183 Tage waren vergangen, seit die laufende Bundesliga-Saison begonnen hatte. 736 Tage waren vergangen, seit der VfB sein letztes Auswärtsspiel in der Bundesliga gewonnen hatte. 2140 Tage waren vergangen, seit der VfB zum letzten Mal in Augsburg gewonnen hatte. Acht Bundesliga-Auswärtsspiele habe ich diese Saison bereits gesehen, bei den beiden Punktgewinnen in Hannover und Wolfsburg war ich nicht vor Ort. Viele von euch können sich vielleicht nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. 6.730 Auswärts-Kilometer 2017/2018, die Pokalspiele noch nicht einmal mit eingerechnet, stets geprägt von Frust, Enttäuschung und Wut.

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Ich will ehrlich sein: ich freue mich über die drei Punkte, die gute Stimmung in der Fuggerstadt und vor allem, dass ich das Stigma der Auswärts-Punktlosigkeit endlich los bin. Ist deswegen alles wieder in Ordnung? Mitnichten. In dem Moment, als ich im Gästeblock stand und nach einer gefühlten Ewigkeit die Partie und die Sieglosserie in der Ferne für den VfB für beendet erklärt wurde, fühlte sich gut an. Ein lauter Aufschrei der Erleichterung, ist doch immerhin jede einzelne Punkt wichtig. Einige Tage sind nun seither vergangen und das Gefühl der emotionalen Erschütterung ist zurückgekehrt. Leichter schreibt es sich damit natürlich nicht. Dafür allerdings wesentlich kürzer.

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Es heißt immer wieder, eine vollständige Abnabelung vom Herzensverein sei nicht möglich. Wer über Jahre den VfB mit so viel Inbrunst begleitet hat, dem fällt es natürlich schwer, einen Weg zu finden, die Missetaten und Erlebnisse der letzten Wochen, ja gar Monate, mit Gelassenheit zu sehen. Es gibt Menschen, die sind der Typ dafür, die können klar differenzieren, zwischen sportlichen Ergebnissen und komplexer Vereinspolitik, können im Stadion stehen und sich unmittelbar danach den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zuwenden. Und es gibt Menschen, die können das alles nicht. Und ich? Ich hänge irgendwo dazwischen, verloren zwischen “Mir doch egal” und “Gar nicht egal”.

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Zu Gast in der Fuggerstadt

Es gibt Personalien in diesem Verein, die machen es einfach, Abstand zu gewinnen. Sie polarisieren, werfen mit unsensiblen Phrasen und plumpen Provokationen um sich und bringen jene, die Abstand gewinnen wollten, immer wieder in eine prekäre Situation: nämlich die, in der man sich doch wieder mit dem jüngstigen Interview in der lokalen Gazette beschäftigt, sich aufregt und am Ende genauso weit ist wie vorher. Wer auch immer ein Allheilmittel hat, die richtige Balance zwischen Leidenschaft und geschafftem Leiden zu finden, ich hänge gebannt an seinen – oder ihren – Lippen.

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Ich hatte mich schon damit abgefunden, zwei Wochen nach dem letzten willentlich verpassten Auswärtsspiel ein weiteres Mal zuhause zu bleiben. Der Wetterbericht nahm uns die Entscheidung letztlich ab, freie Fahrt, kein Niederschlag, und trotzdem keine so rechte Lust. Zwei Kaffee zum Mitnehmen vom Bäcker an der Ecke, und schon waren Felix und ich unterwegs. Nicht wissend, was da auf uns zukommen. Nicht wissend, ob der Schnee, der jenseits der Autobahn liegen geblieben war. Nicht wissend, ob es sich am Ende lohnen würde.

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Wolfsburg und Gladbach waren keine Gradmesser in ihrer aktuellen Form – der FC Augsburg und Eintracht Frankfurt am kommenden Samstag allerdings schon eher. Beim Tabellensiebten zu Gast, bei dem der VfB fast sechs Jahre in Folge sieglos blieb. An dieser Stelle würde ich normalerweise schreiben, dass es diese Saison schon dankbarere Aufgaben gab, dann erinnere mich daran, wie diese Spielzeit bisher verlaufen ist, ringe mir ein gequältes Seufzen ab und widme mich wieder den Zeilen, von denen ich zuletzt häufiger wünschte, sie nicht schreiben zu “müssen”.

