Es war kurz vor Mitternacht. Still saß ich auf dem weich gepolsterten Stuhl in unserem nett eingerichteten Hotelzimmer, legte meine Handflächen andächtig auf den braunen Holztisch und schaute auf meinen Laptop, den ich gerade eben aufgeklappt und eingeschaltet hatte. Ich schloss meine Augen und atmete drei Mal ganz tief ein und wieder aus. Mein Hals kratzte, dagegen konnten selbst zwei Lemocin-Tabletten nicht helfen. In den Speicherkartenschlitz steckte ich den ersten von zwei Datenträgern und schaute mir die Fotos an, die darauf gespeichert waren. Alles schmerzte. Ich war todmüde. Und grinste dennoch über beide Ohren.

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24 Stunden vorher. Schwermütige Gedanken begleiteten mich auf jedem Schritt, den ich durch unsere gut 66 Quadratmeter große Wohnung machte, um alles zusammenzusuchen für die Auswärtsfahrt nach Hannover. Vor einigen Minuten hatte ich dabei gerade erst einmal meinen Spielbericht zur bitteren Partie gegen Schalke fertig gestellt, war mit Gedanken irgendwo zwischen unzähligen vergebenen Torchancen und der Angst vor einer erneuten Pleite.

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Alles legte ich bereit, sämtliche Kameras, Klamotten, Kulturtasche, Handyladekabel, recht bald hatte ich die wichtigsten Dinge beisammen. Doch das Allerwichtigste fand ich nicht: eine neue Hoffnung. Die Sorge, die neuerlich erkennbare Weiterentwicklung der Mannschaft könnte schon bald ohne Punkte gänzlich wertlos sein, man müsse erneut beginnen, doch wie, und vor allem mit wem? Dabei hätten wir wissen müssen, dass dieser Weg steinig und beschwerlich sein wird. Fünf Spieltage. Fünf Niederlagen. In drei von fünf Spielen klar besser gewesen. Wieviele Niederlagen würde dieses engagierte Team noch verkraften?

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Ruhe bewahren – aber wie?

Es gibt sie, die VfB-Fans, die sich von Anfang an sicher waren. Sie waren sich sicher, dass der VfB den Klassenerhalt schaffen würde, selbst dann noch, als man einst in Paderborn zurücklag. Sie waren sich sicher, dass sie die bisherigen meist guten Leistungen wiederholen würden. Sie waren sich sicher, der VfB würde schon in Kürze gewinnen. Und es gibt da Leute wie mich – die bisweilen von ihrer Angst und Nervosität fast aufgefressen werden. Ruhe bewahren ist das oberste Gebot, sollte man meinen. Alles andere als einfach, jedenfalls für mich.

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In den frühen Morgenstunden riss mich der Wecker aus meinen Träumen. Mit dem Auto brachen wir auf und machten uns auf den knapp fünfstündigen Weg in die Messestadt, ohne Stau, ohne Sonnenschein und ohne tatsächliche Gewissheit, wie sich der VfB am Abend behaupten würde. Man hat ja schließlich seit 2006 nicht mehr in Hannover gewinnen können. Doch diese Statistiken sind dem VfB ja ohnehin egal. Man hatte ja auch jahrelang nicht mehr in Hamburg verloren, oder daheim gegen Frankfurt und Schalke.

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Noch hielt sich die ganz große Nervosität in Grenzen, doch die sollte garantiert noch kommen. Um die Mittagszeit erreichten wir Hannover, gönnten uns ein saftiges Steak und checkten im Hotel ein, dass wir uns für diesen Ausflug gönnen wollten, schließlich sind über 1.000 Kilometer an einem Tag nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Müde lag ich quer über dem Boxspringbett, schaute Felix an der auf dem Stuhl saß. Uns einte ein Gedanke: „Müssen wir jetzt wirklich zum Fußball?“ Wir mussten. Wir wollten. Wir können nicht anders.

