Wer sich für ein solches Leben entscheidet, hat für sich selbst bewusst oder unbewusst eine ganz klare Entscheidung getroffen: man lässt sich bis an sein Lebensende, darauf ein, dass einem der letzte Nerv geraubt wird, dass man sich aufregen wird und nur noch wenig Schlaf bekommen. All der Ärger scheint vergeben in den glücklichen Momenten, wenn der Schmerz vergessen wird, man über beide Ohren lacht, unheimlich glücklich ist und man ganz genau weiß, warum man sich so entschieden hat. Das hier ist keine Geschichte vom Abenteuer Familie, es ist eine Geschichte über das Leben als Fußballfan. Über den schmalen Grenzgang zwischen Freud und Leid und über jene Momente, die über jeden Zweifel erhaben sind.

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Wie leicht es doch mitunter fallen kann, jene Zeilen zu Papier zu bringen, mit einem Kaffee auf dem Tisch und einem Grinsen im Gesicht. In den letzten fünf Jahren habe ich bei fast allen Spielen ein oder zwei Tage später genau hier gesessen, im Arbeitszimmer unserer 3-Zimmer-Wohnung in Bad Cannstatt, den Bildschirm vor mir in zwei Teile aufgesplittet: links mit dem Browserfenster für Ticker, Videos und Statistiken, rechts ein leeres Blatt Papier. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich schon hier saß und keine Lust hatte, mich zutiefst ärgerte und hoffte, die Stunden mögen schnell vorüber sein – doch das waren sie nie. Heute, gut 44 Stunden später, sitze ich hier, um euch noch einmal mitzunehmen an den Punkt, dem jeden von euch die Gänsehaut auf den Arm treiben wird.

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Sehr lange hatte ich gehadert mit dem, was in Frankfurt passiert war. Die Stimmung für die nächsten Tage dahin – und das ausgerechnet vor der Länderspielpause und unserem Kurzurlaub auf Sylt. Am Tag nach der schmerzhaften Pein, in der Nachspielzeit in Unterzahl beim Lieblingsgegner noch die Niederlage schlucken zu müssen, schrieb ich mit meinem guten Freund Sven, ebenfalls Vollblut-VfBler. Ich tat mich schwer, damit umzugehen und schrieb, der Fußballgott sei ein grausames Arschloch. Ein verzweifelter Versuch, mich zu beruhigen, konnte ich es mir trotz allem nicht vorstellen: “Wenn der Fußballgott ein einsehen hat, dann fügen wir das in 2 Wochen Köln zu.” Als ob.

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So will es das Gesetz

Als ob der VfB zuhause gegen Köln gewinnen würde. Als ob der VfB nicht reichlich Gebrauch machen würde von seinem exzellenten Ruf als bester Aufbaugegner der Liga. Als ob dem VfB nicht bewusst wäre, dass man seit 21 Jahren nicht mehr gegen den FC im Neckarstadion dreifach punkten konnte. Doch war nicht ohnehin jede Statistik zum Teufel, als Frankfurt Sekunden vor dem Ende den Seitfallzieher ins Eck nagelte? Was sollten mich Statistiken kümmern, wenn sie bereits vor zwei Wochen nicht aufgehen konnten. Eine nicht ungefährliche Situation: Köln stand mit einem Punkt mit dem Rücken zur Wand, was käme dann geeigneter als der gute Samariter vom Dienst?

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Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, wie die Cannstatter Kurve nach dem Spiel feiern würde, jede Faser meines Körpers klammerte sich an das ungeschriebene Gesetz: der VfB gewinnt immer in Köln, der FC immer in Stuttgart. So ist das nunmal, sollte man meinen. Es wäre ja schließlich auch viel zu einfach gewesen, jedes Spiel als eine neue Chance zu sehen und darauf zu hoffen, dass mein Verein stets alles dafür tun wird, uns Fans zu belohnen. Die Fähigkeit, meiner Mannschaft zu vertrauen, wie auch immer diese im Detail aussieht, ist irgendwo zwischen peinlichen Europapokalauftritten und dem immerwährenden Abstiegskampf verloren gegangen. Das macht das Dasein als Allesfahrer aber nicht unbedingt leichter.