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Was mache ich eigentlich hier?

An der gleichen Stelle wie immer geparkt. An der gleichen Stelle durch ein weiteres Tor zum Gästeeingang gelaufen. An der gleichen Stelle im Block gestanden wie sonst auch immer in den vergangenen Jahren, gemeinsam mit meinem langjährigen Kumpel Nico aus der Nähe meiner alten Heimat. Da standen wir nun, plan- und ratlos, bis vor uns eine riesige Fahne zum Vorschein kam. “Weg hier, sonst sehen wir nichts” meinte ich noch, und so wechselten wir den Platz. Von dort sahen wir besser, aber wie ich die Anzeigetafel mit ihrer gefühlt einfach nicht runterlaufenden Restwartezeit bis zum Anpfiff beobachtet hatte, so fragte ich mich gleichermaßen, was ich hier eigentlich machte. Dieses “Kürzer treten” war es jedenfalls nicht so richtig.

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Tayfun Korkuts drittes Spiel indes sollte nicht sein letztes sein, das haben viele seiner Vorgänger nicht von sich behaupten können. Freute man sich noch in der Hinrunde, Augsburg würde nach dem 0:0 im Hinspiel und den bisherigen Heimsiegen der Saison nicht wieder zur Trainerentlassung beim VfB führen, sehen wir uns kein halbes Jahr später mit anderen Begebenheiten konfrontiert. Hannes Wolf ist Geschichte, genauso wie das Vertrauen in die Vereinsführung, über sämtliche persönliche Befindlichkeiten hinweg das Beste für den Verein zu tun. Aus der Idee, sich über einen heilsamen Abstieg neu zu definieren und in erfolgreichere Zeiten aufzubrechen, wurde Stagnation in vielerlei Hinsicht.

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Dass wir seit dem Trainerwechsel nunmehr sieben Punkte geholt haben, ist mir bewusst – doch ist der Effekt erst abgeflaut, offenbart sich das wahre Wesen des Vereins. Störrisch, launisch und lustlos. Das gilt selbstverständlich nicht für jeden. Die meisten tun im Rahmen ihres Möglichen ihr Bestes, so wie der Trainer auch, der sich einer denkbar schweren Aufgabe gestellt hat. Dass all das meist nicht genug ist, haben wir an den Geschehnissen erlebt, die erst zum Trainerwechsel geführt haben. Manche sehen darin die positive Wende, dass nun alles gut wird und – wie mein Kumpel Sven sagte – die komischsten Deckel auf die komischsten Töpfe passen. Zu diesen Menschen gehöre ich aber nicht.

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Ein kleines bisschen Frieden

Viel Positives gibt es vom VfB in diesen Tagen nicht zu vermelden, trotz der zwischenzeitlich gesammelten Punkte. Doch zu den unzweifelhaft angenehmen Entwicklungen gehört, dass sich einer, den viele belächelt hatten, in den Vordergrund gedrängt hat. Erik Thommy, ein Name, den die wenigsten davor schon einmal gehört hatten. Was in Wolfsburg noch wie ein Zufallsprodukt aussah, wurde im Heimspiel gegen Gladbach etwas greifbarer. Mit dem Weggang von Simon Terodde und der Rückkehr von Mario Gomez behob der VfB nämlich das eigentliche Offensivproblem nicht: es mangelte nicht am Vollstrecker, sondern an dem, der ihn füttern soll. Erik Thommy ist so einer, oder zumindest auf bestem Wege, einer zu werden.

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Brauchbare Ecken. Brauchbare Freistöße. Brauchbare Flanken. Der letzte, den wir mit solchen Eigenschaften zuletzt in Stuttgart hatten, konnte dies jedoch nie über längere Zeit unter Beweis stellen. Erik Thommy wollte den nächsten Entwicklungsschritt machen und wurde dafür von vielen seines Ex-Vereins nur müde belächelt – es war der FC Augsburg. Wie gemalt für eine weitere “Ausgerechnet”-Geschichte, nicht wahr? Die weit höhere Gefahr an diesem kalten Sonntagnachmittag war, dass eine solche Geschichte eher Rani Khedira schreiben würde.