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Immer wieder unentschieden

Zumindest hatte es aufgehört zu regnen. Mit der S-Bahn machten wir uns im Stadtteil Kleefeld auf den Weg in die Innenstadt, noch einen entspannten Kaffee, bevor die letzte Etappe zum Stadion genommen werden sollte. Noch waren wenige Fußballfans unterwegs, es sah mehr nach Feierabend verkehr aus als nach Fußballspiel. Sehr viele würden wir heute nicht werden, wer nicht unbedingt einen oder gar zwei Urlaubstage nehmen konnte (oder wollte) und dem eine Krankmeldung zu riskant erschien, der blieb notgedrungen zuhause. Knapp 1.200 Tapfere machten sich auf den Weg. Ob dieser Weg mit drei Punkten nach Stuttgart zurückführt, das war die Frage.

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Gähnende Leere vor den Toren des Stadions. Erst lange nach uns erreichten die Busse die Arena am Maschsee und spülten damit weitgehend den Rest der Auswärtsfahrer zu den Eingangskontrollen. In unserem Rücken senkte sich langsam die Herbstsonne, als ich die letzten Schritte bis zum Gästeblock hinter mich brachte. Nie werde ich es vergessen können, das emotionale 3:3 am Valentinstag 2009, als ich mich damals von Leipzig aus alleine auf die Reise machte.

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Etwas anderes als ein Unentschieden habe ich hier in Hannover noch nie erlebt. Das Problem war nur: ein Unentschieden ist eigentlich zu wenig. Das wussten wir Fans. Das wusste die Mannschaft. Das wusste auch der Trainer, dessen Anprangern völlig deplatziert ist, doch der unter Beobachtung steht. Eine viel längere Punktlosigkeit wird ihm früher oder später den Job kosten, dafür kennen wir die Mechanismen des Geschäfts schon gut genug. Dabei gibt es wohl kaum jemanden, der sich nicht sehnlich wünscht, nicht nahezu jede Saison mit einem neuen Trainer in eine neue Spielzeit zu gehen.

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Weißglut mit Weißabgleich

Viele bekannte Gesichter konnte ich begrüßen, wie bei jedem einzelnen Spiel des VfB. Manche seh ich fast nur bei Heimspielen, andere wiederum ausschließlich bei Auswärtsspielen, einigen begegne ich seit Jahren persönlich, manche kannte ich bisher nur digital, darunter auch Tom, den ich von Twitter „kenne“ und der direkt auf mich zukam. Eine kurze Fachsimpelei an der Treppe zwischen zwei Blöcken und ein schmunzelndes „Wir reden nachher weiter, wenn es schon 2:0 für den VfB steht“. Ich lachte. Noch.

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Etwa in der Mitte des Blocks postierte ich mich. Viele gute Bilder würden vermutlich nicht dabei rausspringen, da hatte Felix wortwörtlich die besseren Karten – der war nämlich im Unterrang und hat nach oben fotografiert, bei wesentlich besseren Lichtverhältnissen und einem Weißabgleich, der ihm im Gegensatz zu mir nicht das (Fotografen-)Leben zur Hölle machte. Für viele haben Flutlichtspiele einen ganz besonderen Charme, nicht jedoch für das Volk mit Kamera.

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Als die Mannschaften das Feld betraten und der aktive Kern des Gästeblocks unzählige Fahnen schwenkte sah ich mich schnell konfrontiert mit der Erkenntnis, das Wohl der Fotos weitgehend in Felix’ riesige Hände geben zu müssen. „Der Kerle macht das schon“ dachte ich und erhob fortan wieder die Stimme für meinen Verein, der so dringend drei Punkte brauchte. Ein Sieg für den Kopf war weitaus wichtiger als der für die Tabelle, so absurd das auch klingen mag.

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„Der Knoten muss platzen!“

Die Hannoveraner Ultras waren ins Stadion zurückgekehrt, mehr Stimmung als letztes Jahr war zu erwarten. Der Erwartung gerecht geworden waren sie nicht. Die Enttäuschung über die bisherige Saison wog auch bei den Gastgebern groß, wohin der Weg die 96er führt, weiß wohl noch nicht einmal der Verein selbst. Sie lassen sich treiben, ohne überzeugendes Konzept, einem durchschnittlichen Kader und einer Vereinsführung, die mit Martin Kind auf die Aufhebung der 50+1-Regel drängt. Doch sie hatten etwas, was wir nicht hatten: einen Punkt. Man wolle fast sagen, dass wir dafür das bessere Spielkonzept und die größeren Ambitionen haben.

