Samstag. 12. März 2016. 16:31 Uhr. Langsam schüttelte ich den Kopf und starrte ins Nichts. Als der Freistoß von Dario Lezcano im rechten Torwart einschlug und Przemyslaw Tyton alt aussehen ließ, war es mir klar: wir würden dieses Spiel verlieren, die Frage war lediglich, wie hoch. Dabei hatte es trotz des frühen Rückstandes in den ersten zehn Minuten so ausgesehen, als würde der VfB mit seiner spielerischen Qualität vor allem bei gefährlichen Kontern die Oberhand behalten. Nach 61 gespielten Minuten sah es so aus, als sei das Rückgrat der Mannschaft fürs erste gebrochen, meine Hoffnungen auf einen Punktgewinn auswärts waren es auf jedem Fall.

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Ich würde so gerne schreiben, welch großartige Moral die Mannschaft an den Tag gelegt hat und welch enorme Leistungssteigerung sichtbar war – doch wer das Spiel gesehen hat, der weiß, dass ich das nicht kann. Denke ich an „Moral“, denke ich vor allem an andere Unentschieden in der Vergangenheit, wie daheim gegen Leverkusen, als viele bereits das Stadion verlassen hatten oder auswärts in Dortmund, bei dem ich wegen meiner Knie-OP nicht zugegen war. Als moralisches Highlight wird diese Partie nicht in Erinnerung bleiben, wohl aber als eines, bei dem wir mehr mit dem Schiedsrichtern haderten als mit der spielerischen Darbietung.

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Ob wir uns wirklich hätten beschweren dürfen, hätten wir am Ende des Tages mit leeren Händen wieder nach Stuttgart zurückkehren müssen? Und wenn, dann einzig und alleine bei Manuel Gräfe? Wohl kaum. So sehr uns die letzten Wochen und vor allem auch das Spiel gegen Hoffenheim erfreut haben, so unbeständig und unvorhersehbar sind die Leistungen der Mannschaft. Ein erwartet ekelhaftes und schwieriges Spiel liegt hinter uns, das lange Zeit nach einer Niederlage aussah und am Ende doch keine war. Unzufrieden bin ich nach dem Spielverlauf nicht unbedingt, doch hätten mich drei Punkte wesentlich besser schlafen lassen.

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Vorsicht, Fallobst!

Ich werde nicht schreiben, dass wir jetzt wegen zwei liegen gelassener Punkte absteigen werden. Ich werde aber auch nicht schreiben, dass dieser Punkt nun ein zu feiernder Erfolg wäre. Zu gefährlich ist noch die Situation im unteren Tabellenmittelfeld, wenngleich der Abstand zur Abstiegszone größer wird. Was ich von diesem Spiel halten soll, weiß ich auch am Tag danach noch nicht so ganz. Viel zu viele Stunden habe ich damit zugetragen, darüber zu sinnieren, anstatt mich einfach hinzusetzen und zu schreiben, über zufällig erhöhte Gravitationskräfte, über den Alptraum eines jeden Klaustrophobikers und über 30 unerwartete Minuten.

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Gemischte Gefühle sind mir nicht fremd. Im Gegenteil, bin ich es in letzter Zeit doch fast schon gewohnt, dass zwei Stimmen in meinem Kopf mir zuflüstern. Die eine spricht mit Zuversicht, ich solle an die Mannschaft glauben und das Beste hoffen, die andere wiederum meint, wie schwer und nahezu unmöglich das heutige Unterfangen sein dürfte. Jedem von uns dürfte im Vorfeld bewusst gewesen sein, dass die Partie in Ingolstadt zu den widerlichsten der Bundesliga gehören dürfte.

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Dass die Schanzer kollektiv als Fallobst bekannt sind, diese Erfahrung hat schon der eine oder andere Bundesligist machen müssen. Doch wie soll man dagegen ankämpfen, wenn dies vom vermeintlich Unparteiischen gestützt wird? Es ist nicht so, als wär man nicht gewarnt worden. Vor beidem. Welch ekelhafte Spielweise die Ingolstädter an den Tag legen war ebenso bekannt wie unsere nicht unbegründete Abneigung gegen den angesetzten Schiedsrichter. Wie sehr beides zueinander finden würde und es uns neben eigenen Unzulänglichkeiten unsäglich schwer machen würde, das hatte selbst das Teufelchen in meinem Kopf nicht zuflüstern können.

