Es hätte auch anders laufen können. Die Gäste aus meiner alten Heimat hätten in der Nachspielzeit noch das Siegtor machen können. Mario Gomez hätte per Kopf zum womöglich entscheidenden 1:0 treffen können. Wir hätten auf den achten Platz vorrutschen können. Es hätte Elfmeter für den VfB geben können. Ich hätte aber auch stattdessen ein langeweiliges Leben in Leipzig führen können. Wären da nicht die Momente und Entscheidungen gewesen, die mich genau an diesen Punkt gebracht haben. Viel ist passiert seit ich vor fast zwölf Jahren begann, mich für Fußball zu interessieren. So viele Leute, die seitdem mein Leben begleitet haben und noch begleiten. Und dann gibt es noch die Freundschaften, die während schon viel länger als all das.

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In den letzten Tagen wurde ich oft gefragt, ob ich das Spiel irgendwie komisch finden würde. Abgesehen davon, dass ich wusste, dass meine neue Heimat gegen meine alte Heimat antreten würde, fand ich es weit weniger befremdlich als das Hinspiel. Als ich im Leipziger Zentralstadion stand, zu welchem ich mit einer altbekannten Straßenbahn von meiner damaligen Stammhaltestelle angereist war, fand ich es durchaus komisch – ich wusste, dass viele von denen hier sein würden, mit denen ich in den Kindergarten, die Schule und zur Ausbildung gegangen war. 24 Jahre lang war Leipzig meine Heimat – ich zog weg, nach Stuttgart, da war das wahnwitzige Marketingprodukt eines millionenschweren Getränkeherstellers gerade erst am Reißbrett entworfen worden.

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Kein Spiel wie jedes andere, weder für mich noch für die anderen VfB-Fans, die an diesem wohl temperierten Sonntagnachmittag den Weg ins altehrwürdige Neckarstadion gefunden hatten. Hier wurde schon Fußballgeschichte geschrieben, lange bevor ich geboren wurde, bevor ich wusste, was der Fußball für eine Bedeutung in meinem Leben erlangen würde. Als ich meine erste Dauerkarte gekauft hatte und es auf mich nahm, alle zwei Wochen die 500 Kilometer hierherzukommen, wurde RB aus dem Boden gestampft. Rasenballsport. Welch kreative und gleichermaßen lächerliche Idee, um nicht “Red Bull” sagen zu müssen. Dies ist die Geschichte eines hart umkämpften Remis, einer jahrelangen Freundschaft – und natürlich von Tradition, Stolz und Leidenschaft.

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Mehr als erwartet

Ende Januar war der VfB für mich de facto abgestiegen – nicht, weil er sportlich in der Tabelle so dastand, dass er es nicht mehr hätte schaffen können, sondern viel mehr, weil alle Hoffnungen auf eine positive Zukunft von dannen war und ich mir allenfalls für die Vereinsführung den Abstieg vielleicht sogar gewünscht hatte. Einige Wochen später ist die Wut und das Unverständnis für die Vereinsführung zwar immernoch da, doch die sportliche Situation hat sich merklich entspannt. Manch einen lässt dies glauben, man sei aus dem Gröbsten heraus, manch andere – respektive: ich – trauen dem Braten immernoch nicht. Erst, wenn selbst der Relegationsplatz rechnerisch nicht mehr möglich ist, werde ich mich zurücklehnen.

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Je eher wir die Punkte haben, desto besser. Man sollte meinen, mir wär der eine Punkt gegen RB nicht gut genug. So ganz richtig ist das allerdings nicht. Es gab durchaus schon Spiele, da war mir ein Punkt nicht gut genug, da gehört dieses aber nicht dazu. Viel hatte nich gefehlt, damit der VfB das vielleicht entscheidende eine Tor erzielt hätte – dass es genauso gut ein ähnlich trostloses, chancenloses und emotionsloses Spiel wie beispielsweise das gegen Leverkusen hätte sein können, wird einem erst dann bewusst, wenn man sich die Highlights des Spiels noch einmal vor Augen führt.

