Ich wünschte, ich hätte nur annähernd die richtigen Worte dafür. Lange sitze ich vor einem leeren Blatt und stelle mir die Frage, wie ich anfangen sollte. Mit dem erhabenen Moment, in dem uns Alexandru Maxim endgültig zum Derbysieger machte? Dem grenzdebilen Dauergrinsen, das seit gestern Nachmittag mein Gesicht ziert? Oder vielmehr darüber, wie es sich so anfühlte, kritisch beäugt inmitten von einer Heerschar an Sicherheitskräften mein erstes Derby in Karlsruhe erleben zu dürfen. Eines nach dem anderen.

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Sicher bin ich mir mindestens in einer Sache: für nichts auf der Welt würde ich das Erleben des Derbysiegs im Stadion eintauschen wollen. Außer dem Aufstiegsjubel vielleicht. Bis es soweit ist, harren wir der Dinge, die da kommen. Ungeachtet des turbulenten Saisonstarts mit zwei Trainerwechseln und durchwachsenen Partien, verdichtet sich nun langsam aber stetig eine Vorstellung davon, was Hannes Wolf und Jan Schindelmeiser aus diesem VfB gemacht haben, oder vielmehr noch machen. Eine Aufstiegsgarantie ist das jedoch noch lange nicht.

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Viel wurde geredet über das Baden-Württemberg-Derby, viel wurde berichtet über die Massen an Sicherheitskräften, viel wurde befürchtet angesichts von über sieben Jahren heraufgeschaukelter Abneigung dem Gegner gegenüber. Letztendlich ging das Sicherheitskonzept bei diesem Hochrisikospiel voll auf, bis auf das Abbrennen eines selbstgebastelten Fritzles auf Karlsruher Seite blieb es überraschend ruhig. Umso mehr Grund, sich über das eigentlich Wichtige zu freuen: Derbysieger Derbysieger, hey hey!

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Mein ganz persönlicher Alptraum

Unterschiedlicher könnten zwei aufeinanderfolgende Nächte wohl kaum sein. Wälzte ich mich in der Nacht auf Sonntag noch unruhig umher und träumte von brennenden Autos, einer Begegnung mit Pfefferspray, Sippenhaft im Knast und einer Niederlage im Derby, schlummerte ich in der darauffolgenden Nacht friedlich und breit grinsend ein. Viele sagen, diese drei Punkte seien genauso wichtig wie jeder andere Sieg auch – eine Argumentation, die ich in ihren Grundsätzen schon nachvollziehen kann. Die Sache ist nur die: ein Derbysieg gegen Karlsruhe sind keine normalen drei Punkte. Sie sind so viel mehr als das.

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Über 30 Stunden später ist kaum etwas von dem Lächeln in meinem Gesicht gewichen. Es fühlt sich toll an, dabei gewesen zu sein, diese Emotionen zu erleben und ein Stück weit den Glauben an etwas verloren gegangenes im VfB wiederzuerkennen, die Fähigkeit, im richtigen Moment genau die richtigen Antworten zu geben. Für mich ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, nur weil man gegen den KSC gewonnen hat, ich werde weiterhin schimpfen, bruddeln und mich vor dem nächsten Spiel fürchten. Aber ich hoffe, dass ich das eines Tages nicht mehr muss.

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Über ein Viertel der Saison ist um und der VfB steht nach elf Spieltagen auf Platz zwei Tabelle, genau wie im Meisterjahr 2007, als man zum gleichen Zeitpunkt sogar einen Punkt weniger hatte. Will ich damit etwa andeuten, dass es genauso weitergeht? Nein, dafür kennt ihr mich alle vermutlich zu gut. Doch was wäre, wenn unser geheimer Wunsch doch Wirklichkeit wird? Was wäre, wenn Hannes Wolf uns zum Aufstieg verhilft und uns von ruhigen Zeiten träumen lässt? Was wäre, der Aufstieg am Ende doch etwas Sinnvolles hat?