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Eine knappe halbe Stunde war bereits vorbei, da machte sich unser junger Neuzugang bereit für einen Freistoß. Dicht gestaffelt stand die Mauer, zu dicht, um einen direkten Weg ins Tor zu finden. Und weil das meist gut klappt, hielt ich die Kamera drauf, verharrte in meiner Handhaltung und schaute über der Kamera hinweg in Richtung Spielfeld. Immer wieder tippte ich den Auslöser, klack, klack, klack, klack, klack, auch dann noch, als um mich herum alles bereits geschrien hatte. Tor. Einfach so. Dass es Mario Gomez war, der in meinem Beisein das erste Mal selbst getroffen hatte, war mir dabei interessanterweise egal, keine Spur mehr von dem versteinerten Ich, das noch gegen die Hertha wie angewurzelt im Block gestanden war.

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Noch nicht durch

Dicht herangezoomt auf die andere Seite des Spielfelds dokumentierte ich noch den Torjubel, bevor ich meinem Kumpel Nico um den Hals fiel. Unmittelbar danach widmete ich mich erneut meiner Kamera und lächelte vergnügt, denn aus dem anhaltenden Betätigen des Auslösers wurde letztlich ein kleines Daumenkino des einzigen Tores im Spiel. Dass um mich herum bereits lange vor Anpfiff laute Lieder gesungen, fleißig mitgehüpft und geklatscht wurde, hatte ich in dieser Form schon seit einer Weile nicht mehr erlebt. Beste Stimmung, so sorgenfrei, losgelöst und leidenschaftlich, als wäre bei unserem Herzensverein alles in bester Ordnung.

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Für einen Moment vergaßen wir all die Sorgen und den Frust, über Wolfgang Dietrich, Michael Reschke, und all den anderen Baustellen. Wir genossen es – und das war spürbar. Wieviel die Mannschaft in solchen Spielen tatsächlich davon mitbekommt, wissen wir nicht, aber in jenem Moment war es auch egal. Wir wollten nur die drei Punkte, wohlbehalten wieder nach Hause und uns bestenfalls in einigen Wochen nicht mehr als Bald-Absteiger sehen müssen. Eine Vorstellung, die zehn Minuten später in weite Ferne rückte. Der Ausgleich durch Michael Gregoritsch dämpfte die Laune, der kurze Zeit später folgende Videobeweis ließ es beim 0:1 bleiben. Es sollte nicht der einzige Videobeweis in dieser Halbzeit bleiben.

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Über manche Strecken kam ich mir teilweise vor wie beim Pokalspiel in Mainz, als Christian Gentner das Führungstor schoss, daraus aber keinen Profit schlug und letztlich sang- und klanglos unterging. Wirklich schöne Erinnerungen an Augsburg hatte ich nicht, bis auf mein erstes Mal in der Fuggerstadt, gleichbedeutend mit dem letzten Auswärtssieg. Keine Erinnerung an Augsburg währte besonders lang, das konnte ich von deren Stadionhymne leider nie behaupten. Falls jemand einen Ohrwurm braucht, ich hätte da einen abzugeben. Wieder mal.

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Wie einst in Wien

Augsburg fiel überraschend wenig ein. Das Dumme nur: der VfB konnte daraus keinen Profit schlagen. Er hätte den Sack früher zumachen müssen, stattdessen folterte er die tausenden mitgereisten Fans (wieviele es waren, ist aufgrund der breiten Verteilung auf die umliegenden Tribünen schwer zu beurteilen) ein weiteres Mal auf grausamste Art und Weise. Immer diese Angst, den Ausgleich und Schlimmeres noch zu kassieren. Immer dieser verstohlene Blick auf die Uhr. Immer dieses Aufspringen und Hoffen bei jeder Torchance. Bislang machte das der VfB überraschend gut, aber ob das am Ende reicht, steht auf einem anderen Blatt.