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Manchmal muss man es wahrscheinlich einfach gut sein lassen und in diesem Moment zufrieden sein, mit dem, was man hat. Nach nun bereits sechs Spielen nach der Entlassung von Hannes Wolf holte der VfB einschließlich Sonntag 14 Punkte. 14 Punkte mehr, als ich persönlich Tayfun Korkut zugetraut hatte. Dass ich damit nicht alleine bin, kann ich mir denken, so dürfte es doch den meisten ergangen sein, die dem Coach zwar alles gute wünschen, die Schuld für das ewige Chaos berechtigterweise bei der Vereinsführung suchen. Dass wir heute sportlich in einer Lage sind, in der der lang gehegte Wunsch eines entspannten Saisonendspurts womöglich sogar wahr werden könnte, hätte ich vor sieben Wochen nicht für möglich gehalten.

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Im Zeichen der Tradition

Vielleicht ist das alles mehr, als ich wollte. Ich sah mich an dem Punkt, entspannter mit all dem umzugehen, dass ich an keiner der Fehlentscheidungen der Vereinsführung und an keiner Niederlage etwas ändern kann. Beinahe schon teilnahmslos ließ ich die ersten Partien nach dem Trainerwechsel über mich ergehen und es war nur eine Frage der Zeit, bis der VfB wieder das Gesicht zeigen würde, das alle in ihm gesehen hatten. Doch seitdem hatte der VfB nicht mehr verloren. Sind es nur Zufälle? Sind es die minimalen Änderungen von Tayfun Korkut? Ist ein neuer Ruck, der durch die Mannschaft ging? Fragen, auf die es kaum eine einheitliche Erklärung gibt. Für mich stellt sich nur die eine Frage: bleibt uns das gleiche Schicksal wie vor zwei Jahren erspart?

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Das erste angenehm warme Stadionwetter des Jahres, die dicke Winterjacke blieb zuhause, während sich die Cannstatter Luft auf gut 15 Grad erwärmte. Die ersten kurzärmligen Shirts, die ersten um die Hüfte gebundenen Pullis, und im Falle von Felix: die ersten kurzen Hosen. Wunderbares Kaiserwetter, jetzt musste nur noch der VfB punkten, nachdem die Konkurrenz ein weiteres Mal Punkte gelassen hatte. Aber wie soll das gegen RB Leipzig funktionieren, gegen eine Mannschaft, die zwar die letzten paar Spiele einen Hänger hatte, aber ansonsten weit oben mitspielt? Was soll da der destruktive VfB dagegen ausrichten? Spoileralarm: er zeigte das, was er in den letzten Wochen am besten konnte, eine gnadenlose Zerstörungswut für das schöne Spiel des Gegners. Man hasst uns. Und es fühlt sich gut an.

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Mit einem Lächeln im Gesicht lief ich mit Felix den altbekannten Weg zum Neckarstadion und musste schmunzeln, wann immer ich sah, dass jemand dem Aufruf der aktiven Fanszene gefolgt war: alte Trikots, Schals, Mützen, Kutten, Fahnen, alles was schon um einiges älter ist als die Existenz des Marketingprodukts. Welch schöne Exemplare ich gesehen habe, Südmilch, Dinkelacker, Frottesana, prachtvolle Teile, die bereits seit Jahrzehnten in Familienbesitz sein mussten. Ein Genuss, ohne jede Frage – wenngleich doch ich diejenige bin, die sich eingestehen muss, erst spät zum VfB gekommen zu sein. Als andere Meisterschaften, Pokalsiege und berüchtigte Europapokalspiele erlebt haben, hatte ich noch ein anderes Leben gelebt, das mir diese frühkindlichen Erfahrungen niemals nachreichen wird. Fan seit 2007. Und doch gesegnet mit dem Glück eines leidenschaftlichen Umfelds.