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Die Nerven hatten sich im Urlaub wieder beruhigt, doch jene gewisse Angespanntheit, nicht zu wissen was passiert und gleichzeitig doch zu wissen, was passieren wird, war wieder da, als ich mich des Morgens auf den Weg ins Büro machte. Für diesen Tag hatte ich meine Stadionausrüstung dabei, kein bisschen mehr. Kamera, Trikot, Schal, Bauchtäschle und mein Mittagessen, kaum mehr war es gewesen. So gut wie ausverkauft sollte es sein, meldete der VfB und ein Teil von mir fragte sich noch immer: „Kennen die alle die Statistik nicht?“ Für mich war die Sachlage ganz klar. Und obwohl ich mich schon oft geirrt habe, konnte mich nichts davon überzeugen, dass es am Abend gut gehen würde. Der VfB würde verlieren, so wie immer. Das war Chadrac Akolo allerdings völlig egal.

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Das Neckarstadion als Festung

An dieser Stelle würde ich vermutlich wieder schreiben, welch ungutes Gefühl mich beschlich, als ich wie bei jedem Heimspiel unter der Woche aus der S-Bahn stieg und über den hinteren Wasen-Ausgang an der Feuerwache entlang zum Stadion lief. Doch wann hatte ich dieses Gefühl mal nicht? Ich erinnere mich nur an ein Spiel, bei dem ich mir nicht ganz sicher war, der VfB würde es verlieren (für mich die höchste Form des Optimismus) – das war vor zwei Wochen in Frankfurt. Nicht nur um diese Partie kreisten meine Gedanken, sondern auch darum, welche Gegner uns in den nächsten Wochen erst noch bevorstehen und wie dringend nötig wir die Punkte an diesem Freitagabend hätten.

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Die eigentliche Krux bei der Sache: bei Freitagsspielen ist die Wahrscheinlichkeit eines komplett miesen Wochenendes unwahrscheinlich hoch. Da würde auch dieses Mal keine Ausnahme sein. Sieben Punkte hatte der VfB bislang gesammelt, der FC lediglich einen einzigen, zudem hat noch niemand im Kalenderjahr 2017 drei Punkte aus dem Neckarstadion mitnehmen können. Perfekte Voraussetzungen also für eine weitere Blamage, denn dafür war man in Bad Cannstatt schon immer gut genug. Am Boden liegende Mannschaften wiederaufzurichten war so etwas wie eine Spezialität, und genau das machte mir zur Statistik des Grauens zusätzlich Sorgen.

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„Lass es schnell vorbei sein“ dachte ich, als ich an meinem Platz angekommen war und mich umschaute. Viele waren noch nicht da, aber es war ja schließlich auch noch fast eine Stunde Zeit. Viele Kölner hatten sich auf den Weg gemacht, der Gästeblock war bereits voll, und auch der Rest des Stadions sollten nach VfB-Angaben mehr als ordentlich besetzt sein. Langsam wurden die Reihen voller und es entstand auch in der Kurve das übliche dichte Gedränge. Und so wie das Fußballgesetz besagt, dass daheim nicht gegen Köln gewonnen werden kann, so ist ebenfalls Gesetz, dass kurz vor Anpfiff große Menschen in den Block kommen und stets vor meiner Kamera stehen bleiben.

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Mein komisches Bauchgefühl und ich

Es konnte losgehen mit dem Spiel, dessen Ausgang für mich allerdings keine Frage von Qualität oder Glück war: „Bestimmt verlieren mit 0:1 durch ein Eigentor oder einen unberechtigten Elfmeter in der Nachspielzeit“ – wie dicht ich kurze Zeit dran war und mich letztlich doch komplett irren sollte, konnte sich womöglich nicht einmal ein Drehbuchautor besser ausdenken. Unseren heutigen Gästen eilte der Ruf voraus, bei weitem nicht so schlecht zu sein wie ihre Punkteausbeute, so erinnern sie einen fast schon an den VfB, wie er 2015 furios offensiv in die Saison gestartet ist, dabei aber die Punkte nie mitnehmen konnte und am Ende der Spielzeit die bittere Strafe dafür zahlen musste.