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Endlich mal wieder etwas Neues

Endlich mal wieder ein neues Stadion erkunden. Endlich mal wieder ein „neuer Ground“, wie man im Fußball so schön sagt. Endlich mal wieder auf den Stufen eines neuen Gästeblocks stehen. Die Freude war groß, Neues zu entdecken, schließlich bereisen wir als Allesfahrer seit einigen Jahren immer wieder die selben Stadien. München. Dortmund. Hamburg. Schalke. Gladbach. Immer und immer wieder das Selbe. Böse Zungen behaupten, man hätte es sich im Falle eines Abstiegs 2015 leicht machen können. Doch zum Glück gibt es ja die tapferen Aufsteiger, die uns in den Genuss neuer Stadien kommen lassen.

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In den frühen Morgenstunden waren wir aufgebrochen, sechs VfBler, sechs Tickets für den Gästeblock, sechs weitgehend froh gestimmte Gesichter, drei Kameras und eine Schlafmütze. Die meiste Zeit hatte ich erneut verschlafen, als wir über ruckelige Landstraßen quer hinüber fuhren und unfreiwillig eine Städtetour durch das an der bayerisch-schwäbischen Grenze liegende Nördlingen machten, die wir einer gesperrten Straße mangels ausreichender Umleitungsbeschilderung zu verdanken hatten. Dass wir es geschafft haben, die ersten am Gästeblock zu sein, macht uns so schnell auch keiner nach.

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Am späten Vormittag erreichten wir das Stadion mit den markanten Flutlichtmasten, umgeben von weitreichendem Ackerland und Gewerbegebieten. Zwei freundliche Ordner begrüßten uns, attestierten uns die Nummer eins der vorgefahrenen Fußballfans, gaben uns ein paar hilfreiche Infos an die Hand und ließen uns weiterfahren in die acht Kilometer entfernte Altstadt. Ein gemütlicher Stadtbummel, gutes Essen und viele Fotos, wenngleich ich mich zwischenzeitlich plötzlich matt und unwohl fühlte. Ob es die Tatsache war, zu wenig getrunken zu haben oder viel eher eine Vorahnung bevorstehender Ereignisse, weiß ich allerdings nicht.

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Nichts für Klaustrophobiker

Zurück am Stadion wiesen uns die gleichen Ordner dem Schotterplatz zu, der für Kleinbusse im Vergleich zu normalen Autos keine fünf Euro kostete, sondern kostenlos war – das gefällt dem Schwaben sehr. Kalter Wind wehte uns um die Nasen, als wir uns startklar machten. Stiefel wurden angezogen, Schals um den Hals gewickelt, Pullis und Jacken ein letztes Mal auf den richtigen Inhalt kontrolliert. Jeder hatte sein Ticket, wir Fotografen hatten unsere Kameraausrüstung dabei und wir waren bereit für ein weiteres Spiel, an dessen Ende idealerweise drei Punkte stehen, die uns dem rechnerischen Klassenerhalt ein Stück näher bringen sollten. Es kam anders, auf jede erdenkliche Weise.

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Vor den Toren des 15.800 Zuschauer fassenden Stadions begegneten wir zahlreichen Freunden und Bekannten, auch jenen, die ich schon lange nicht mehr getroffen hatte oder die mich bisher nur durch die SWR-Doku, meine Fotos und/oder diesen Blog hier kennen. Es war an der Zeit, einen Blick hineinzuwerfen und so stiegen wir die Treppenstufen hinauf, bis wir schlussendlich im oberen Drittel zum Stehen kamen. Sehr viel kleiner als bisher angenommen stellte sich mir nun die Situation dar, mehr als eine Stunde vor dem Anpfiff war es bereits schwierig, einen guten Platz zu bekommen, dabei standen die meisten noch vor den Blockeingängen.