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Ich war zurück im Jahr 2008. Zurückversetzt ins Ernst-Happel-Stadion bei heißen Temperaturen in der wunderschönen Stadt Wien. Damals war er mein absolutes Idol gewesen, der Mann, der nicht unschuldig daran war, dass ich beim VfB hängen geblieben bin, auch als es ihn längst weitergezogen hatte. Als Mario Gomez am 16. Juni 2008 aus kürzester Distanz den Ball nicht im Tor unterbrachte, begann für ihn ein lange nicht enden wollender Spießrutenlauf als Chancentod der Nationalmannschaft. Und glaubt mir, das war live vor Ort nicht halb so witzig, wie es einem in dem Moment vielleicht vorkam. Mehr als neun einhalb Jahre später hatte er das 2:0 für den VfB auf dem Fuß – und schoss direkt auf Marwin Hitz. Das “Neiiiin” im Gästeblock habe ich noch Tage später in meinem Kopf.

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So sehr ich mir vor dem Spiel auch einzureden versuchte, das Spiel gelassen anzugehen und im Falle einer weiteren Auswärtsenttäuschung nicht zu viel Frust zuzulassen, so gelang es mir offenbar nicht, dafür war die Stimmung in unseren Reihen zu mitreißend. Bis zum Ende alles gegeben, bis zum Ende gehofft, gebangt und gefleht, vollkommen unabhängig davon, dass wir es derzeit mit einer inkompetenten Vereinsführung zu tun haben. Vier Minuten Nachspielzeit, die nicht enden wollten, die bereits sogar überschritten wurden, alles hatte endlich ein Ende. Jubel im Gästeblock, ein kurzer Applaus für die Mannschaft und ein paar mitreißende Worte des Vorschreiers. Das hier haben wir heute gemeinsam gewonnen.

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Neuer Zündstoff

Ein letzter Blick auf den leeren Gästeblock, meist das letzte Bild eines Fußballspiels, das mir zu Gesicht kommt. Wann immer es die Zeit erlaubt, verlassen wir als letzte den Block, wenn die meisten schon zu den Bussen und Zügen entschwunden sind. Die Stunden im Gästeblock gingen mir näher, als ich in diesem einsamen Moment zugeben wollte. Ich werde noch lernen müssen, reine spielerische Ergebnisse von anderen Nebenkriegsschauplätzen abzukoppeln, zumindest während eines Spieles, wenn das einzig wichtige doch sein sollte, die Mannschaft zu unterstützen, auch wenn diese uns zur Weißglut bringt.

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Ob ich dem nachkommen kann und bis zum vielleicht auch bitteren Ende zum Wohle der Mannschaft meine Enttäuschung zurückstelle, weiß ich nicht. Vermutlich nicht, denn dafür ist zu viel zerbrochen. Eine entspannte Rückreise stand uns bevor, wenn auch ganz bewusst ohne Laptop, ohne sofortiges Bilderbearbeiten, ohne Krampf und ohne das imaginäre Gefühl einer ehrenvollen Verpflichtung. Es hatte gut getan, wie ich zweifelsfrei zugeben muss. Längst ist noch nicht alles in Butter beim VfB, der Weg ist noch lang und wird von manchen Leuten so lange nicht mitgegangen, wie Wolfgang Dietrich und Michael Reschke in dem Verein etwas zu sagen haben. Gerade letzterer hätte gut daran getan, sich für einige Zeit von Journalisten fernzuhalten, den Mund nicht aufzumachen und damit weiteren Zündstoff zu liefern.

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Für ein paar Tage war ein kleines bisschen Ruhe eingekehrt, bis gestern ein weiteres Interview mit unserem Sportdirektor zu lesen war. Er rief die Kritiker dazu auf, sich zu beruhigen und berief sich darauf, wie besonnen der VfB die Trainerentscheidung getroffen hatte. Frei von jedem Gefühl für Takt und Timing schürte man somit erneute Unruhe. Dass es nun sogar welche gibt, die offen sagen, die letzten Ergebnisse würden die Entlassung von Hannes Wolf rechtfertigen, der wird sich womöglich bald umschauen. Vor nicht allzu langer Zeit war dies einem Trainer beim VfB auch gelungen, fünf Siege in Folge, heraus aus dem Abstiegskampf. Sein Name: Jürgen Kramny. Sein Verdienst: Der Abstieg 2016.

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