Offiziell bin ich 22 Jahre, 3 Monate, 1 Tag und ein paar Stunden alt – zumindest theoretisch. Nach dem Länderspiel am vergangenen Mittwoch gegen Finnland sind es gefühlt ein paar mehr geworden. Wie man an einem derart nervenaufreibenden Spiel fast kaputt gehen kann, habe ich grenzwertig schon beinahe in Basel beim Viertelfinale Deutschland gegen Portugal erleben müssen, die letzten 10 Minuten werde ich so schnell nicht wieder vergessen. Und so wurde auch dieses WM-Qualifikationsspiel zur Geduldsprobe für Jogi Löw und die Nerven von 82 Millionen Deutschen.

Dass Finnland nicht zu unterschätzen ist, wussten wir. Schon bei der Auslosung hieß es, Finnland sei ein unbequemer Gegner, gegen den man in der Vergangenheit nur schwierige Spiele hatte. Zusammen mit Russland bildet das frostige Land im Norden einen der schwierigsten Gruppengegner in der Qualifikation, nur der Erste kommt weiter – aber mal ehrlich, was ist denn eine WM ohne Deutschland? Ich denke, das sollte trotz allem machbar sein.

Wieder bei meinen Eltern auf dem Stammplatz hingepflanzt, diesmal ohne Glücksshirt oder Glückstrikot (soviel zum Thema Fußball-Aberglaube), plätscherte die Partie zunächst vor sich hin. Sie war zwar von Beginn an spannend mit betonten Zweikämpfen, doch wirklich zwingende Torchancen kamen auf beiden Seiten nur höchst selten zustande.

So ehrlich muss ich dann schon sein: das, was ich sah, gefiel mir nicht. Die Finnen hatten mehr Spielanteile, spielten besser und offensiver nach vorne – und genau das verwirrte nicht nur mich, sondern auch alle anderen Deutschen, allen voran Jogi Löw, Hansi Flick, Andi Köpke und Urs Siegenthaler (“Der Codeknacker”, analysiert seit einigen Jahren jeden Gegner der Nationalmannschaft und bespricht die Ergebnisse mit der Mannschaft, Anm. d. Red.) – keiner, aber wirklich KEINER konnte ahnen, das die Finnen offensiv ausgerichtet spielen würden, wo man sie doch als defensiv, zweikampfstark und unbequem kannte. Das nennt man dann wohl “pure Absicht”.

Als logische Konsequenz der nach vorne ausgerichteten Finnen fiel nach einer halben Stunde das erste Tor, da hat die Abwehr wieder geschlafen. Meine Wenigkeit wurde erneut zum “Unruheherd” – wie mich mein Vater während der Länderspiele sowieso immer nennt – und schlug die Hände zum ersten Mal am Abend über den Kopf zusammen. Ob das gut geht? Noch war eine ganze Stunde zu spielen, aber wie gesagt: das, was ich sah, gefiel mir nicht. Und Gegentore gefallen schonmal grundsätzlich nicht.

Noch wusste ich nicht, was mich in diesem Spiel noch erwarten sollte. Nur wenige Minuten, nachdem der Finne den Ball ins Tor von Robert Enke buchsierte, spielten sich auch mal auf der anderen Seite des Spielfeldes ereignisreiche Szenen ab – Der Weiß-Blaue Spieler, der unser derzeitiges Sorgenkind Miro Klose im Strafraum fest hält, brockte Finnland damit einen Elfmeter für Deutschland ein – so dachte ich jedenfalls. Aber denkste! Klose spielte den Ball noch irgendwie ab, wurde währenddessen am Trikot gezerrt und der darauf erfolgte Jubelschrei aus dem Gästeblock wurde nur noch von meinem lauten Ausruf der puren Erleichterung übertönt.

Ausgerechnet Miro Klose bringt den Ausgleich! Ausgerechnet der, der in den letzten Wochen und Monaten gar nichts mehr getroffen hatte, auch in der Liga nicht (was ihm eine noch traurigere Quote einbrachte als – und es bricht mir das Herz, das aussprechen zu müssen – Mario Gomez), er wurde zum Kapitän gemacht und versagte kläglich im Spiel gegen Liechtenstein und wurde zu Recht ausgewechselt. Vertrauen ist in so einer Situation schwierig, aber machbar, das hat uns Jogi Löw bewiesen, er stellte ihn wieder auf und prompt glich er den 0:1-Rückstand aus. Miro is back!