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Wen man auch gefragt hatte, die Aussage des Tages war vor Beginn der Partie die selbe: „Der Knoten muss platzen“. So viele Worte zur Verfügung, es waren stets die selben. Ein Tor im rechten Moment, volle Konzentration bis zum Ende, es könnte so unheimlich viele Kräfte freisetzen. Selbst bei uns Fans, die wir noch nicht so ganz wissen, was wir davon wirklich halten sollen. Frei von Fehlern ist das neue Konzept noch nicht, das ist uns bewusst. Und genau das ist das Problem.

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Es war ja nicht so, als wäre ich nicht ohnehin schon angespannt genug gewesen. Die Hannoveraner starteten gut in die Partie, mit den ersten Angriffen in Richtung Przemyslaw Tyton. Noch waren die Räume nicht da, jedes Mal sofort zu pressen und die Hausherren förmlich zu überrennen. Gegen Schalke hätte man zur Halbzeit 3:0 führen können, man schlug sich selbst, das werden die 96er mit Sicherheit angesehen haben. Die lähmende Angst vor dem Tor, wenngleich man so sehr Bock auf Offensive hat wie schon seit Jahren nicht mehr. Diese Truppe könnte unheimlich viel Freude bereiten – wenn der Knoten einmal geplatzt ist.

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Bitte nicht schon wieder!

Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. Ich zitterte, mir war kalt und heiß zugleich. Hannover jubelte, die Fahne war oben, doch mein Gesichtsausdruck blieb noch einige Sekunden wie versteinert. Tief durchatmen, das hatte man mir empfohlen, das und ganz viel Baldrian. Atmen. Atmen! Gerade hatte ich mich beruhigt, jubelten die Hannoveraner wieder. Sie hörten nicht auf, die Fahne war dieses Mal unten geblieben. Das ging mir zu schnell, zu einfach, zu dämlich. Zu dritt auf den Ballführenden, ein kurzer Pass auf den davongelaufenen Hiroshi Kiyotake.

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Der gebürtige Stuttgarter Kenan Karaman, der in seiner Jugend das Trikot mit dem Brustring trug, brauchte nur noch seinen Fuß hinhalten. Eiskalt ausgekontert, ein weiteres Mal. Dass man da überhaupt noch überrascht ist, ist grotesk, grausam und frustrierend zugleich. Wieder lagen wir hinten, ein Zu-Null-Spiel konnten wir abhaken. Erneut einem Rückstand hinterher zu laufen war gewiss nicht das, was wir hier sehen wollten. Doch seit wann geht es schon darum, was wir Fans denn sehen wollen?

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Schockstarre im Gästeblock. Bitte nicht. Bitte nicht schon wieder. Bitte nicht schon wieder nach einem guten Spiel verlieren. Bitte nicht! Wir waren geschockt. Die Mannschaft war es nicht. Sie spielten weiter, als wäre nichts gewesen, immer weiter nach vorne, so wie wir sie oft gesehen hatten in den letzten glück- und vor allem punktlosen Wochen. Timo Werner kam fast an der Mittellinie an den Ball und steckte ihn durch auf Christian Gentner, völlig überfordert wurden drei 96er nicht Herr der Lage und ließen ihn laufen.

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Vier verrückte Minuten

„Spiel aaaaaab!“ schrie ich laut heraus, spiel ab auf Daniel Ginczek, der ist doch mitgelaufen! Der Kapitän marschierte weiter, nahm sich ein Herz und auf einmal war das Ding drin. Was zum? Tor? Ernsthaft? Eine Minute und drei Sekunden waren seit dem Wiederanpfiff nach dem 1:0 der Gastgeber vergangen, bis deren Führung egalisiert und der Gästeblock hellwach war. Wieder auf Anfang, gleich nachlegen! Sie mussten uns erhört haben. Emiliano Insua, unser defensiver Neuzugang aus Madrid, setzte energisch nach und ebnete eine neuen Weg.