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Die Zeit kroch dahin, Geduld war angesagt und vor allem Nachsicht: immer mehr drückten sich in den Block hinein, so dass es bereits weit vor dem Spielbeginn schon unangenehme Ausmaße annahm. Im Stehblock geht es immer eng zu, dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Doch so eng, dass einem teilweise die Luft zum Atmen abgeschnürt wird und sich die Leute teilweise mit Gewalt an einem vorbei schieben müssen, das ist selbst mir ein wenig zu heftig gewesen. Weiter unten wird es kaum anders gewesen sein, als man sich auf den Beginn einer dreiteiligen Choreographie vorbereitete.

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19 Jahre Commando Cannstatt

Wenige Minuten vor dem Einlaufen der Mannschaft wurde es dunkel über mir, die langen Stoffbahnen über unseren Köpfen verdunkelten unsere Sicht und gaben für Außenstehende ein tolles Bild ab: die Ultras vom Commando Cannstatt, langjährige Bekannte und Weggefährten, feierten ihr 19-jähriges Bestehen mit einer Wende-Choreographie, gefolgt von einer weiteren Blockfahne und hunderten weißen Schwenkfahnen. Man hatte Grund genug zu feiern und 1.762 VfBler feierten mit. Als die Choreo vorüber war, rollte der Ball bereits und sollte uns schneller das Herz in die Hose rutschen lassen, als uns lieb sein konnte.

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Wo ist denn hier die Heimtribüne der Ingolstädter? Uns gegenüber? Wirklich? Bis auf ein paar wenige bunte Fahnen sah man fast nichts, zu hören war gar noch viel weniger. Mein persönliches Highlight auf der Heimseite waren ohne jeden Zweifel die beiden Banner „Kuschelultras“ und „Sitzschalenultras“. Vielen Dank, ihr Schanzer, wir haben herzhaft gelacht. Leider nicht besonders lange. Wenige Minuten war das Spiel alt, da mussten wir das mit ansehen, von dem wir hofften, es nicht sehen zu müssen. Ein jubelndes Stadion. Auch auf die unsäglich nervtötende Tormelodie, die mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf will, hätte ich zu gerne verzichtet.

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Der Katastrophenpass von Christian Gentner, der in seinem unfitten Zustand eigentlich gar nicht erst den Platz hätte betreten dürfen, legte den Ball direkt in den Lauf von Moritz Hartmann. Wir wurden gewarnt, dass der FCI nicht lang fackelt, wenn er die Möglichkeit bekommt. Die torschwächste Mannschaft der Liga. Da ließ sich die abwehrschwächste Mannschaft der Liga natürlich nicht lumpen und gönnte sich nach vier Minuten den Rückstand. Was zum Teufel…?

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Heimspiel in Ingolstadt

Wie der Ball im Tor einschlug, habe ich nicht einmal gesehen bei all den Fahnen, die die Sicht versperrten. Ein früher Rückstand, mit dem der VfB nicht gerechnet hatte, respektive, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Wirklich beeindruckt wirkten die Spieler jedoch nicht, es wäre auch nicht der erste in den letzten Wochen gewesen, so oft nahmen wir trotzdem die Punkte mit. Noch gab es allen Grund zur Hoffnung, nicht ganz zu Unrecht, wie sich schon sehr schnell zeigen sollte.

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Wenige Sekunden nach dem Tor hatte sich der heimische Anhang bereits wieder brav gesetzt und tat das, was er die meiste Zeit in dieser Partie tat: er schwieg. Ein solch desaströses Heimpublikum bieten noch nicht einmal Hoffenheim und Wolfsburg. Wer vor einigen Jahren noch vermutet hatte, der VfB würde mal zur konterstarken Mannschaft werden, den hätte man wohl für einen Träumer gehalten. Dass wir uns heute an dieser Konterstärke erfreuen dürfen, verdanken wir jenen Hebeln, die Jürgen Kramny seit seinem Amtsantritt in Bewegung setzen konnte.