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Vom Glück verfolgt war der FC in dieser Saison bislang nicht, ohne jede Häme, ohne jeden Spott. Dass nur die Chancenverwertung so katastrophal abgeht, bewiesen die Gäste auch in den ersten Minuten der Partie und nötigten mir schon bald ein „Ich hab da ein ganz mieses Gefühl“ ab, dass ich meiner Freundin Jasi zuwarf, die auch heute neben mir gestanden war. Sie spielten nicht wie der abgeschlagene Tabellenletzte, denn mehr als die Hoffnung, beim Lieblingsgegner zu punkten, konnte den FC vielleicht nicht antreiben. Wenn gar nichts geht, dann zumindest beim VfB – oder etwa nicht?

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Chancen hier, Chancen da, Langeweile im Freitagabendspiel gab es hier zumindest nicht, und auch wenn die bisherigen Saisonwerte beider Gegner eine andere Sprache gesprochen hatte, sich ein 0:0 vorzustellen wäre beinahe schon absurd gewesen. Gute Stimmung in der Cannstatter Kurve, keine Selbstverständlichkeit nach einem für die allermeisten harten Arbeitstag, doch dieses beklemmende Gefühl einer weiteren Heimpleite gegen die Kölner, ich konnte es spüren. Nicht ganz zu Unrecht, wie man nach gut einer halben Stunden resümieren musste, denn das die Kölner hier noch nicht führten, grenzte fast schon ein Wunder – wenn man so will, die wundersame Harmlosigkeit der Gäste vor dem Tor.

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Noch mehr Verletzte!

Kaum eine Viertelstunde war vorüber, da knickte Marcin Kaminski mit dem Fuß um und blieb von mir aus gesehen hinter der Bande liegen. Nicht gut. Sofort kam das Zeichen vom Mannschaftsarzt Dr. Striegel, die berühmte Geste mit den Fingern, dass es nicht mehr weitergeht und der Spieler ausgewechselt werden muss. Wunderbar, noch mehr Verletzte. Dabei ist unser Bedarf für diese Hinrunde schon mehr als gedeckt. Für Emiliano Insua, ohne Zweifel heiß wie Frittenfett, kam ein Einsatz dennoch zu früh, das Risiko wollte man noch nicht eingehen. Andreas Beck kam ins Spiel und würde ganz am Ende des Spiels noch eine entscheidende Rollen spielen, das wussten die 58.716 Zuschauer im damit nicht ganz ausverkauften Neckarstadion allerdings noch nicht.

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Fast kam es einem so vor, als ließe der VfB die Domstädter machen, eine gefährliche Situation, wenn man nicht weiß, wie sehr man bei den am Boden liegenden Gästen ungeahnte Kräfte freisetzen kann, zumal unsere eigene Chancenverwertung nicht minder zu wünschen übrig lässt. Es wird noch eine große Aufgabe für Hannes Wolf, die Mannschaft von der Lethargie in der ersten Halbzeit zu befreien, ohne jeden Zweifel. Erst nach einer guten halben Stunde, nachdem man nach Torschüssen bereits 3:10 zurückgelegen hatte, wachten unsere Spieler auf. Guten Morgen, Jungs, seid ihr dann auch mal anwesend?

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Das muss doch das 1:0 sein?! Zwei Mal fehlte Anastasios Donis nicht viel zur Führung, auch Holger Badstuber und Josip Brekalo hatten die Führung auf dem Fuß. Ein paar wenige Minuten waren noch zu spielen im ersten Durchgang, die Kölner in unserer Hälfte, es wäre symbolisch gewesen, wenn sie nach insgesamt vier vergebenen Chancen innerhalb von vier Minuten getroffen hätten. Gerade war noch der Kölner Salih Özcan – weder verwandt noch verschwägert mit unserem Berkay Özcan – am Ball, doch verlor er ihn an Simon Terodde.