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War das hier wirklich Realität? Hat Timo Werner gerade eben wirklich den Abklatscher von Ron-Robert Zieler verwertet, nachdem gerade noch Daniel Ginczek an ihm gescheitert war? Über mir ergossen sich diverse Bierduschen, innerhalb von vier Minuten hatte der VfB das Spiel gedreht. Seit 299 Tagen hatte er nicht mehr getroffen oder einen Treffer vorbereitet. Seit jenem euphorischen Abend in Freiburg, das erste Spiel von Huub Stevens zweiter Amtszeit, hatte er ein tiefes Tal durchschritten, wir wünschen ihm, dass es nun wieder bergauf geht bei dem jungen Burschen.

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„In ruhigen Momenten schließe ich meine Augen und sehe mich selbst, jubelnd umringt von schreienden VfB-Fans, nassgetränkt von mehreren Bierduschen, den Tränen nahe. Wie sehr sehne ich mich doch danach.“ Das waren die letzten Worte aus meinem Spielbericht gegen Schalke, fertiggestellt vor nicht einmal 24 Stunden. In diesem Moment wurde jener kühne Tagtraum zur Realität. Über das ganze Feld war er gerannt, zur VfB-Bank, direkt in die Arme von Zeugwart Michael Meusch, der für ihn laut eigener Aussage wie ein Vater ist. Das ganze realisierte ich erst spät Nachts, als ich mir die Tore trotz erheblicher Müdigkeit noch einmal ansah.

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Weiter, immer weiter

Es gibt Momente, da entfaltet der VfB-Anhang das ganze Ausmaß seiner brachialen Stimmgewalt. Minutenlang schmetterten wir laut „Und wenn die ganze Kurve tobt“, immer und immer wieder, immer lauter und lauter. Ausnahmslos muss der Gedanke der gleiche gewesen sein: Jetzt ist er geplatzt der Knoten, möge der Kantersieg seinen Lauf nehmen. Doch da hatten beide Mannschaften etwas mitzureden.

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Wo die Offensive seit Wochen Hoffnung auf mehr macht, ist es nachwievor die Defensive, die uns Kopfzerbrechen bereitet. Haarsträubende Ballverluste, das Laufen in gefährliche Konter, nicht ausreichend energisches Draufgehen im Zweikampf – es wurde zum Nervenspiel. Mittlerweile hatte die Runde gemacht, die bis zu diesem Spieltag ebenfalls punktlosen Gladbacher würden gegen Augsburg führen – mit 4:0!

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Ist das der berühmte Effekt eines neuen Trainers, selbst wenn es dieser nach Lucien Favres Rücktritt nur vorübergehend macht? Wollen wir hoffen, dass dieser Effekt nur jeweils ein Spiel anhält. Aus dem zwischenzeitlichen Glauben, der VfB würde nun im Gegensatz zu den letzten fünf Spielen bei jeder kleinsten Gelegenheit das Glück haben, das uns lange verwehrt blieb, wurde schnell Realität. Das Spiel verflachte nach den furiosen vier Minuten zwischen der 14. und 18. Spielminute, der VfB zog sich zurück und schien sich mit dem 2:1 zur Halbzeit zu begnügen. Wenn das mal kein Fehler ist.

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Blick zurück aufs Fußballglück

Die Nachspielzeit der ersten Hälfte war angebrochen. Ein Gegentor kurz vor der Pause wäre jetzt mal sowas unklug, wie das beste Beispiel von vor zwei Wochen erst gezeigt hat. Undenkbar, wie die Partie hätte laufen können, wenn es nicht das Klatschen des Pfostens gewesen wär, das bis zum Gästeblock im Oberrang zu hören war, sondern der tösende Jubel von ca. 35.600 Hannoveranern. War das Glück etwa zurück beim VfB? Noch vor einigen Tagen wäre so ein Ball noch reingegangen. Selbstverständlich. Und Timo Werner hätte nach dem Abklatschen des Keepers daneben oder darüber geschossen. Selbstverständlich.