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Gestoppt habe ich die Sekunden nicht, aber schnell war es gegangen: ein langer Abschlag von Ramazan Özcan, gemeinschaftlich abgefangen, schnell umgeschalten in den Lauf des davongelaufenen Filip Kostic. Und wenn dieser Bursche eines kann, dann ist es Laufen. Bange Blicke und ein Hauch von Sehnsucht, als er auf die Ingolstädter Heimtribüne zulief, „Schieeeeeeeeß“ hörte ich noch bevor der Gästeblock in einem einzigen lauten Getöse aufsprang. Ausgleich in nur fünf Minuten und alles war wieder offen. So offen wie die Abwehr beider Mannschaften.

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Vorne unglücklich und hinten mit Pech

Das alte Lied von der Chancenverwertung. Ich hasse es, mich ständig wiederholen zu müssen, doch ist es insgeheim das, was mich am Spiel meiner Mannschaft – nach unsäglicher Abwehrarbeit natürlich – am meisten ärgert. Viel Unheil hätte man sich ersparen können, wäre man im Abschluss konsequenter und vor allem effektiver. Wer weiß, wie das Spiel hätte laufen können, wenn man den frühen Rückstand noch vor der Pause hätte drehen können. Ich würde nicht sagen wollen, sie hätten es nicht versucht, doch hatten sie bereits im Jahr 2016 schon weitaus bessere Tage erwischt.

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Noch war die Stimmung bestens unter den mitgereisten Fans, auch wenn die drückende Enge im Gästeblock nicht sehr angenehm war. Filip Kostic, Lukas Rupp oder Timo Werner, sie alle hätten sich weiterhin in die Torschützenliste einreihen können, doch taten sie es noch nicht, was meine ganz persönliche Anspannung mit jeder Minute nur unnötig wachsen ließ. Durchatmen in der Halbzeitpause. Ein leichter Anflug von Kopfweh, zu wenig Wasser getrunken, es begann sich bemerkbar zu machen, doch etwas zum Trinken mitnehmen durfte man nicht. Ich blieb stehen, wollte ich doch nicht meinen Platz einbüßen, doch vielmehr verspürte ich keine große Lust, mich durch die Enge des Gästeblocks zu kämpfen.

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Mehr und mehr rückte Manuel Gräfe ins Blickfeld und entwickelte eine unnachahmliche Art, in dieser Partie jeden einzelnen Sturz der Schanzer mit einem Freistoß zu ahnden. Sie fühlten sich in ihrer Fallsucht bestätigt, rollten theatralisch auf dem Boden umher, prüften kurz, ob eine Strafe folgte, um kurz danach wieder wie ein junges Reh über die Wiese zu springen. Der Unparteiische durchschaute diese miese Taktik nicht, im Gegenteil, er fiel darauf hinein.

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Das große Hadern

So auch beim Freistoß in der 56. Minute, den der sterbende Schwan namens Dario Lezcano herausgeholt hatte. Mir wurde schlecht, noch bevor der Freistoß getreten wurde. Warum nur muss ich immer solche Vorahnungen haben? Dass der Kopfball von Matthew Leckie im Tor landete, schien mir wie ein schlechter Witz. Dass sowohl Manuel Gräfe als auch der Linienrichter das vorherige Foul des Torschützen an Daniel Didavi übersehen hatten und der Treffer gar nicht erst hätte zählen dürfen, war noch viel weniger zum Lachen.

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Viel konnte Przemyslaw Tyton aus kurzer Distanz nicht machen. Ausgerechnet gegen den, der ihm zum unerwarteten Comeback im VfB-Trikot verhalf. Als der Pole nicht viel mehr Sympathien hätte verspielen können, hielt er im Hinspiel seinen Elfmeter nach nur vier Minuten, der VfB gewann durch das Tor von Daniel Didavi letztendlich mit 1:0 und Przemyslaw Tyton war fortan die verdiente Nummer Eins. Auch so ein Treppenwitz der VfB-Geschichte.