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Es ist soweit

Gefühlt hatte ich wenig bis gar nicht geschlafen, dennoch riss mich der Wecker am frühen Sonntagmorgen aus einem unruhigen Schlaf. Der Tag X war gekommen, mein erstes Derby in Karlsruhe. Im Jahre 2009 hatte ich mir gesagt, im nächsten Jahr auch nach Karlsruhe zu fahren, einmal wollte ich so etwas selbst erleben. Der KSC stieg ab und war seither in der ersten Liga nie wieder gesehen worden, zwischenzeitlich trafen unsere Amateure gar in der dritten Liga auf die Badener, größer konnte die Kluft nicht sein. Nun sah man sich wieder, ligatechnisch auf Augenhöhe, nicht jedoch, was die eigenen Ansprüche angeht.

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Vor meiner Haustür fuhren Gerd und Ingrid vor, mit denen wir die meisten Auswärtsspiele bestreiten. Felix begleitete mich noch bis zur Türe, verabschiedete uns mit den Worten, wir sollen aufpassen, und ging wieder hinein. Seit Jahren steht sein unerschütterlicher Entschluss, nicht mehr nach Karlsruhe zu gehen, und wenn das Spiel auch noch so wichtig und richtungsweisend ist. Ich versprach ihm, vorsichtig zu sein und wusste dabei aber wohl genauso gut wie er selbst, dass die Situation vor Ort möglicherweise angespannter sein würde, als uns lieb gewesen ist.

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Das einzig wahre Derby, neben dem gegen die Stuttgarter Kickers. Vieles ist in den letzten Jahren notdürftig zum Derby erklärt worden, Freiburg kommt dem vielleicht noch am nähesten, doch was Hoffenheim, Sandhausen und Heidenheim damit zu tun haben, ist mir schleierhaft. Von allen Duellen gegen den KSC, seien es auch wenige gewesen, ist mir das Heimspiel im September 2008 in besonderer Erinnerung geblieben. Eine unglaublich beeindruckende Choreo, geschmückt mit der Schrift „Hoch zu Ross ins letzte Gefecht“. Als ob man es geahnt hätte.

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Die ersten Hürden gut gemeistert

Eine undurchsichtige Nebelsuppe begleitete uns auf dem recht kurzen Weg nach Karlsruhe, wo wir im Durlacher Wohngebiet in einer Sackgasse unweit des Bahnhofs parkten und uns von dort zu Fuß zum Bahnhof aufmachten, wo Shuttlebusse zum Stadion fahren sollten. Die Mutmaßung war, dass man aus dem gelernt hatte, was vor über sieben Jahren passiert ist, dass nämlich zu viele Fans auf einmal ankommen, die Kapazität der Busse nicht ausreicht, geschweige denn vom bereitstehenden Sicherheitspersonal. Genug Personal hatte es, unzählige Einsatzwägen waren am Bahnhof zu sehen, und das wohl gemerkt Vormittags halb zehn.

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Von nun an galt höchste Aufmerksamkeit. Ein paar blaue Schals hatten wir bereits gesichtet, dafür aber auch jene, die unbehelligt und scheinbar völlig unbeeindruckt mit einem VfB-Schal am Bahnhof unterwegs waren, noch habe ich mich nicht entschieden, ob das mutig, dämlich oder beides ist. Zwischen zwei Gruppen von Polizisten hin- und hergeschickt wurde uns dann nach dem viertel Platzwechsel auch endlich mitgeteilt, wo die Shuttlebusse fahren, doch dass diese erst mit dem Eintreffen des Sonderzugs fahren sollte, löste Unverständnis aus.

