So richtig bereit war ich dafür noch nicht. Zweite Liga. Der Begriff, vor dem ich so viele Jahre so unwahrscheinlich viel Angst hatte. So richtig echt fühlt es sich noch nicht an. Nun also Aue, Sandhausen und Heidenheim statt Bayern, Schalke und Dortmund. So richtig freuen konnte ich mich nicht, wenngleich die Vielfahrerei zu jeglichen Spielen des VfB meine Aussage nur umso absurder erscheinen lässt. Auf uns wartet nun eine neue, spannende und auch aufregende Zeit, von der keiner so recht erahnen kann, was sie für uns bereit hält.

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Das Ziel zu formulieren, dass es am Ende dieser Spielzeit zu erreichen gilt, fällt nicht schwer: Wiederaufstieg. Doch wie sieht die Realität wirklich aus? Viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher, wie sie wo starten würde, die neue Saison, wie wir uns an die neuen Spielzeiten gewöhnen würden und in wie weit uns diese Zeit in der zweiten Liga vielleicht sogar ein bisschen näher zusammen bringen würde. Wir alle wissen, was es bedeutet, wenn nach wenigen Spielen nicht der gewünschte Erfolg eingetreten ist, die Unruhe wird größer und der Druck nur umso mehr.

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Vieles ist anders als in den letzten Jahren. Die Ligazugehörigkeit. Das Trainerteam. Große Teile der Mannschaft. Die Gegner. Die Stadien. Und doch fühlte es sich zum Auftakt nicht anders an als sonst. Tausende von fröhlichen Menschen ziehen als Karawane Cannstatt durch die Straßen von Stuttgart. 60.000 Zuschauer in einem ausverkauften Neckarstadion. Gigantische Stimmung. Und das soll wirklich zweite Liga sein? Man könnte es kaum glauben, doch im nächsten Moment realisierte man es. Wir schreiben Montag, den 8. August 2016. Das erste von vermutlich vielen Montagsspielen.

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Die lange Durststrecke der Auftaktsiege

Zum Auftakt daheim gegen St. Pauli, was für ein Brett. Mein VfB-Umfeld schien wohlgesonnen, vorfreudig und optimistisch, auf dass aus diesem unglücklichen Gastspiel im Unterhaus kein weiteres Jahr mehr folgen mögen. Viele hatten anscheinend vergessen, welche Heimauftakt-Bilanz uns in den letzten Jahren zuteil wurde. Nur im August 2011, als der VfB seine neue Cannstatter Kurve einweihte und Schalke mit 3:0 nach Hause schickte, war unsere perfekte weiß-rote Welt in allerbester Ordnung.

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Doch danach? Es folgten viele bittere Erfahrungen, die die ausgelassene Stimmung der traditionellen Karawane Cannstatt beinahe schon wieder zunichte machte. Man verlor gegen Leverkusen. Gegen Wolfsburg. Und zwei Mal gegen Köln. Fast so, als konnte man bereits im ersten Heimspiel erahnen, was in jener Spielzeit uns Fans zugemutet werden würde.

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Wie bezeichnend, dass auf den letzten Sieg zum Heimauftakt eine mir durchaus positiv in der Erinnerung hängen gebliebene Saison war: die Europapokal-Saison 2011/2012, das Märchen über Zwangsrückstände, Wasserfallartige Regengüsse, drei Tore in sechs Minuten und ein Martin Harnik auf dem Podest. Hätte man mir nur vorher gesagt, vier Jahre später würde ich zwar mit ein paar mehr internationalen Spielen auf der Liste meinem VfB weiterhin die Treue schwören, dafür aber einen Abstieg miterleben müssen, ich hätte es nicht glauben können.

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Alles wie immer – nur eben zweite Liga

Am Montagmorgen stopfte ich mein Trikot in den Rucksack und machte mich auf den Weg ins Büro. Ein wirkliches Gefühl für das, was auf uns warten würde, hatte ich nicht. Nun galt es erstmal, den Arbeitstag zu überstehen, bevor ich mich am Nachmittag auf den Weg machen würde. Ein weiteres Mal zog die Karawane durch die Straßen und bildete den Auftakt zum ersten Heimspiel der Saison. Waren viele Leute in meinem Umfeld frohen Mutes, gegen St. Pauli zu gewinnen, so bedrückte mich eine ähnliche Vorahnung wie ich sie schon seit langem kenne. Und ganz irren sollte ich mich dabei nicht.