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Wieder mussten sie einem Rückstand hinterher laufen. Ein wenig mehr Konzentration beim Abschluss und ein bisschen weniger Pech mit der einseitigen Spielleitung und der VfB hätte bereits 2:1 oder gar 3:1 führen können. Aber sie waren nicht konzentriert. Aber sie hatten eben kein Glück. Nur die Schanzer hatten es, das und ihre mittlerweile ligaweit bekannte Fallsucht. Eines muss man ihnen lassen, sie wissen definitiv, wie und wo sie zu Boden gehen müssen, um aussichtsreiche Standards zu bekommen.

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Der zweite irreguläre Gegentreffer

Bis heute und vermutlich bis in alle Ewigkeit wird es Manuel Gräfes Geheimnis bleiben, was er da nach einer gespielten Stunde gesehen hatte. Was es auch war, es war mit Sicherheit kein freistoßwürdiges Foul von Daniel Didavi an Roge Roger. Es mag eine kleine Berührung gegeben haben, doch wer wegen so etwas zu Boden geht, wiegt mit Sicherheit keine geschätzten 90 Kilo und dürfte sich eigentlich auch nicht Profifußballer nennen. Auch dieses Mal lag der Schiedsrichter daneben, der spätestens jetzt zu Ingolstadts zwölftem Mann und zum Feindbild des Gästeblocks wurde.

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Unfassbaren Blickes stand ich da, konnte nicht fassen, was einer der renommiertesten Bundesliga-Schiedsrichter da zusammenpfeift und musste tatenlos mit ansehen, wie Dario Lezcano zum Freistoß antrat und ihn in einem einzigen straffen Schuss in die Torwartecke zimmerte. Das zweite Traumtor der Schanzer, das zweite irreguläre in einer Partie, die so mit Sicherheit einen anderen Verlauf genommen hätte. Regungslos stand ich da wie angewurzelt und bewegte keinen einzigen Muskel, die Hände versunken in den Jackentaschen, das Gesicht versteinert, das Herz geschockt. Wie konnte das nur passieren?

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Ich war zu geschockt, frustriert und verunsichert, um mich zu bewegen, um Fotos zu machen und um ungeachtet all den überraschenden Wendungen, die der VfB in den letzten Monaten durchlebt hat, an das Gute zu glauben und bis zum Schluss darauf zu hoffen, dass die Mannschaft doch nocht Punkte mitnimmt. Wie gerne würde ich glauben, dass ein 1:3-Rückstand aufholbar ist, wenn du mit ansehen musst, dass der Schiedsrichter alles abpfeift, was gar kein echtes Foul ist und auf der Gegenseite so gut wie nichts gepfiffen wird.

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Ein unerwarteter Anschluss

Zehn Minuten waren noch übrig. Hoffentlich wäre es bald vorbei, dann könnten wir uns ins Auto setzen, heimfahren und einfach vergessen, was hier passiert ist. Dem 4:1 schienen die Schanzer näher zu sein als der VfB dem Anschluss, dass sie mittlerweile jenes 4:1 bejubelten und es dann doch nur das Außennetz war, schien mir allenfalls eine Marginalie zu sein. Nichts wollte zusammenlaufen, was noch gegen Hoffenheim so wunderbar funktioniert hatte. Fast nichts.

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Niemand hatte mehr damit gerechnet, dass man nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich durch Filip Kostic überhaupt noch ein Stuttgarter Tor zelebrieren durfte, doch man hatte sich glücklicherweise geirrt. Einer der wenigen Momente, die Manuel Gräfe zu unseren Gunsten auslegte, sie brachte uns elf Minuten vor dem Ende zurück ins Spiel. Ein Freistoß aus dem Halbfeld, eigentlich ein gefundenes Fressen für die abwehrstarken Ingolstädter, getreten vom bisher einzigen Torschützen im weißen Trikot.