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Tolle Idee, auch dieses Mal so lange zu warten, bis eine unkontrollierbare große Menge an Stuttgartern am Bahnhof ist und damit das Risiko aufbauen, auf konfrontierender Karlsruher zu treffen. Viele Diskussionen später ließ man die Busse bereits früher kommen und so verließen wir den Durlacher Bahnhof gut zehn Minuten vor dem Eintreffen des Sonderzugs. Auf der Fahrt deutete nicht viel darauf hin, dass wir in der Stadt des ungeliebten Feindes unterwegs waren. Ja gut, vielleicht die drei bis an die Zähne bewaffneten Polizisten, die sich vorne im Bus postiert hatten. Aber sonst?

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Enormes Polizeiaufgebot

Der erste Wasserwerfer stand am Wegesrand. Weit konnte es nicht mehr sein, die Anspannung stieg, während die Distanz zum Wildparkstadion geringer wurde. Mehr und mehr Einsatzwägen der Polizei, ein unscheinbarer Zaun, dahinter ein Flutlichtmasten. Im Schritttempo ruckelte der Shuttlebus über den Schotterplatz, hinter uns schloss sich der Zaun wieder, der alles Blau-Weiße von uns fernhalten sollte. Die Tore des Stadions waren noch geschlossen, zahlreiche Ordner standen schon bereit. Es war kälter, als ich vermutet hatte, keine Spur von Sonnenschein. Die nächste Hürde hatten wir genommen, unbeschadet am Gästeblock anzukommen. Rumms! Auf der anderen Seite des abgeschotteten Gästebereichs explodierten Böller.

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Kurz darauf öffneten sich die Tore, während uns kalter Wind um die Nase wehte. Es galt ein Taschenverbot, deswegen hing ich mir die Kamera gleich um den Hals, schichtete Smartphone und Geldbeutel in mein in der Fototasche verstautes Bauchtäschle um und staunte nicht schlecht, als sich die Ordnerin wenig für Kamera und die Fototasche interessierte, wohlaber über die Passgenauigkeit meiner Bekleidung.

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Kaum waren wir durch die Kontrollen durch, erreichten unzählige Busse den Gästebereich, elf Busse mit Ultras und dem vernehmen nach weitere zehn Busse mit anderen Fans und Fanclubs. Es wurde eng im Bereich hinter den Körperkontrollen, interessiert beobachtet von zahlreichen Fans, die bereits im Block waren und über den Hang auf alles hinunterblickten. Lange dauerte es nicht, bis erste Gesänge mangelnder Zuneigung in unser Ohr gelangten, darunter vor allem „Kallsruh, Kallsruh, wir scheißen euch zu“.

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Bühne frei fürs Derby!

Die Sonne hatte sich Platz verschafft und die Nebelsuppe abgelöst, es wurde etwas wärmer, als wollte uns Petrus höchstpersönlich bestes Wetter für einen perfekten Derbysieg bescheren. Einige Treppenstufen ging es nach oben und ich warf zum ersten Mal selbst einen Blick ins Wildparkstadion. Die Gastgeber hatten eine Choreo geplant, die für einigen Unmut sorgen sollte. Wüsste man nicht über die jahrzehntelange Abneigung gegeneinander, man könnte sich beinahe einen richtig entspannten Fußballnachmittag machen. Selten war man so weit davon entfernt wie heute.

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Auf wieviel Hass dem VfB gegenüber man sich einstellen sollte, war nicht erst durch die gegenseitige „Begrüßung“ der Ultras offensichtlich, es setzte sich nahtlos fort beim Aufwärmen unserer Mannschaft und beim Verlesen unserer Aufstellung. Einige Tage zuvor hatte ich noch darüber nachgedacht, einen offenen Brief zu verfassen, gerichtet ans komplette Team inklusive dem Trainerstab, auf dass sie alles dafür geben würden und sich dessen bewusst sind, dass diese Partie für die Fans eine weitaus höhere Bedeutung hat als ein normales Bundesligaspiel, geschweige denn das Pokalspiel in Gladbach am vergangenen Dienstag.