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Für ein paar Momente fühlte es sich an wie immer. Die Stimmung, die Leute, das Stadion, das war einfach mein VfB – nur eben in der zweiten Liga. Den Fehlstart galt es unbedingt abzuwenden, von denen hatten wir einfach schon zu viele. Wir alle kennen die Befürchtungen zum Beginn der neuen Saison, die Sorge, dass der Kader nicht ausreicht und die Angst, gleich die ersten Spiele zu verlieren und damit schon früh in der Saison viel Unruhe im Verein zu haben. Auch, wenn sich viele optimistisch geben, insgeheim kennen alle dieses beklemmende Bauchgefühl, dass der VfB schon zu Beginn nicht so gut ist, wie er eigentlich sein sollte.

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Doch es nützt alles nichts. Wir Fans können nicht beeinflussen, wie gut oder schlecht sich die Spieler auf dem Platz schlagen, wir können nur alles dafür geben, dass sie keinerlei Zweifel daran haben, dass der VfB für seine Fans das Größte ist, dass wir immer alles geben werden und bis zum Ende hoffen. Das ist unsere Aufgabe. Doch sei es auch uns zugestanden, dass der gefühlt immer fortwährende Abstiegskampf der letzten Jahre nicht spurlos an uns vorüber ging und uns manchmal zweifeln lässt, ob mancher Spieler seine Aufgabe so ernst nimmt wie wir die unsere.

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Kalte Dusche

Was vor allen Dingen von diesem Spiel hängen bleiben wird, ist die Cannstatter Kurve. Vollgas von Anfang an, so laut und so euphorisch wie schon seit langer Zeit nicht mehr, ja nicht einmal als man im Januar und Februar die sportlich schönste Zeit seit Jahren erleben durfte. Wir sind hier, jetzt liegts nur an den Spielern, zu beweisen, dass sie wieder erstligatauglich werden wollen, ein schweres Unterfangen, soviel ist sicher.

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Am Freitag zuvor eröffnete der erste Absteiger Hannover 96 seine Zweitligasaison mit einem 4:0-Sieg in Kaiserslautern, tat sich aber ebenfalls in den ersten 20 Minuten schwer. Kein Grund zur verfrühten Panik, nur weil aus den wenigen Chancen, die man sich zu Beginn erarbeitet hatte, noch nichts zählbares erwuchs. Man mag uns Ungeduld und Pessimismus vorwerfen, doch kann ich mir kaum vorstellen, dass es der Anspruch der Mannschaft ist, eine derart schlechte Darbietung in der ersten Halbzeit abzuliefern.

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Ja, es ist der erste Spieltag. Ja, die Mannschaft ist noch nicht eingespielt. Ja, es bedarf noch weiterer Neuzugänge. Ja, es ist zu früh, um den Teufel an die Wand zu malen. Aber nein, es ist trotzdem nicht wirklich akzeptabel, was wir da zu sehen bekamen. Folgerichtig ging St. Pauli nach nicht einmal einer halben Stunde in Führung und verpasste uns die eiskalte Dusche. Willkommen in der zweiten Liga. So war das aber doch gar nicht geplant?!

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Jähes Ende früher Hoffnungen

Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Das geht so nicht. Überhaupt nicht. St. Paulis Neuzugang Aziz Bouhaddouz machte nicht nur das Tor nach 28 Minuten, er schickte sich auch an, noch vor der Halbzeitpause zu erhöhen. Es war der Ungenauigkeit und den Fingerspitzen von Mitch Langerak zu verdanken, dass es nicht schon einen höheren Rückstand gab. Was war da nur los? Ein einziges Gegentor reichte aus, um die komplette Mannschaft wie eine Kreisligamannschaft dastehen zu lassen.