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Pause. Die hatte ich auch nötig. Wasser, Cola, Kaffee, doch der von Kumpel Eric spendierte Becher Bier war zu viel, da waren mir als Arachnophobikerin selbst dutzende Spinnen auf der Damentoilette egal. Wieder zurück schaute ich in die Gesichter vieler Bekannter und Weggefährten, die Reaktion bei Blickkontakt war immer gleich: „Ohje, das wird knapp“. Immer wieder setzten die Gastgeber Nadelstiche, weniger begünstigt von Hannovers eigener Stärke, sondern vielmehr durch unsere Nachlässigkeiten in der Abwehr. Uns war schnell klar: das dritte Tor musste her.

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Zurück auf dem Feld offenbarte sich recht schnell, was niemand von uns erhofft hatte: sie warteten ab. Sie schalteten die Offensive zurück, ließen die Gastgeber kommen. Ob das wirklich gut geht, blieb abzuwarten, aber ein gutes Gefühl hatte ich nicht dabei. Doch was blieb mir anderes übrig? Heimgehen, die Augen verschließen und mich nicht dem stellen, was mein Verein macht? Wir siegen gemeinsam und fallen gemeinsam – und so sang der Gästeblock laut seine Lieder, hüpfte und klatschte.

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Wettlauf gegen die Zeit

Seit 2010 gab es kein direktes Freistoßtor mehr für den VfB, daran konnte auch Daniel Didavi nichts ändern. Es war seine letzte Aktion, bevor er nach einer Stunde ausgewechselt wurde. Für ihn kam Alexandru Maxim, dessen Abgang im Sommer fast schon beschlossene Sache schien, zu nötig schien man das Geld zu haben, dass man für „den kleinen rumänischen Gastarbeiter“ (Zitat Felix) hätte bekommen können. Er blieb, verlängerte und bewies uns einmal mehr, was wir an ihm haben.

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Zu gerne wollte ich mir vorstellen, wie sich ein Abpfiff mit drei Punkten anfühlt und musste mich dann doch immer zwingen, es nicht zu tun. Die Minuten vergingen und die letzten 20 Minuten waren angebrochen. Was mit lautem Support und pausenlosem Singen begonnen hatte, entpuppte sich zunehmend als Wettlauf gegen die Zeit, der Nervenkrieg nahm seinen Lauf. Das dritte Tor, es wollte einfach nicht fallen, dafür kamen die Gastgeber immer wieder vors Tor und scheiterten immer wieder an sich selbst.

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Zittern, bangen, hoffen. Das machte sich bei mir nicht nur in komplett heruntergebissenen Fingernägeln bemerkbar, sondern vor allem durch das Halsweh, dass mich noch bis in den nächsten Tag begleiten sollte. Ein jeder Konter der Hannoveraner, ein jeder Bock unserer Abwehr, es war beinahe nicht auszuhalten. Nach sechs Spieltagen sollte man eigentlich meinen, alles ein wenig gelassener auf sich zukommen zu lassen, die Saison ist ja immerhin noch lang und noch nie ist eine Mannschaft mit null Punkten abgestiegen. Da hat man gut Reden. Wir standen hier. Zitternd. Bangend. Hoffend.

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Zehn lange Minuten

Zwei Möglichkeiten eines Sieges waren dem VfB offen gestellt worden: entweder sie gewinnen knapp und dreckig nach einem durchwachsenen Spiel, oder aber sie gewinnen haushoch, wenn der berühmt-berüchtigte Knoten endlich geplatzt ist.Verlieren kam nicht in Frage, man konnte es sich schlichtweg nicht erlauben. Niemandem in unserer Mannschaft kann man den bedingungslosen Einsatz für den Verein absprechen, selbst Christian Gentner wurde vom leisten Mitläufer zum ernsthaften Kapitän.