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Die Reihen füllten sich, was auch für das Sicherheitspersonal galt: nicht nur die Ordner standen im Innenraum parat, auch Einsatzkräfte der Polizei, die ihren Job lobenswerterweise gut gemacht haben. Die Sonne brannte mir auf die linke Gesichtshälfte, doch das war mir egal. So viele Tage, Wochen, Monate und Jahre wartete man auf die Neuauflage des Baden-Württemberg-Derbys, nun hatte das Warten ein Ende. Doch um ehrlich zu sein: hätte es diese Partie gar nicht erst gegeben, ich wäre nicht unbedingt traurig gewesen.

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Angespannte Augenblicke

Immer weiter stieg meine Anspannung, auch angesichts der brisanten Situation, die sich im Innenraum abspielte. Der KSC hatte eine Choreo auf seiner Gegengerade vorbereitet, die sich über die komplette Breite zog und bis an den Gästeblock heranreichte. Um den reibungslosen Ablauf zu garantieren, gab es zahlreiche Helfer. Viele. In Schwarz gekleidet. Teilweise kräftig und stabil. Als ob das ein Zufall wäre. Zwischen dem Innenraum und dem Gästeblock befand sich lediglich ein kleiner Zaun mit einigen wenigen Ordnern, die im Zweifel schnell beiseite geschafft sind.

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Natürlich provozierte man sich gegenseitig, aber dass es hier durchaus hätte knallen können, hatte der Sicherheitsdienst offenbar nicht auf dem Schirm. Die Choreo der Karlsruher zeigte die KSC-Ultras, die eine kleine Gruppe Weiß-Rot (allen voran das Commando Cannstatt) wegscheuchen (oder sollte es bedeuten, dass man sie jagt?), dazu mit den Worten „Wir auf den Rängen und ihr auf dem Rasen – das Schlachtfeld heute als Sieger verlassen“. Währenddessen vernebelte es uns bisweilen die Sicht, zum Anpfiff rauchte es aus dem Gästeblock in der Farbe rot.

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Alles war angerichtet für ein standesgemäßes Derby, dass am Ende der 90 Minuten hoffentlich der VfB für sich entschieden haben sollte. So gerne ich hier den Sieg erleben würde, hier zu verlieren, wäre dafür um einiges schlimmer als manch anderes Spiel. Der Ball rollte schon, als der rote Nebel abgezogen war und eine lang erwartete Partie hatte begonnen. 90 Minuten Zeit, das beste daraus zu machen und jenen, die viel durchmachen mussten, den Sieg zu bescheren.

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Einstudiert zum frühen Führungstor

Lange fackelten sie nicht, das muss man dem VfB erfreulicherweise lassen. In den letzten Spielen sind zahlreiche frühe Tore gefallen, wenngleich es in Karlsruhe länger dauerte als gegen Fürth. Im Grunde war es simpel und die ganze Wucht dieser einstudierten Variante ließ uns schon nach zehn Minuten früh jubeln. Ein Freistoß vom ehemaligen Karlsruher Berkay Özcan, ein Rückpass von Carlos Mané und in der Mitte ein freistehender Takuma Asano. So einfach. So genial. So toll. Mehr davon, viel mehr!

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Eigentlich dachte ich, ich hätte aus den letzten Jahren gelernt und würde mich bei so frühen Toren nicht mehr freuen als nötig – es misslang mir in diesem Moment genauso wenig wie das halten auf den eigenen Beinen. Ich rutschte weg, kam unglücklich auf der unteren Stufe auf und versuchte, den Schmerz im Torjubel wegzuschreien, während ich alle um mich herum herzte und umarmte. Hier im Gästeblock war ohnehin schon der Teufel los, was wäre gewesen, wenn David Kinsombi wenige Sekunden später nicht mehr mit dem Fuß drangekommen wäre und Carlos Mané das 2:0 gemacht hätte?