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Ein Tor des Willens

Ich habe nicht einmal richtig gesehen, was genau passiert ist, dafür stehe ich in der Kurve viel zu weit unten und kann auch Abseitspositionen und Entfernungen aus derart spitzem Winkel kaum oder auch gar nicht beurteilen, ich weiß nur noch, wie laut ich aufgeschrien hatte. Ich sah nur, wie einer unserer Spieler nach längerem Zweikampf im vollen Lauf zu Fall kam, der erste Gedanke ist da „Foul!“ oder mehr noch, „Elfmeter!“, so weit wie Anastasios Donis schon nach vorne gelaufen war. Tausende taten es mir gleich, aber abgepfiffen war die Situation nicht. Den Finger presste ich fest auf den Auslöser meiner Kamera und erst spät realisierte ich, was ich in drei einzelnen Bildern auf die Speicherkarte gebannt hatte.

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Keine Ahnung, wie er das gemacht hatte. Er hätte sich fallen lassen können, aber das wollte er nicht. Er wollte dieses Tor mehr als die kleine Chance, durch einen Elfmeterpfiff näher dranzukommen, wie man so schön sagt, ein Tor des Willens. Durch die Beine vom starken Timo Horn hindurch, sah ich im Sucher meiner Kamera, wie der Ball vor der Untertürkheimer Kurve das Netz ausbeulte. Wie ging das denn? Doch das war mir egal, gegen Köln führt man zuhause auch nicht alle Tage.

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Lange Zeit sah es im ersten Durchgang eher so aus, als würden die Gäste den ersten Treffer markieren, und dann macht der A. Donis einfach so eine Kiste. Puh, wie aufregend! Langeweilig ist anders, und noch wusste wir ja nicht, wie knüppeldick es für alle Fans noch werden würde, ganz egal welches Trikot sie in diesem Moment auch getragen haben. So ganz wollte ich dem Braten dennoch nicht trauen, schließlich ist es der VfB, der hier gegen seinen Angstgegner spielt. Es würde viel Arbeit und viel Glück brauchen, diese drei Punkte ins Ziel zu bringen, und wie viel von alledem notwendig war, um tatsächlich als Sieger das Spielfeld zu lassen, wird allen noch lang im Gedächtnis hängen bleiben.

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Aus dem Nichts zum Ausgleich

Das unruhige Gefühl war geblieben, die Gegenwehr des FC allerdings nicht, viel bekamen sie nicht mehr zustande, der VfB schien dem zweiten Tor näher zu sein als Köln dem Ausgleich. Immer wieder probierten es unsere Jungs, allen voran der immer fleißige Anastasios Donis, der langsam aber sicher vom Sorgenkind zur Wunderwaffe avanciert, wenn er nur noch etwas umsichtiger für die gesamte Situation wird. Das zweite Tor musste fallen, um nicht durch einen dummen Konter den Ausgleich und infolge dessen vielleicht sogar noch schlimmeres hinnehmen zu müssen.

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Gerade eben hatte ich den Gedanken in meinem Kopf formuliert, da fiel vor der Untertürkheimer Kurve das erste Gegentor zuhause in der laufenden Saison. Viel konnte Ron-Robert Zieler nicht machen, als Dominique Heintz aus dem nichts heraus ins Netz schlenzte. Du liebe Zeit. Da war es wieder, das miese Gefühl, etwas Schlimmes würde passieren. Als tausende Kölner im Gästeblock und in den benachbarten Blöcken auf der Untertürkheimer Kurve und Gegentribüne aufsprangen, bildete sich in meinem Kopf ein ganz grausiger Gedanke.