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Viel Hoffnung gab ich nicht auf den ruhenden Ball, das Spiel war doch ohnehin bereits verloren, wobei ich da bei weitem nicht die Einzige gewesen sein dürfte, die das vermutet hatte. Der lange Ball auf den Kopf vom inzwischen eingewechselten Boris Tashchy, vor die Füße von Lukas Rupp. Meinen Augen vermochte ich kaum zu glauben, als vor meinem Blickfeld die Fäuste in die Luft gingen und binnen Sekundenbruchteile die vage Hoffnung zurück war, dass der VfB doch noch nicht so tot war, wie er bis zu diesem unerwarteten Anschlusstreffer schien.

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Allemann nach vorne

Und auf einmal waren wir wieder da. Die Hoffnung war wieder zurück im Gästeblock, spätestens bei jenen, die gar keine mehr hatten. Zehn Minuten waren übrig, um die Niederlage abzuwenden, aber ob das ausreicht? Mir schlotterten die Knie, da hatten wir schon den Jubelschrei auf den Lippen, als nicht viele Zentimeter fehlten, um Emiliano Insua endlich als Torschützen feiern zu können. Schweig, mein dummes Herz!

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Alles schien nun möglich, warum also nicht auch der Ausgleich? Doch der musste ja erst noch geschossen werden, und bis dahin blieben sie gefährlich, die Schanzer und ihr zwölfter Mann, der ihnen weiterhin viel durchgehen ließ. Das Blut pumpte nur so durch meine Adern, wie hochrot mein Kopf gewesen sein muss, wage ich mir nicht vorzustellen. Weiter, weiter, immer weiter! Einer noch, kommt schon Jungs, einer noch, mindestens!

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Daniel Didavi hatte den Ball heruntergepflückt, pustete seine Backen auf und rannte mit der letzten Kraft, die er noch in den Beinen hatte in Richtung eines völlig von Sinnen geratenen Gästeblock, der alles herauszuhauen schien, was er noch in der Reserve hatte. Weiter auf Filip Kostic, beinahe gefoult an der Strafraumgrenze, weiter, immer weiter, zu weit vorgelegt im Duell gegen Marvin Matip und beim zurückerobern des Balles zu Boden gegangen. Und da war es, das Geräusch, das uns viel zu oft dem Gegner wohlgesonnen war: der Pfiff des Schiedsrichters.

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Vom Punkt ins Glück

Als wäre der Ball schon im Tor gewesen, brav kollektiver Jubel aus. Sechs Minuten vor dem Ende zeigte Manuel Gräfe auf den Punkt, wie sich im Nachgang zeigte ein Strafstoß der Kategorie „Kann man geben, muss man aber nicht“. Vielleicht war es ja auch das schlechte Gewissen des Unparteiischen, man weiß es nicht genau. Noch ist der Ball nicht im Netz, gab ich zu bedenken, all jenen, die jetzt schon vorschnell über den Ausgleich jubelten. Ein paar Leute drehten sich um, konnten es nicht mit ansehen und wandten ihre Blicke auf jene, die tapfer genug waren, dem Risiko ins Gesicht zu blicken.

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Weit aufgerissene Augen, den Angstschweiß auf der Stirn, nervöses Zittern und das flehentliche Hoffen auf den einen Jubel, der uns mindestens einen Punkt sichern würde. „Mach ihn, Junge, mach ihn!“ schrie es aus 1.762 Kehlen, als Daniel Didavi am Punkt antrat. Seine Brust hob und senkte sich sichtbar, noch einmal Luft holen, noch einmal treffen, noch einmal den Gästeblock in die Euphorie stürzen. Ramazan Özcan sprang nach links, Daniel Didavi schoss nach rechts und hinterließ den kollektiven Taumel der Freude in Block H des Audi-Sportparks.

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Nur 22 Minuten zuvor hatten die Schanzer das 3:1 gemacht und damit den sicheren Sieg in der Tasche und nun war es der VfB, der jubelte. Dass die Partie noch weitere sechs Minuten plus Nachspielzeit gehen würde, konnte zu diesem Zeitpunkt sowohl Fluch als auch Segen sein. Wie unendlich schmerzhaft es gewesen wäre, nach dieser Rückkehr doch noch das 3:4 hinnehmen zu müssen, und wie unendlich süß es geschmeckt hätte, nach diesem Rückstand doch noch das 4:3 zu erzielen, man vermochte es sich kaum vorzustellen.