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Es war ein spannendes, intensives und rassiges Spiel, begleitet von leidenschaftlichen Fans auf beiden Seiten. Das Fehlen eines Dachs ist im Stadion immer nachteilig, doch man versuchte, das beste draus zu machen und schrie sie nach vorn, so laut man nur konnte. Vielleicht war es am Ende auch ein bisschen Glück, dass der KSC nicht schon früh zum Ausgleich kam, doch nun, über 30 Stunden später, lässt sich ja leicht sagen, wie harmlos und teilweise unbeholfen der Gastgeber agierte.

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Was für ein rassiger Auftakt

Dass ausgerechnet Toni Sunjic auch dem 2:0 für den VfB recht nahe war, ist selbstredend an Absurdität kaum zu überbieten. Im einen Moment fragt man sich, warum er überhaupt spielt (neben Marcin Kaminski, dem Hannes Wolf mutigerweise zum Startelf-Debüt verhalf), im nächsten trifft er um ein Haar, mal wieder. Das sind diese amüsanten Geschichten des Fußballs, böse Zungen behaupten ja, wir werden unseren Kindern noch davon erzählen, wie wir 2017 mit und trotz Sunjic aufgestiegen waren. Ein netter und lustiger Kerl, ohne Frage, aber fußballerisch doch sehr limiert.

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Was für ein rassiges Spiel, in der ersten halben Stunde hielt es absolut, was es im Vorfeld versprochen hatte, auch der KSC kam nochmal zu einer guten Gelegenheit. Mir wurde immer wärmer, was zum einen an der Sonne lag, die mir ins Genick brannte, zum anderen an meiner Aufregung, den Ausgleich hinnehmen zu müssen und daraufhin Gefahr zu laufen, das Spiel doch noch zu verlieren – fast so, als sei in meinem Kopf jedes einzelne Spiel zum Verlieren verdammt. Wobei, ich bin VfB-Fan. Ich hab genug schlimme Dinge gesehen.

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Das Spiel verflachte, doch die Stimmung tat es nicht. Permanent sang der Gästeblock, gab Alles und lieferte sich permanente Provokationen und Beleidigungen mit dem Heimblock, genau wie es sein muss. Über alle Rivalität, die darüber hinaus geht, kann man geteilter Meinung sein, es kam jedoch nicht von ungefähr, dass so viele Polizeikräfte notwendig waren, um alles in einem einigermaßen kultivierten Rahmen zu halten, sofern man bei einem Derby tatsächlich davon sprechen kann.

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Vernebelter Torjubel

Letzte Woche sahen wir es erst bei den Münchnern, heute erlebte ich es wieder selbst, die Pyrotechnik im Gästeblock. Der Zaun war voll, das Zischen laut und die Sicht recht bald ein weiteres Mal getrübt. Über die komplette Breite des Gästeblocks erstreckten sich Bengalos, hinter ihnen wehte unablässig die Württemberg-Fahne, inmitten der Kulisse des Karlsruher Wildparkstadions – viele Leute schrieben mich persönlich an, wie unglaublich geil sie dieses Foto finden. Dabei war das Fotografieren selbst kein leichtes Unterfangen, denn keiner meiner Kollegen war heute vor Ort.

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Im Gegensatz zur ersten Halbzeit brauchte es etwas länger, bis sich hier die Rauchwolke wieder gelegt hat, in der man sich durch das Zünden von Pyro befand. Simon Terodde fand es aber anscheinend super. Gerade frisch eingewechselt für Toni Sunjic, 48 Sekunden auf dem Feld, zack, Tor. Bitte was? So schnell konnte man ja gar nicht reagieren, mancher war noch nicht einmal vom Getränke holen an seinen Platz zurückgekehrt, da stand es schon 2:0, euphorisch gefeiert vor dem Gästeblock. Entschuldigt die Wortwahl: Fuck yeah!