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Dass St. Pauli als letztjähriger Viertplatzierter zum Auftakt ein ziemliches Brett sind, ist uns bewusst, aber so dermaßen schlecht auszusehen vor ausverkauftem Hause grenzte ja fast schon an Arbeitsverweigerung. Man machte es ihnen viel zu leicht, die Abwehr stümperhaft überrumpelt, Flaute in der Offensive, als wäre dies ein Testspiel, für das man nicht die geringste Lust verspürte.

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Die Stimmen um mich herum wurden zunehmend lauter: „Das ist nicht einmal zweitligatauglich!“, frustriert nickte ich leicht mit dem Kopf, doch hielt ich die Kamera fest in der Hand, in steter Bereitschaft, abdrücken zu können, wenn aus dem Nichts der Ausgleich fällt. Doch zunächst wollte er nicht fallen, nicht vor der Halbzeitpause, zu der wir froh sein konnten, dass der Rückstand nicht schon höher war.

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Geht da noch was?

Ich war fürs erste bedient, dabei hatte ich noch nicht einmal die Aktion mit dem Pfosten kurz vor der Halbzeitpause richtig mitbekommen, die Sicht war verdeckt, als der Ball auf der Linie entlang trudelte und mit Riesenglück nicht ins Tor gerollt war. Hatte sich das der VfB alles viel zu einfach vorgestellt? Oder waren es, wie manche behaupten, mal wieder die „völlig überzogenen“ Erwartungen der Fans? Ist es zu viel verlangt, sich zu konzentrieren, alles zu geben und zu beweisen, dass das Gastspiel in der zweiten Liga nur auf maximal ein Jahr angelegt ist?

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Und was war eigentlich mit Alexandru Maxim? Warum saß einer der wenigen Kreativen, die wir haben, auf der Bank? Warum spielte er nicht? War er angeschlagen, verletzt, was war los? Er kam zur zweiten Halbzeit und brachte sofort frischen Wind. Er hatte sich oft selbst im Weg gestanden, haderte offensichtlich mit seiner Reservistenrolle hinter Daniel Didavi, doch überraschte sein Verbleib beim VfB manche dennoch, mich eingeschlossen. Ein wahrhaft begnadeter Kicker. Aber eben leider auch mitunter faul und selbstgefällig.

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Rumms! Gerade eben hatte ich noch den Auslöser der Kamera gedrückt und auf die Cannstatter Kurve geschaut, da sah ich das Gebälk vor unseren Augen wackeln, der Kopfball von Stephen Sama hätte um ein Haar den Ausgleich markieren können, nachdem er es bereits kurz vor der Pause nicht war und wegen Abseits aberkannt wurde. Vielleicht geht ja doch was, das Spiel nahm Fahrt auf und riss die Fans auf den Rängen mehr und mehr mit.

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Alles auf Anfang

Die Gewichte verteilten sich neu, nun war es der VfB der unter dem unablässigen Anpeitschen der Cannstatter Kurve im Vorwärtsgang war und hinten aber dafür die Räume öffnen musste. Räume, die unsere Gäste aus Hamburg vor den knap 6.000 mitgereisten Fans nutzen wollte. Es wurde kritisch im Strafraum von Mitch Langerak, bevor Christian Gentner den Ball wegdrosch. Im ersten Moment erschien dies als verzweifelte Rettungstat, im nächsten Moment als perfekte Vorlage.

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Allen rannte er davon, Alexandru Maxim alleine auf weiter Flur, lässt Philipp Ziereis alt aussehen und schlenzte den Ball in seiner unnachahmlichen Manier in die rechte untere Ecke. Ausgleich? Ausgleich! Wie der Ball ins Netz ging, sah ich nicht mit eigenen Augen, doch das Geschrei um mich herum war über jeglichen Zweifel erhaben. Es freut mich verständlicherweise für jeden einzelnen VfB-Spieler, der ein Tor macht. Doch bei dem kleinen Rumänen freut es mich stets noch ein kleines bisschen mehr.