Danach passierte außer den üblichen starken Zweikämpfen und einigen verpassten Chancen auf beiden Seiten nicht viel und man näherte sich der Halbzeitpause, 3 Minuten vorm Abpfiff wollte keiner so recht glauben, das hier noch was passiert in der 1. Halbzeit. Und schon wieder: denkste! Erneut klingelte es im Kasten, nur wenige Minuten nach dem Ausgleich, und wieder war es Finnland, die in Führung gingen – das darf doch nicht wahr sein! Es gehört zu den schwersten Dingen, die man sich während und nach dem Spiel eingestehen muss: es war ein schönes Tor, von dem ich mir so oft gewünscht hätte, die deutsche Nationalmannschaft oder der VfB Stuttgart hätte es geschossen.

In einem Spiel wie diesem ist nichts unmöglich! So passte es ins Bild, das bei dieser irren Partie auch der erneute Ausgleich postwendend kam. Und es war nur zu ironisch, dennoch sehr euphorisierend, das es erneut Klose war, der uns die Schlinge um den Hals wieder etwas gelockert hat. Nach einem Eckball, aus denen in der Vergangenheit ohnehin zu wenige deutsche Tore in der Nationalmannschaft fielen, ließ der finnische Torwart den Ball nur nach vorne abklatschen, Klose war da und staubte ab, der pure Wahnsinn. Meinen Jubelschrei hat man vermutlich noch bis nach Leipzig-Lindenau gehört, aber wen interessiert das schon. Um es mit den Worten von Kommentator Bela Rethy zu sagen: “Hier ist Musik drin!”. Ein 2:2 nach 45 Minuten, 4 Tore innerhalb von nicht einmal 15 Minuten, was mag da noch in der 2. Halbzeit kommen? Man durfte gespannt sein.

So spannend, wie die 2. Hälfte der 1. Halbzeit war, so ging es auch in der 2. Halbzeit weiter. Wer 2 Gegentore gegen Finnland kassiert, sollte sich doch eigentlich mal Gedanken über die Abwehr machen, nicht wahr? Die Kabinenansprache von Jogi Löw war hoffentlich deftig. Aber auch wenn der Anschiss in der Kabine entsprechend war, so ließ sich die Abwehr anscheinend nicht davon beeindrucken: Wie kann man einen Finnen unbeobachtet und ungedeckt nach einer Ecke zum Kopfball kommen lassen, der damit das 3:2 für den Norden erzielt? Der gesamten Abwehrreihe hätte ich am liebsten eine Ohrfeige verpasst, jedem einzelnen, der sich “Abwehrspieler” nennen darf – aber wirklich jedem einzelnen, nach einander.

Man stelle sich meine Wenigkeit, ich wiederhole, den “Unruheherd” in Person, vor, wie ich in der 53. Minute entsetzt das Gesicht in die Hände vergrabe und beinahe regungslos in mich zusammensackte. Schnell besinnte ich mich aber wieder darauf: wer 2 Mal zurückkommen kann, kann es vielleicht auch ein 3. Mal?! Leider ließ der prompte Ausgleich wieder auf sich warten. Es passierte nichts, überhaupt nichts, außer den üblichen vergeigten Torchancen, welche mir etliche stöhnende Bemerkungen wie “Boaaaah”, “Neiiiiin”, “Maaaaan” und “Mein Gott!” entlockten.

Aus dem Unruheherd wurde mittlerweile ein nervliches Wrack, die Augen weit aufgerissen, der Puls rasend, die Schweißperlen auf der Stirn und die Atmung schnell und aufgeregt, als ginge es um Leben und Tod. Wer seine Leidenschaft für etwas geben kann, wo es “nur” um 2x 11 Männer und einen Ball geht, für den steht und fällt der Moment zwischen absoluter Begeisterung und markerschütterndem Entsetzen mit nur einem einzigen Tor.

Keine 10 Minuten waren mehr Zeit, um den wenn auch nicht vollends zufrieden stellenden, und doch so verdienten Punkt zu erkämpfen. Alles war wir brauchen, ist ein bisschen Glück und den Fußballgott auf unserer Seite. Die letzten paar Minuten habe ich schon kaum noch hinsehen können, es war selten noch schwerer, nicht wieder mit dem Nägelknabbern anzufangen, da musste ich allerdings trotzdem durch. Nur noch wenige Minuten, kommt schon Jungs, schenkt mir zumindest noch ein einziges Tor. Was ich dann zu sehen bekam, war schon fast zu viel für mein an diesem Abend ohnehin schon geschwächtes Herz.