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180 quälend lange Sekunden

Drei Minuten Nachspielzeit. Drei ewig lange Minuten mussten wir noch überstehen. Wieder reichte ein minimaler Körperkontakt aus, um den Gastgebern einen weiteren gefährlichen Freistoß zu ermöglichen. Kurz vor der Strafraumgrenze, wie geschaffen für einen weiteren direkt verwandelten Schuss, der aber glücklicherweise an der Mauer hängen blieb. Der VfB spielte die letzten Minuten quasi zu Zehnt gegen Zwölf, Kevin Großkreutz konnte nach einem vermeintlichen Krampf nur noch alibimäßig über den Platz humpeln, doch hatte Jürgen Kramny schon drei Mal gewechselt.

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Wie eine Ewigkeit kamen sie mir vor, die letzten 180 Sekunden, ohne zu wissen, wann diese vorbei sein würden. Jetzt bloß keinen Scheiß machen, bloß kein Gegentor mehr kassieren. Das hätten sie sich vermutlich auch nicht mehr gewagt (oder doch?), denn um etwa 17:18 Uhr war es endlich vorüber. Besser ein Punkt als kein Punkt, wie man so schön sagt, doch war der Jubel im Gästeblock verhalten. Wer nach einem 1:3 noch einmal zurück kommt, hat Moral bewiesen, doch fehlte über weite Strecken das spielerische Geschick und auch Konsequenz, aus den Möglichkeiten mehr herauszuholen.

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Dass es im Grunde genommen zwei Punkte zu wenig sind, mussten wir stillschweigend hinnehmen, in dem Wissen, dass es nach 61 Minuten nicht danach aussah, als würde man überhaupt etwas anderes als eine bittere Niederlage mitnehmen können. Alleine dafür gebührt der Mannschaft unser Respekt und unser Applaus, der laut, herzlich und vor allem ehrlich war, als sie sich dem Gästeblock näherten. Trotzdem vermag kaum jemand von uns zu sagen, dass dies alles war, was man gegen die widerliche Spielweise der Schanzer hätte herausholen können.

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Von Zauber und Sehnsüchten

Die Ränge im Rest des Stadions leerten sich in Windeseile, als die Mannschaften in die Kabinen verschwunden waren. In unseren Reihen wurde das zurückgelassene Material eingesammelt, hunderte auf den kahlen Betonstufen verteilte Fähnchen, in mühsamer Arbeit selbst zusammengebastelt, nun von dunklen Fußabdrücken zertrampelt. Von den ersten verabschiedete man sich und recht bald genossen wir den Blick in ein nahezu komplett leeres Stadion.

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Wieviele Punkte der VfB auch geholt hat, diese Momente am Ende der Partie haben doch stets etwas Besonderes, sei es der frustrierte Blick ins Nichts oder das stolze Innehalten, ein leeres Stadion vermag bisweilen einen gewissen Zauber innezuhaben. Meist gehören wir auswärts wie daheim zu den letzten, die vom Ordnungsdienst mal mehr, mal weniger freundlich zum Heimgehen gebeten werden, wenn sich die Rollläden der Imbissstände schon schließen und sich viele Autos und Busse bereits in Gang gesetzt haben.

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Wie gerne ich diesen Moment mit einem noch größeren Gefühl des Stolzes genossen hätte. Ich wäre mit Felix, Gerd, Ingrid und Holger gemütlich über die Steine des Schotterplatzes geschlurft, hätte tief durchgeatmen und hätte genau gewusst, wie gut ich in der darauffolgenden Nacht schlafen könnte, ohne Angst vor einer Negativserie, ohne Angst vor dem Abstieg. Die ganz große Angst ist es nicht, die mich beschäftigt, wohl aber die Sehnsucht nach den letzten paar Punkten, die das schwäbische Gemüt beruhigen sollten. Wir hätten hier auch verlieren können. Aber auch gewinnen. Und so bleibt am Ende dann doch ein gewisses Geschmäckle.

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