tor gemacht zu haben? Hat man es nicht verdient, da unten zu stehen, wenn in der Offensive einfach mal gar nichts geht? Wo soll man denn da noch die Hoffnung bewahren können, wenn Woche für Woche die überlebenswichtigen Punkte nicht eingefahren werden?

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Am Ende der Zuversicht

Verzweifelt schaute ich in die Gesichter der Leute um mich herum. Kein einziges sah nach „Wir schaffen das schon noch!“ aus, nicht einmal bei jenen, die vor ein, zwei Wochen noch etwas anderes gesagt hatten. Wenn wir gegen derart schwache Berliner ebenso wenig gewinnen können wie in der Woche zuvor in Hannover, gegen wen soll uns da noch ein Sieg gelingen? Die Nerven lagen blank, es gab ein Handgemenge direkt um mich herum, VfBler gegen VfBler, Enttäuschung gegen Frust.

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Freunde von mir liefen an mir vorbei, legten ihre Hände auf meine Schulter, ich schüttelte nur langsam den Kopf und starrte ins Nichts. Wortloses Zeugnis der tiefen Verzweiflung. Zusammen mit Sascha war ich eine der letzten, die den Block 33 verlassen hatten, minutenlang standen wir noch unten und diskutierend. Er war der Meinung, es sei noch nichts verloren, doch mein Frust war zu groß, es war vorbei, dessen war ich mir sicher.

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Warum wohl hatte man vor dieser Partie gesagt, nur ein Sieg würde uns vor dem Abstieg bewahren? Lange stand ich zusammen mit Felix, Fanbetreuer Christian Schmidt und unseren Stamm-Auswärtsfahrern und guten Freunden Gerd und Ingrid vor dem Stadion. Es war still geworden. Beinahe stellvertretend für die Stimmung unter uns Anhängern. Ein einziger Schuss ins Glück hätte gereicht. So gingen wir schweigend auseinander, ohne zu wissen, ob dieser Punkt am Ende wichtig werden würde. Für die Hoffnungen einer ganzen Stadt hätte es allenfalls zwei mehr gebraucht.

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