Es gibt nichts Adrenalinförderndes als Gestocher im gegnerischen Strafraum, nichts Hoffnungsvolleres als Ping Pong vorm gegnerischen Tor, nichts Entsetzenderes als zusehen zu müssen, wie einer nach dem anderen den Ball nicht ins Tor bekommt. Sollte es hier enden, in dieser Nacht, sollte das Ergebnis wirklich bei 3:2 bleiben, wo wir doch alles erdenkliche getan haben, um zumindest noch ein winziges verdientes Pünktchen zurück mit nach Deutschland zu nehmen?

Auf der einen Seite war mein Kopf leer, fast starre Augen blickten in das 5 Jahre alte Fernsehgerät in der Wohnung meiner Eltern, als würden meine Augen geöffnet sein und doch nichts sehen können. Auf der anderen Seite baute ich eine unglaubliche Spannung auf, wie eine tickende Zeitbombe, die vor Freude explodiert, würde der ersehnte 3. Ausgleich doch noch fallen.

Der Ball ging von einem deutschen Spieler zum nächsten, nur um wieder nur den Torwart oder den Pfosten zu treffen, bis wie aus dem nichts Klose mit dem Bein ausholte und den Ball mit einer gefühlten Geschwindigkeit von 350 km/h unhaltbar ins Netz drosch. Selten ist ein Schrei der puren Freude und der wahnsinnigen Erleichterung aus mir herausgeplatzt. Nur noch vage erinnere ich mich, dass ich auf der Couch meiner Eltern herumgesprungen bin, geschrien habe wie ein Fan, dessen Mannschaft gerade Weltmeister geworden ist und danach erleichtert auf die Knie gefallen bin.

Nach wenigen Sekunden kroch es wieder nach oben, welch undankbares Gefühl, was mir eiskalt den Rücken herunterlief: Sekunde, das Spiel ist noch nicht zu Ende, es kann noch etwas passieren. Minuten zogen sich nahezu ewig hin, auch die 3 Minuten Nachspielzeit, die der 4. Offizielle (ja genau, der 4. Offizielle war einst derjenige, der Jogi Löw beim Spiel Deutschland gegen Österreich bei der EM 2008 auf die Tribüne schickte) angezeigt hatte.

Es wäre noch alles drin gewesen, beide Mannschaften drängten in den allerletzten Minuten auf Sieg. Wäre noch ein Tor gefallen, wäre der Sieg für beide Mannschaften verdient gewesen, für den Verlierer wäre es schade gewesen. Ein absolut irres Spiel hätte seine Krönung in der 90. Minute haben können, als Klose den Siegtreffer für Deutschland auf dem Fuß hatte, aber es hatte nicht sollen sein.

Pünktlich mit dem Abpfiff sank mein ausgelaugter Körper mit einem Satz nach hinten, vor Erleichterung, das wir einen Punkt gerettet haben. Und wer weiß, vielleicht war auch kleinen wenig Enttäuschung dabei, denn es hätte mehr drin sein können, wenn man a) seine vielen Torchancen auch nutzt und b) die Abwehr Linie und Struktur hat, eben alles, was nicht wie ein Hühnerhaufen aussieht. Ein derart spannendes Spiel habe ich wie gesagt zuletzt beim Viertelfinale gesehen, nur war die Nacht, die ich einst in Basel zum besten Spiel meines Lebens gekürt habe, weitaus klarer vom Spielverlauf, als der kalte Abend in Helsinki.

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Unterm Strich gibt es schönere Ergebnisse als ein 3:3. Wer hinten 3 Tore bekommt, sieht nicht gut aus. Wer vorne 3 Tore macht, sieht gut aus. Unterm Strich weiß ich jedoch ganz genau, wie ich für mich selbst dieses Spiel einordne: Tolle Moral. Fassen wir zusammen: wer 3 Mal nach einem Rückstand zurückkommt, der hat wirklich Moral und Nervenstärke. Ich allerdings muss mich in Nervenstärke noch üben. Das nächste Länderspiel gegen Russland wird sicherlich nicht einfacher und das baden-württembergische Derby zwischen meinem VfB Stuttgart und dem Karlsruher SC am nächsten Sonntag, bei dem ich live dabei bin, schonmal gar nicht.

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