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Nach 67 Minuten war wieder alles auf Anfang. Mein Chef meinte am Nachmittag noch zu mir, er wäre mit einem Remis gegen St. Pauli zufrieden. Doch wer gibt sich schon damit zufrieden, wenn er noch mindestens 23 Minuten Zeit hat, noch mehr daraus zu machen? Es war beinahe so, als würde da eine andere Mannschaft auf dem Feld stehen. Selbstbewusst, konzentriert, engagiert und mitgerissen vom Torschützen zum Ausgleich, der sich zu neuen Heldentaten aufmachen wollte. Keinen Millimeter nachgeben, wer weiß, was dann noch möglich ist.

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Die Liebe einer Kurve

Die Emotionen der Cannstatter Kurve sind nicht immer leicht zu durchschauen. Es gibt Tage, an denen die Wucht trotz VfB-Führung nicht bis zur letzten Reihe durchdringt, und es gibt so Tage, an denen kannst du dir selbst nicht erklären, was hier passiert ist. Wir haben gemeinsam schon so einiges erlebt, wir haben miteinander mehr gelitten, als wir bereit waren, uns selbst zuzugestehen, wir haben gefeiert und geschrien, bis unsere Kehlen heiser waren und wir kennen alle diesen unbändigen Stolz, ein Teil davon gewesen zu sein.

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Mit Worten vermag man nicht immer zu beschreiben, wie sich ein paar Minuten auf den Betonstufen der Kurve angefühlt haben. Manchmal reicht ein kleines bisschen Gänsehaut, um aus einem Spiel einen gigantischen Support erwachsen zu lassen. Wer am 8. August in der Cannstatter Kurve stand, wird wissen, was ich meine. Nicht nur Simon Terodde und Christian Gentner würden nach dieser Partie davon schwärmen, dass dieser Auftritt der Fans ohne jeden Zweifel absolut Champions League war.

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Der frische Wind von Alexandru Maxim, ein beflügelndes Tor und das kollektive Gefühl, es sei noch nicht vorbei ließ uns alle noch ein bisschen lauter singen und ein bisschen höher hüpfen. So viel Schmerz uns der VfB mitunter zuzumuten vermag, hier sind wir zuhause und werden es immer sein. Die Uhr tickte, scheinbar viel langsamer als sonst, als würde sie uns die Momente genießen lassen um uns kurz vor Schluss ins Glück zu stürzen.

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Noch viel Arbeit

Weiter, immer weiter. Getrieben von der enormen Lautstärke gaben sie bis zum Schluss alles. Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft und ich ertappte mich dabei, wie ich kurz innehielt, meinen Blick mit einem sanften Lächeln auf den Lippen durchs Stadion gleiten ließ, nur um kurz danach wieder die Kamera in die Höhe zu halten, den rechten Zeigefinger halb auf den Auslöser gedrückt. Da sah ich vor mir einen heraneilenden Alexandru Maxim, gefolgt von einem kurzen, aber heftigen Raunen in meinen Reihen.

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So wie ich den Ball in der ersten Halbzeit nicht gesehen hatte, wie er an der Grasnarbe entlang rollte und uns vor größerem Unglück bewahrt hatte, so sah ich auch nicht, was in der 87. Minute geschah. Die Kamera weit in die Luft gerissen, schaute ich zur Mitte der Kurve und drückte ab, ohne zu wissen, dass ich den Moment festhalten würde, indem Christian Gentner am langen Pfosten mit letzter Kraft den Ball über die Linie drückt. Ich sah es nicht mit meinen eigenen Augen. Doch ich konnte es hören.

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Das gibt es doch gar nicht. Nach einer vollkommen miserablen ersten Hälfte der Siegtreffer kurz vor Schluss, beschrien von einer Cannstatter Kurve, die jede Contenance verloren hatte. Danach habe ich nicht mehr viel mitbekommen bis auf den Schlusspfiff des Schiedsrichters, der alle Arme um mich herum noch einmal nach oben gehen ließ. Es war vollbracht, der erste Auftaktsieg seit fünf Jahren. Dass noch viel Arbeit vor uns liegt, wissen wir. Aber wir wissen auch, wozu wir fähig sein können, wenn jeder im Verein alles gibt.

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