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Emiliano Insuas Zuckerflanke, der Kopfball Marke „Wuchtbrumme“ unseres Stürmers, ein weiteres Mal recht einfach einstudiert, ein weiteres Zeichen, dass die Automatismen langsam anfangen, ihre Wirkung zu entfalten. Ich kann kaum beschreiben, wie es sich angefühlt hat, inmitten dieser völlig entfesselten Meute zu stehen, die so laut schrie, als gäbe es kein Morgen, inmitten eines Stadions, das auf einmal verstummte, inmitten ins Karlsruhe, wo man große Pläne hatte, den VfB in die Schranken zu weisen. Ein sensationelles Gefühl.

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Freu dich nicht zu früh

Vielleicht haben wir uns aber alle ein wenig zu vorschnell gefreut, denn nur wenige Minuten später ertönte durch die Lautsprecherboxen die Tormelodie der Hausherren, von der ich hoffte, sie niemals in meinem Leben mit eigenen Ohren hören zu müssen. Vorangegangen war ein tatsächliches Handspiel von Emiliano Insua, unglücklich, aber genauso unstrittig. Für einen Moment dachte ich, Mitch Langerak würde ihn halten, es hätte perfekt in das Bild eines unantastbaren Derbysiegs gegen den Ungeliebtesten aller Gegner gepasst.

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Moritz Stoppelkamp verlud unseren Keeper und ließ den KSC wieder rankommen, sehr zum Leidwesen meines ganz persönlichen Nervenkostüms, dicht gefolgt von der ersten gelben Karte für den VfB. Ein vorbelasteter Kevin Großkreutz im Derby, der einzige der wirklich weiß, was das bedeutet und sich zu 1000% hineinkniet. Nachtigall, ick hör die trapsen, ich wollte mir nicht ausmalen, was geschehen könnte, wenn ein weiterer leidenschaftlich geführter Zweikampf im Platzverweis enden würde. Damit war er der nächste Auswechselkandidat, aber Hannes Wolf hatte andere Pläne.

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Plock! Uiiiiiiii! Mann oh Mann! Nur noch auf den Rängen entsprach das Spiel einem Derby, auf dem Spielfeld war es verflacht und zu einem mühseligen Kick zweiter Klasse geworden, da riss einen der platzierte Gewaltschuss von Christian Gentner geradezu aus der Lethargie. Karlsruhes Kapitän und Torwart Dirk Orlishausen war mit den Fingern noch dran und lenkte das Leder noch an die Latte, das Geräuch vom Auftreffen auf dem Querbalken war so laut, dass man es trotz der umgebenen Laufbahn noch gut genug hören konnte.

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Bange Minuten

Meine Anspannung stieg, denn auch der VfB schien ein weiteres Mal nachzulassen. Oder ging es mir etwa nur so, weil ich live dabei war und um jeden Preis den Derbysieg mit nach Hause nehmen wollte? Später würden diverse Medien und neutrale Beobachter sagen, letztendlich sei der Sieg für den VfB absolut verdient und in dieser Höhe gerechtfertigt gewesen, nur kam mir das bei der zwischenzeitlich knappen Führung und dem verlangsamten Spielfluss keinesfalls so vor.

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Ein einziger Ball durch die wackelige Nahtstelle würde den Gastgebern im Zweifel ausreichen, und käme der KSC hier zum Ausgleich, ich wollte nicht wissen, was noch möglich wäre. Statt noch lauter mitzusingen, wurde mir schlecht und ich rang nach Luft, doch schien ich komischerweise die einzige zu sein, die sich davor fürchtete, es würde doch noch schief gehen. Für den emsigen Takuma Asano brachte Hannes Wolf schließlich in der 77. Minute Alexandru Maxim, der schon in der ersten Halbzeit nicht auf der Bank sitzen konnte sondern stand, als wollte er andeuten: „lasst mich das endgültig erledigen“.