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Was wäre, wenn dieser Ausgleich der Kölner den Knoten hat platzen lassen? Was, wenn jetzt der mittlerweile in Köln spielende Pizarro trifft, wie er es in seiner Karriere schon immer gern gegen den VfB gemacht hat? Ich wollte das nicht. Ich wollte hier weg. Doch noch waren mehr als zehn Minuten übrig, die Wende noch herbeizuführen, sowohl für die einen als auch die anderen. Mit dem Wissen, dass es im Grunde zu wenig sei, hätte ich mich sogar mit dem einen Punkt arrangieren können, so wie ich mich in Frankfurt mit einem Remis halbwegs zufrieden gegeben hätte. Alles besser, als das Spiel zu verlieren, nicht wahr? Mit aller Kraft peitschte die Kurve die Mannschaft an, während mir mit jeder Sekunde das Herz tiefer in die Hose rutschte.

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Drama, Baby!

Je später die Minute, desto dramatischer würde die Entscheidung sein. Es war fast überstanden, in Kürze würde der Unparteiische an der Seitenlinie die Tafel hochhalten und anzeigen, dass es ein oder zwei Minuten Nachspielzeit geben würde. Der letzte Pfiff, den ich hören wollte, war der Schlusspfiff von Benjamin Cortus, der uns mit einem lachenden und einem weinenden Auge ins Wochenende entlassen würde, begleitet vom Gefühl, man sei noch ungeschlagen, aber dennoch wäre ein Remis zu wenig. Und Benjamin Cortus pfiff. Und zeigte auf den Elfmeterpunkt vor der Untertürkheimer Kurve.

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Es ist nicht leicht, zu erklären, was in dessen Folge in einem vorgegangen ist. Ein wirrer Mix aus entsetzter Schockstarre, beklemmender Frustration und der bitteren Erkenntnis, dass man es irgendwie hat kommen sehen. Elfmeter für Köln, ganz am Ende der offiziellen Spielzeit. Ich wage nicht zu beurteilen, was zwischen Dennis Aogo und Sehrou Guirassy vorgefallen ist, dafür war ich nervlich schon viel zu viel durch. Tosender Jubel bei den Gästen, bange Blicke bei uns. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Doch es dauerte, bis sich die Gäste den Ball zurechtlegen konnten und unhaltbar zum späten 1:2 einschießen konnten.

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Benjamin Cortus hielt den Finger ans Ohr und lauschte, nicht der Vielzahl an Spielern beider Mannschaften, die auf ihn zugestürmt war, sondern dem Unparteiischen Harm Osmers, der in Köln in einem dunklen Raum vor zahlreichen Bildschirmen saß. Videobeweis. Bitte, lass ihn ein einziges Mal zu unserem Gunsten sein, nur ein einziges Mal. Ein weiterer Pfiff, ein Fingerzeig, Jubel in unseren Reihen, Freistoß für den VfB. Oder doch nicht? Er rannte zur Mittellinie an die Bande, wo ein Bildschirm aufgestellt war. Gefühlte Ewigkeiten, ein emotionales Tohuwabohu, zwischen Bangen, Hoffen und Beten.

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Banges Warten

Da stand er nun an der Bande, mit dem Rücken zum Spielfeld, schaute lange auf den Bildschirm und lief schließlich zurück zum Strafraum. Das wars, er würde für Elfmeter entscheiden, warum hätte er sonst so zielstrebig zurücklaufen sollen? Gerade noch jubelten wir, weil wir dachten, er gäbe ihn nicht und nun war der Unparteiische drauf und dran, die Entscheidung zugunsten der Kölner vom Punkt zu geben. Erneute Diskussionen, aber keine eindeutige Gestik. Was war hier nur los? Knapp zwei Tage sind vergangen, da ich diese Zeilen schreibe, und ich fühle noch diese innerliche Zerrissenheit, dieses Gedankenchaos, das rasende Herz. Wie benommen stand ich im Block 33 und musste ausharren, bis eine Entscheidung gefallen war. Gute vier Minuten würde es oben drauf geben.

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Immer lauter schallten die Pfiffe durchs Stadion und das nächste, was ich erwartet hatte, war ein abermals jubelnder Gästeblock und die Machtlosigkeit, sich dieser Entscheidung fügen zu müssen. Es kommt nicht von irgendwoher, dass es heißt, der Videobeweis töte jegliche Emotion, denn genau das erlebten wir hier innerhalb dieser fünf Minuten, zwischen Freud und Leid waren alle Emotionen dabei. Benjamin Cortus hatte entschieden, er nahm sich den Ball. Elfmeter? Oder doch nicht? Freistoß wegen Stürmerfoul? Ja was denn nun?