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Er ging voran, 80 Minuten lang, bis er Platz machte für Lukas Rupp. Die Kapitänsbinde legte er Martin Harnik an, der auch einige Minuten zuvor für den emsigen Timo Werner eingewechselt wurde. Kaum jemandem sonst gönnte ich das erlösende eine Tor so sehr wie dem Österreicher, dem das Pech an den Hacken zu kleben scheint. Zehn Minuten waren noch zu spielen. Bange Blicke wandte ich zur Uhr, der Verzweiflung nahe, und ebenso nah der Angst, ein neuer Alptraum würde über uns kommen.

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Wer das Beste hofft, sollte stets auch das Schlimmste erwarten. Im Lauf der letzten harten Jahre war nur letzteres übrig geblieben. Hannover macht noch das 2:2 und das 3:2 in der Nachspielzeit. Es war fast so, als konnte ich die Ernüchterung spüren, sehr viel mehr, als die Vorstellung des ersten Sieges der Saison. Noch einmal gaben wir alles, mein Hals schmerzte mit jeder Zeile unserer Lieder, es war mir egal, nur das eine einzige Tor wollte ich noch fallen sehen, um doch als sicherer Sieger vom Feld zu gehen.

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Anspannung bis zum Schluss

Vier Minuten vor Schluss legte Mevlüt Erdinc auf Allan Saint-Maximin rüber, die VfB-Verteidigung konnte nur noch hinterher laufen. „Jetzt passiert es!“ schoss mir in den Kopf, unzählige Male hörte ich es die Leute um mich herum sagen, von links, von rechts, von vorne und von hinten. Es wäre wieder eine typische VfB-Geschichte geworden: Überlegen gewesen und dennoch gescheitert. Przemyslaw Tyton legte seine Hände fest um den Ball. Es war noch nicht vorbei. Sehr zu meinem ganz persönlichen Leidwesen.

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Wenn ihr schon nicht das verdammte dritte Tor macht, dann lass dieses Spiel doch wenigstens schnellstmöglich enden. Die letzten Zeigerumdrehungen wurden elend lang, jede Sekunde fühlte sich mindestens fünfmal so lang an wie sonst. Unablässig schwenkte man die Fahnen in meinem Blickfeld, nur für Sekundenbruchteile konnte ich verfolgen, was auf dem Feld passierte. Drei Minuten Nachspielzeit hatte der vierte Offizielle angezeigt. Ich überlebe dieses Spiel nicht.

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Viel gezeigt hatten die Hausherren nicht, doch ein einziger Pass könnte uns den Todesstoß versetzen. Jetzt nur nicht nachlassen! Hannovers Abwehr hatte das ganze Spiel über große Probleme gegen das formidable Pressing unserer Mannschaft. Ron-Robert Zieler musste eingreifen, verließ seinen Kasten und musste nur noch mit ansehen, wie Daniel Ginczek und Alexandru Maxim auf ihn zukamen.

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Mit einem Lupfer ins Glück

In einem einzigen lauten Schrei versank ich in einer hysterischen Masse aus Weiß und Rot. Den Tränen nahe, im siebten Himmeln, für einen Moment war unsere Welt in Ordnung. Mit weit ausgebreiteten Armen lief er zum Gästeblock, „der kleine rumänische Gastarbeiter“ erlöste uns mit dem einen Schuss ins Glück. Daniel Ginczek hatte für ihn liegen gelassen, da er die weitaus bessere Schussposition hatte und gesehen hatte, wie weit der Nationaltorwart aus seinem Kasten herausgekommen war.

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Vielleicht hätten wir das Spiel auch mit 2:1 gewonnen. Vielleicht aber auch nicht. „Wir werden niemals untergehen, solange unsere Fahnen wehen!“, mit aller Kraft sangen wir weiter, der Abpfiff erlöste uns nach einem gegen Ende unheimlich zähen Spiel. Geschafft! Endlich! Das wurde aber auch Zeit. Zu gerne wollte man fragen, warum es nicht schon früher geklappt hat. Wir werden es niemals erfahren, warum es in den letzten fünf Spielen nicht zu einem einzigen Zähler gereicht hatte.