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Immer wieder ging mein Blick zur Anzeigetafel links neben dem Gästeblock, die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Knapp zehn Minuten noch, jetzt rafft euch doch und macht das 3:1, bevor es zu spät ist. Das waren meine Gedanken, doch da liefen sie schon. Kevin Großkreutz erkämpfte den Ball zurück und machte den Weg frei für Simon Terodde, der weiter auf den herangerauschten Emiliano Insua. Drei Minuten stand Alexandru Maxim da auf dem Platz, lief auf rechts mit und hob beinahe zaghaft seinen rechten Arm.

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Von der Bank mitten ins Glück

Immer wieder wehte die Württemberg-Fahne vor meinem Gesicht und versperrte mir alle paar Sekunden eine versperrte Sicht aufs Tor der Gastgeber. Gerade sah ich noch, wie er seinen Arm gehoben hatte, doch bevor ich den Hals recken konnte, um sehen zu können, was da vor sich geht, sah ich, wie der Ball in die Maschen einschlug. Unzweifelhaft einer der Momente, die sich in meine Erinnerung hineinbrennen werden wie einst das Tor von Daniel Ginczek in Paderborn. Oh. Mein. Gott. Luft. Hilfe. Jaaaaaaaaaaa. Ich kann nicht mehr.

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Und so gab ich mich dem kollektiven Geschrei hin. Alle sprangen wild um mich herum, ich stieß mit meinem Rücken gegen den Wellenbrecher hinter mir, knickte ein weiteres Mal mit dem Fuß um, doch war es mir egal. Jemanden zu erzählen, wie sich das 3:1 zehn Minuten vor Schluss angefühlt hatte, ist nicht leicht. Es jenen zu erzählen, die diesen Moment mit mir zusammen erlebt haben, allerdings schon.

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Felix hat die Chance verpasst, diesem emotionalen Augenblick beizuwohnen, wenngleich ich seine Beweggründe gut nachvollziehen kann. Es hätte ihm bestimmt gefallen, wie der endgültige Siegtorschütze zusammen mit Simon Terodde und Kevin Großkreutz vor dem Gästeblock feierte, der voller Extase jegliche Contenance verloren hatte. Alles hatten wir für diesen Moment gegeben, so viel gehofft und diese Belohnung war um einiges schöner und süßer als manch anderer Augenblick der Freude.

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„Always look on the bright side of life“

Man musste sich nicht weit aus dem Fenster lehnen um sagen zu können, dass dies der Deckel gewesen ist, der unseren Derbysieg sicherstellen sollte. Für mich begannen nun die einzigen entspannten Momente dieses Tages, ohne Angst, die Partie noch zu verlieren, mit dem nun sicheren Derbysieg vergaß ich für einen Moment sogar, dass uns die wohl größte Hürde noch bevorstand: unbeschadet wieder zum Auto zu kommen. Davon wollte ich in diesen süßen Augenblicken nicht das Geringste wissen, strahlte über das ganze Gesicht und sang mit über 3.000 anderen: „Always look on the bright side of life“. Momente fürs Leben.

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Die letzten zehn Minuten voller Freude und Entspannung gingen viel schneller vorüber als mir lieb war, zu gerne hätte ich es noch länger ausgekostet. Nach zwei Minuten Nachspielzeit und weiteren Schmähgesängen in Richtung KSC-Block pfiff Sascha Stegemann ab, einige Karlsruher Spieler knickten auf dem Feld ein, während sich die Weiß-Roten sowohl auf dem Rasen als auch auf den Rängen freudig abklatschten. Immer wieder schallte es laut: „Derbysieger Derbysieger, hey hey“.

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Es war vollbracht. Den Applaus der Fans haben sie sich nun redlich verdient, etwas ähnliches wird ihnen auch Christian Gentner gesagt haben, als er sie noch auf dem Spielfeld ein letztes Mal zum Mannschaftskreis gebeten hatte, eher sie flotten Schrittes zum Gästeblock eilten, wo sie bereits vollkommen ausgelassen empfangen wurden. Es waren nur drei Punkte, doch sie waren bedeutsamer, das wusste die Mannschaft auch. Beinahe war es so, als wäre dieser Sieg nur uns gewidmet. Das ist total romantisch, naiv und irrational. Aber das ist die Liebe ja bisweilen auch.