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Von allen Möglichkeiten die es gab, begleitet von einer epischen Bandbreite aller möglichen Emotionen, entschied sich Benjamin Cortus für das kleinste Übel. Schiedsrichterball – wenngleich er genauso gut auch auf Abstoß für Ron-Robert Zieler hätte entscheiden können, so direkt wie er ihm den Ball vor die Füße hat fallen lassen. Das hälst du doch im Kopf nicht aus, in einem lauten Schrei entlud sich jegliche Anspannung in der Cannstatter Kurve und dem Rest des Stadions. Es hätte ins Bild einer grauenvollen Statistik gepasst, es wäre nicht der erste unberechtigte Elfmeter gewesen, mit dem die Kölner ihr Auswärtsspiel in Stuttgart gewonnen hätten.

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Momente des Glücks

Jetzt pfeif halt ab, damit wir unsere Emotionen wieder herunterfahren können. Nun war ich wirklich bereit, den einen Punkt mitzunehmen, wäre es ohne den Videobeweis schließlich gar keiner gewesen, und machen wir uns nichts vor, unser Keeper ist wahrlich kein Elfmeterkiller. Noch waren die vier Minuten Nachspielzeit aber nicht um, ein paar wenige Minuten musste der VfB schon noch überstehen. Bald war es geschafft und viele machten sich trotz der hellen Aufregung um den aberkannten Elfmeter bereits auf den Heimweg. Sie haben nicht mehr gesehen, wie Andreas Beck vor der Gegentribüne einen Einwurf im spitzen Winkel ausführte, direkt vor die Füße seines Kollegen Chadrac Akolo.

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Zwei Kölner ließ der nach einer Stunde eingewechselte Kongolese stehen und sofort ging der Geräuschpegel in der Kurve wieder nach oben, dieses unbeschreibliche Gefühl, wenn alle hoffen, das Tor würde jeden Moment fallen. Keiner von den Kölnern kam auf die Idee, den Ball wegzubolzen, so ließ unsere Nummer 19 auch den dritten und gar den vierten stehen, und wo er schon so weit gekommen war, warum nicht ein letztes Mal das Glück versuchen? Viel gesehen habe ich davon nicht, denn mit den ersten beiden überspielten FC-Spielern sprangen die Leute links vor mir auf die Mauer und versperrten die Sicht auf das Tor vor der Cannstatter Kurve.

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Gleich würde es „Ohhhhhh!“ machen und meine Weggefährten aus der Kurve die Hände über den Kopf schlagen, kurze Zeit später würde der Schlusspfiff ertönen. Dachte ich jedenfalls. Ich dachte an vieles, nur nicht an das, was tatsächlich kam. Ich konnte nichts sehen, außer den bangen Blicken in der Kurve. Ich konnte nur hinhören, was auf dem Feld passiert war. Es war mir egal, wie es passiert ist, warum es passiert ist, ich weiß nur noch, wie sich in einem gigantischen Jubelschrei alle Leidenschaft entlud und alles in der Kurve wild durcheinander purzelte. Zur Hölle mit der Contenance, zum Teufel mit der Selbstbeherrschung, was hier passierte, konnte man einfach nicht fassen.

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Alle auf Akolo

Sofort war ich heiser geworden, der laute Aufschrei war zuviel für meinen von einer Erkältung geschwächten Körper, doch das war mir egal. Chadrac Akolo hatte es tatsächlich geschafft, wenngleich auch viel Glück dabei war. Tim Handwerker hatte den Ball noch leicht abgefälscht und Timo Horn auf dem falschen Fuß erwischt, der unter normalen Umständen locker an den Ball gekommen wäre. In gefühlter Zeitlupe trudelte der Ball ins Tor und ließ die Kurve explodiert. Jemandem, der mit Fußball nicht viel zu tun hat, zu erklären, wie sich das angefühlt hatte, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein.