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Eine stolze Kurve voller Geschichte

Vorbei an der Cannstatter Kurve, vorbei an der Haupttribüne, vorbei an der Untertürkheimer Kurve, bis hin zum PSV, wo ich mich mit Henriette verabredet hatte. Unsere Freundschaft währt nun schon seit gut 16 Jahren, dass Fußball für uns beide jemals Thema werden würde, wussten wir beiden unschuldigen Mädels damals natürlich noch nicht. Sie folgte wie viele andere auch dem verlockenden Ruf eines ambitionierten neu gegründeten Vereins, der sich aufmachte, das zu erreichen, woran Lok Leipzig und Chemie Leipzig seit Jahrzehnten gescheitert waren, die Fußballleidenschaft einer ganzen Stadt wachzuküssen, vorhandene Infrastrukturen zu nutzen und sich schließlich mit allen legalen und weniger legalen Mitteln den Weg nach oben freizuräumen.

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Dass dies nichts mit den Strukturen eines gewachsenenen Vereins zu tun hat und Konstrukte wie diese das Feindbild der deutschen Fankultur sind, interessiert die meisten dort allerdings nicht. Der Zweck heiligt die Mittel – man holte sich die Zuschauer ins Stadion, machte aus normalen Durchschnittsfamilien Stadiongänger und baute ein Jugendzentrum auf. Wäre da nicht das bittere Geschmäckle eines Investors, der mit aller Gewalt Erfolg haben will und die Stadt sofort fallen lassen würde, wenn sich anderswo eine bessere Option ergibt. Zufällig gewählt wurde der Standort nicht – aber er ist ebenso bedeutungslos wie ein austauschbares Operettenpublikum.

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Angekommen in der Cannstatter Kurve wurde schon bald das Ausmaß des geplanten Intros offensichtlich. Bündelweise und ohne Unterbrechung wurden die Fahnen in die Kurve gebracht, unzählige von ihnen zerrupft und deutlich vergilbt, zu Tage befördert aus längst vergangenen Zeiten. Das Einlaufen der Mannschaften sah ich nicht, zum Fahnenmeer gesellte sich ein großes Transparent, dessen große Lettern mir bekannt vorkamen – ein Blick nach oben zeigte, man hatte die Choreographie vom einstigen Heimspiel gegen Hoffenheim erneut verwendet. Eine Stolze Kurve voller Geschichte. Keine Botschaft war an diesem Tag so wichtig wie diese.

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Schwäbischer Catenaccio

Auf der Gegenseite standen uns gut 1.200 Leipziger Fans entgegen. Mehr waren es nicht, dabei ist die Entfernung der gut 500 Kilometer selbst an einem Sonntag Nachmittag gut zu bewerkstelligen. Gehört hatte man von ihnen übrigens nichts, nicht einmal dann, wenn die Kurve ganz leise war, um einen Moment Luft zu holen. Es war eine seltsame Stimmung, so eigenartig angespannt, es lag etwas in der Luft, von dem ich nicht sagen konnte, was es war. Vermutlich empfand ich es aber auch nur ganz persönlich so, schon alleine durch meine Vergangenheit und dass es mir vielleicht wichtiger als anderen gewesen wäre, das enttäuschende 0:1 aus dem Hinspiel wieder wettzumachen, ungeachtet unserer ganz eigenen Ambitionen im Abstiegskampf.

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Eine Niederlage an diesem sonnigen Sonntag konnten wir uns eigentlich nicht erlauben – doch war es genau das, was viele vor diesem Spiel erwartet hatten. Und dann wäre da ja noch die Sache mit dem Karma. Wäre es nicht wunderbar schmerzhaft, wenn Timo Werner 90 Minuten ausgepfiffen und beschimpft werden würde, nur um am Ende den entscheidenden Treffer zu machen? Martin Harnik hatte einst auch für Hannover getroffen, just nachdem Teile der Kurve “Du spielst scheiße, wie beim VfB” skandiert hatten. Karma is a bitch.