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Für einen Moment entspannt

Eine Blocksperre ließ uns noch lange Zeit verweilen, doch genossen wir es, plauderten angeregt mit jenen, denen wir im Trubel vielleicht noch gar nicht begegnet waren, ließen die Nachmittagssonne auf uns herabscheinen – und, natürlich, provozierte man die Karlsruher immer weiter, als seien sie mit der Niederlage im Derby vor eigener Kulisse nicht schon gestraft genug gewesen. Ich will sie nicht in Schutz nehmen, doch erinnere ich an die Momente, als es uns selbst so ergangen war.

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Draußen vor den Eingängen wurde mir erst richtig klar, wieviele Busse zu diesem Spiel angereist waren, dicht an dicht geparkt auf dem Schotterplatz, zwischen ihnen tummelten sich unheimlich viele freudestrahlende Menschen, Jung und Alt, zumeist mit einem Kolben in der Hand. Zwischen ihnen lief auch Fanbetreuer Christian Schmidt umher, klatschte jeden ab und umarmte sie mit den Worten „Na, du Derbysieger/in?!“. Geselliges Beisammensein, unbehelligt von den KSC-Fans, die wohl schnell das Weite gesucht hatten.

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Wir stiegen in einen der Shuttlebusse ein und verließen das Wildparkstadion, vorbei an einigen geknickten blau-weißen Fans, ein paar pöbelten, ein paar zeigten uns obszön den Stinkefinger, die meisten blickten aber einfach nur frustriert drein. Nicht ausgeschlossen, dass sich einige Karlsruher auf diesen Blog verirrt haben und sich diese Zeilen in voller Länge durchgelesen haben. Bei aller sportlichen Rivalität, ich würde lügen wenn ich behaupten würde, ich könnte mir nicht vorstellen, wie bitter das sein kann.

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Gelungener Abschluss eines erfolgreichen Tages

Nur noch eine Hürde war zu nehmen, nämlich vom Durlacher Bahnhof wieder unbeschadet zu einem unbeschadeten Auto zu kommen. Auch das gelang, wie viele andere Pläne an diesem insgesamt richtig schönen Tag auch. Mein Magen brummte und verlangte Energie für die Strapazen des Tages, das Rührei am frühen Morgen und die Butterbrezel im Shuttlebus waren längst verbraucht. Was nun? Warten, bis ich daheim bin? Den Laptop hatte ich nicht dabei, es war noch früh am Tage, warum also nicht essen gehen? Unser gemeinsamer Abend endete in einer italienischen Pizzeria in Waldbronn bei Ettlingen.

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Gegen acht Uhr abends setzten mich Gerd und Ingrid schließlich zuhause ab. Einen Schlüssel hatte ich nicht dabei, wie ich auch auf vieles andere bei dieser alles andere als gewöhnlichen Auswärtsfahrt verzichtet hatte. So klingelte ich, Felix meldete sich über die Gegensprechanlage mit „Ja?“ und so antwortete ich beinahe kichernd mit „Derbysieger, Derbysieger…“. Noch immer strahlte ich über beide Ohren, daran hat sich in den letzten 30 Stunden nicht viel geändert.

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Mit meinem letzten Absatz will ich Danke sagen. An alle, die diesen wunderbaren Augenblick mit mir geteilt haben. An die Mannschaft, die begriffen und bewiesen hat, wieviel uns Fans das bedeutet. An Hannes Wolf, der uns hoffen lässt, das doch alles gut wird. An die Polizei, die das ganze gut im Griff hatte. Gleichermaßen muss ich mich entschuldigen, für 26.076 Zeichen emotionalen Ergusses, ihr werdet es mir hoffentlich verzeihen. Viele Jahre habe ich von diesem Moment geträumt und schöner hätte es fast nicht werden können.

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