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Vor der Eckfahne kam der Torschütze zu Fall und wurde von all seinen Mitspielern inklusive Fritzle begraben, lediglich Ron-Robert Zieler blieb im Tor stehen und blieb beim Jubel mit dem Knie im Rasen hängen und rollte genauso umher, wie der kleine Santiago Ascacibar es tat, im kläglichen Versuch, sich auf die Jubeltraube draufzuschmeißen. Unfassbare Emotionen, die sich hier abspielten, auf dem Rasen und in unseren Herzen. Dass ich in dem Moment keinen Nerv dafür hatte, anständige Fotos zu machen, sei mir nach Möglichkeit bitte verziehen. Felix meinte, er sei ganz ruhig gewesen, während alle um ihn herum durchgedreht sind. Ich war eine davon.

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Und es war noch immer nicht vorbei. Wie knapp wir dem erneuten Ausgleich tatsächlich entkommen sind, realisierten viele erst später. Im Jubeleifer hatte so mancher gar nicht mehr mitbekommen, dass wir uns bei unserem Keeper bedanken können, dass es nicht doch noch zum Kölner Jubel kam. Ein langer Ball auf Sehrou Guirassy, ein Volleyschuss aus ganz kurzer Distanz, und wenn Ron-Robert Zieler nicht auf exzellente Weise seinen Fuß hingehalten hätte, wäre alle Emotion umsonst gewesen. Kurze Zeit später kam er dann nach einer gefühlten Ewigkeit: der eine Pfiff von Benjamin Cortus, den ich vor all dem Herzrasen nur zu gerne wollte, der Schlusspfiff.

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Des einen Freud, des anderen Leid

Timo Baumgartl sank mit in die Luft gestreckten Armen nahe der Mittellinie zu Boden, der Rest lief in Richtung des Keepers, der uns die drei Punkte festgehalten hatte. Fassungslos stand ich nun da und konnte nicht glauben, was sich hier vor unseren Augen in den letzten fünf, sechs Minuten abgespielt hatte. Elfmeterpfiff, Videobeweisbeweis, Schiedsrichterball, Last-Minute-Siegtreffer und eine Glanzparade, das hält man doch im Kopf nicht aus! Ich fühlte mich entkräftet und völlig euphorisiert zur gleichen Zeit, welch seltsames Empfinden zu fortgeschrittener Stunde. Laut jubelnd empfingen wir die Mannschaft vor der Kurve, ein komischer Mix aus Laola und 1893-Hüpfen, doch es passte ins Bild einer dramatischen Schlussphase.

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Schnell leerte sich der Block, nicht jeder hat das Privileg, nach nur 20 Minuten Fußweg bereits daheim zu sein, es mussten Züge erreicht und volle Parkplätze verlassen werden, auch Felix verabschiedete sich vorzeitig, er musste am Samstag schaffen gehen. Um mich herum sah ich in den Gesichtern meiner Weggefährten genau das, was ich selbst empfand: eine absurde Mischung aller möglichen Emotionen, ungläubige Blicke, breites Lachen und das Zeichen der vollkommenen Erschöpfung. Deswegen spreche ich stets beim VfB von „WIR haben gespielt / gewonnen / verlorenen“, denn an solchen Tagen kämpft, jubelt und feiert man gemeinsam, fraglich also, für wen die Partie anstrengender war.

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Das hatte mein Kumpel Sven also gemeint, als er vor gut zwei Wochen meinte, der Fußballgott würde schon dafür sorgen, dass wir das, was wir in Frankfurt erleben mussten, auf umgekehrte Weise erleben würden, und er sollte Recht behalten – ganz im Gegensatz zu mir. Der erste Bundesligaheimsieg gegen den FC seit 21 Jahren. Wieder einmal blieben wir, bis die meisten das Stadion bereits verlassen hatten. Eine Sekunden stand ich oben auf der ersten Stufe der Treppe, schaute aufs weitgehend leere Neckarstadion und lauschte verträumt den Klängen von David Bowie. We could be heroes, just for one day.

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