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Auch wenn die meisten Sportgazetten hinterher behaupten würden, der VfB habe nicht wirklich stattgefunden in diesem Spiel, so schaffte er es doch, den Gegner in allen Belangen dermaßen zu nerven, dass ihm der Zahn gezogen wurde. Eine neu entdeckte defensive Stabilität vermag uns am Ende vielleicht sogar die Klasse zu halten, vorausgesetzt, es entweichen über Ostern nicht erneut sämtliche Lebensgeister aus einer vermeintlich geretteten Mannschaft. Schwäbischer Catenaccio bis zum Erbrechen, ein schönes Spiel war es wahrlich nicht, für keinen der knapp 53.500 Zuschauer (erkrankte und boykottierende Dauerkartenbesitzer mit eingerechet). Was zählt, sind die Punkte. Nichts anderes.

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Am Ende bleibt ein bisschen Hoffnung

Viel hatte nicht gefehlt, auch wenn dies angesichts der statistischen Gesamtwerte beinahe untergeht. Mit etwas Glück, hätte der Ball den Weg ins Netz gefunden, nachdem Christian Gentner gerade noch so seinen Fuß hingehalten hatte. Was wäre da wohl hier losgewesen, wenn der VfB zuhause gegen Leipzig trifft? So knapp war man dran nach gut 25 Minuten, der Rest des Spiels bestand, so muss man wohl klar konstertieren, aus unansehnlichem Gebolze und jeder Menge Rudelbildung. So lange es 0:0 stand, wäre alles in Ordnung, ein Ergebnis, mit dem viele von Anfang an gut ausgekommen wären und die auch heute noch dazu stehen. Ein kleines bisschen Wehmut war allerdings auch dabei, wo es doch eigentlich einen Handelfmeter hätte geben müssen und sowohl Tobias Stieler als auch die Assistenten in Köln nichts gesehen hatten. Was dies für den weiteren Verlauf der Partie bedeutet hätte, werden wir leider nie erfahren.

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Es hätte dieser eine perfekte Augenblick sein können. Nach einem zähen Spielverlauf mit vielen Zweikämpfen und wenigen Torraumszenen wäre zehn Minuten vor Schluss beinahe alles eskaliert. Ich wollte diesen Moment mehr, als ich je zugeben könnte. Der verlorene Sohn in unseren Reihen, die alte Heimat gegenüber, ein paar wenige Zentimeter nach rechts hätten aus einer leidenschaftlichen Kurvenleistung ein verrücktes Tollhaus werden lassen. Es wäre einer dieser typischen Gomez-Tore gewesen, mit Gewalt, in genau dem Moment, wo man es am meisten braucht. Der Moment ging zu schnell für mich, ich hatte die Kamera noch nicht auf das Tor vor der Kurve ausgerichtet, sah auf der Gegentribüne die Menschen aber schon aufspringen. So knapp. So bitter. So verdammt schade.

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Heute hatte es nicht sollen sein. Gemessen an dem nicht gegebenen Elfmeter und den beiden Großchancen durch Christian Gentner und Mario Gomez beinahe schon ein Punktverlust, Platz acht wäre schon toll gewesen. Andere widerrum behaupten, dies hätte nur allen den Kopf verdreht. Vielleicht ein kleiner Dämpfer zur genau der richtigen Zeit, um sich voller Konzentration den nächsten drei schweren Spielen gegen die direkte Konkurrenz zu widmen. So bleibt am Ende das Gefühl, nicht so ganz unzufrieden zu sein mit dem Remis, am Ende zählen aber nur die nächsten Wochen. Freiburg, Hamburg und Bremen warten auf uns. Es braucht mehr als das Glück des Tüchtigen, es braucht harte Arbeit, unbedingte Konzentration und die Sensibilisierung dafür, was uns vor zwei Jahren das Genick gebrochen hatte. Nie wieder.

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