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Überall Erleichterung, Erschöpfung und Glückseligkeit. Unser Weg ist noch lang und wird uns noch viel Geduld abfordern, doch für den heutigen Tag war es überstanden. Welche Ironie es doch ist, dass es neben der Partie gegen die Hertha das schlechteste Saisonspiel war, aber auch das erste und einzige erfolgreiche. Für heute sollte es uns egal sein, vielleicht war es auch genau das, was wir gebraucht haben. Die Mannschaft ist nun gefordert, uns zu zeigen, dass der Knoten tatsächlich geplatzt ist.

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Innerlich lächelnd

Draußen warteten bereits die Busse, um die meisten der knapp 1.200 Zeugen des ersten Saisonsiegs nach Hause zu bringen. Ein paar Hände wurden geschüttelt, ein paar High-Fives gegeben, ein paar Umarmungen ausgetauscht, schnell leerten sich die Ränge im Niedersachsenstadion. Lange schaute ich mich noch um, alleine mit mir und meinen Gedanken, bis ich aufbrach. Felix, der einen anderen Eingang benutzte, wartete bereits draußen. Er hatte es ja immer gewusst, dass das Spiel heute gut ausgeht. Einen solchen Optimismus, eine solche Gelassenheit, wie gerne hätte ich es auch.

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Mit zitternden Knien lief ich langsam die Treppenstufen hinunter, wurde noch angesprochen von einem meiner treuer Leser, der sich an dieser Stelle herzlich gegrüßt fühlen darf. Es tut gut, zu wissen, dass ich das hier für mehr tue als nur für mich selbst und meine ganz persönliche Erinnerung. Ich schreibe, um auch euch daran teilhaben zu lassen, an jeder Emotion, die den Fußball und besonders unseren VfB eben ausmacht.

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Vor den Toren des Stadions leerte es sich, als wir in Richtung Stadtbahn schlichen. Mit neutralen Pullovern, ohne Schal, nicht erkennbar als jene Gästefans, die am Liebsten laut schreien und jubeln wollten. Der Frust unter den Heimfans war groß, ich lauschte neugierig den Gesprächen, wohlwissend, dass es nicht wir waren. Schadenfreude? Keineswegs! Dafür haben wir schon mit unserem VfB zu viel erlebt, um den Mund zu weit aufzureißen.

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Hoffnung auf bessere Zeiten

Am Hauptbahnhof sollten wir umsteigen, die Wartezeit verkürzten wir durch einen Mitternachtssnack bei Nordsee. Wenn das mein Personal Trainer wüsste, er wäre ganz und gar nicht erfreut. Langsam wich die Anspannung und machte Platz für Erleichterung, die ich schon seit Wochen herbei gesehnt hatte. Wir stehen noch am Anfang eines neuen Systems, einer neuen Spielidee, eines neuen Anfangs, wenn man so möchte. Die Jahre als graue Maus sollen vorüber sein, für Begeisterung will man sorgen. Dass dies alles andere als leicht ist, haben wir in den letzten Wochen leidlich erfahren müssen.

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So sehr ich immer auf die Euphoriebremse trete, wann immer ich nur die Möglichkeit habe, so hoffe ich eines doch inständig: möge dieser Sieg uns alle beflügeln, uns neue Kraft verleihen und weitere Punkte einbringen. Die Chance dazu ist da, aber wie bei den Chancen vor dem gegnerischen Tor muss man diese nutzen. Wollen wir ausbrechen aus einer durchschnittlichen und langweiligen Identität, oder wollen wir nicht mehr als das? Ein Verein erfindet sich neu. Es kommt nicht von irgendwoher, dass man trotz ausbleibender Punkte mehr Freude am Spiel hat als die vergangenen Jahre.

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Bis nachts halb drei saß ich schließlich noch, sichtete und bearbeitete die Bilder, veröffentlichte sie und schaute mir schließlich noch die drei Tore an. Im Gang draußen vor dem Zimmer war es still geworden, alle schienen zu schlafen. Das sollte ich auch tun, klappte den Laptop zu und machte mich bettfertig. Erschöpft kuschelte ich mich in die Bettdecke. Alles schmerzte. Ich schloss meine Augen und atmete drei Mal ganz tief ein und wieder aus. Es war tatsächlich geschafft. Und ich grinste noch immer.

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