In riesigen Lettern standen diese Worte über die komplette Cannstatter Kurve geschrieben. Kurz, prägnant und unmissverständlich. Es war das erste, das die Spieler erblickt hatten, als sie zum Aufwärmen das Stadion betraten. Viel Erde war verbrannt worden, als sich die Mannschaft vor einer Woche dazu entschlossen hatte, sowohl dem bisherigen Trainer Markus Weinzierl als auch den geschätzt 5.000 VfB-Fans in Augsburg die Leistung zu verweigern. Der Graben zwischen Mannschaft und Fans, der bereits vorher groß gewesen war, schien unüberwindbar auseinanderzuklaffen. Besondere Situationen erfordern mitunter besondere Reaktionen. An diesem Tag müsse sich das Team von Interimstrainer Nico Willig, der von der U19 hochberufen wurde, den Support der Kurve erst einmal verdienen.

Doch wie sollte das ganze funktionieren? Muss die Mannschaft erst Leistung bringen, um den Rückhalt der Kurve zu bekommen? Und kann die Mannschaft überhaupt erst Leistung bringen, wenn der Rückhalt der Kurve fehlt? Wir waren immer da, haben gesungen, geschrien und sind gehüpft, mit dem Ergebnis, dass wir bis vier Spieltage vor Schluss noch immer nicht absehen können, ob man den aktuellen Relegationsplatz halten kann oder es sogar noch einen Platz nach oben oder unten geht. Ob man das selektive Supporten nun gut fand oder nicht, in einem sind wir uns alle einig: es hat verdammt gut getan, aber wir wissen auch, dass dies nicht mehr als ein Hoffnungsschimmer war.

Mit meiner Garderobenauswahl griff ich am Samstag einmal komplett in die sanitäre Anlage. Ein am Vormittag gecheckter Wetterbericht sagte Regen bis etwa 16 Uhr voraus und es regnete tatsächlich nicht, als ich noch einmal aus dem Fenster sah, bevor ich das Haus verließ. Blöd: danach fing es noch einmal an, zu regnen. Noch blöder: ich hatte keine Regenjacke dabei sondern nur zwei Baumwollpullis übereinander. Am blödesten: es regnete immer stärker und hörte erst auf, als ich am Stadion war. Dort triefnass angekommen erfuhr ich von den Siegen von Schalke und Hannover. Der Tag schien bereits jetzt gelaufen zu sein.

Totenstille

Was ich von dem Spiel erwarten würde, war mir klar. Nichts erwarten, sondern eher davon ausgehen, dass die zuletzt strauchelnde Borussia aus Mönchengladbach einen Aufbaugegner dringend gebrauchen könnte. Und da schau her, da gibts ja immerhin den VfB Stuttgart. Ob ein neuer Trainer in wenigen Tagen wieder Leben in diese tote Mannschaft einzuhauchen vermochte, das durfte getrost bezweifelt werden. Beladen mit meiner Kamera, einem belegten Brot und etwas Paprika zum Abendessen im Stadion sowie der Zuversicht, die nasse Kälte würde sicher nicht komplett durchsickern und mir eine Erkältung verschaffen, machte ich mich auf den Weg zu meinem Platz. Dort sah ich es bereits hängen, das große Transparent, das an die Spieler gerichtet war. Wir konnten nur hoffen, dass es Wirkung zeigen würde.

Es war eine seltsame Situation. Der Ball rollte, der VfB lag noch nicht zurück und trotzdem schwieg die Kurve. Keine Fahnen, kein Singen, kein Klatschen, kein Hüpfen. Nur Stille. Dort, wo sonst immer der Boden vibriert und man sich die Seele aus dem Leib schreit, vernahm man nur ein Grundrauschen. Wer weiß, wie die Geschichte dieses Spiels hätte weitererzählt werden können, wenn Alassane Plea das 1:1-Duell mit Ron-Robert Zieler in der vierten Minute gewonnen hätte. Erst mit der Offensive kam auch langsam die Stimmung. Eine vergebene Torchance ließ die Kurve aufschreien, so laut wie man sie schon eine Weile nicht mehr gehört hatte, nur um kurze Zeit später wieder zu verstummen. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, das wäre nicht das seltsamste Spiel seit sehr langer Zeit gewesen.

Immer wieder ging mein Blick an die Seitenlinie, wo ich einen neuen VfB-Trainer sah. Die Geschwindigkeit, in der der VfB Trainer verschleißt, ist bemerkenswert. Nico Willig muss es nun richten, ein gewagtes Experiment, dass auch scheitern könnte. Wenn es klappt, sind wir alle froh und freuen uns über ein weiteres Jahr Bundesliga. Aber was kommt danach? In wenigen Jahren so viele Sportvorstände und Trainer zu verbrennen, und von dem ganzen Geld sprechen wir hier noch nicht einmal, lässt uns dem HSV den zweifelhaften Titel als Chaos-Club streitig machen. Es braucht Ruhe und Kontinuität, um langfristig wieder erfolgreich zu sein. Doch wie will man das schaffen, wenn man einmal im Jahr von vorne anfängt?

Zum 1:0 ins lange Eck

Einige Chancen hatten die Spieler durchaus im ersten Durchgang vor der Untertürkheimer Kurve, ein weiteres knackig scharfes Foto des Tormoments blieb mir aber verwehrt, so musste man es im zweiten Durchgang richten. Der Ball rollte und wieder schwieg die Kurve, so richtig überzeugend war der Auftritt des VfB immerhin noch nicht – wenngleich er schon viel besser war als in den letzten Wochen, was aber zugegebenermaßen nicht schwierig gewesen sein dürfte. Die größte Chance hatte nach Wiederanpfiff Anastasios Donis, der nur den Pfosten getroffen hatte. Das wusste die Kurve aber dann durchaus zu honorieren: “Auf gehts Stuttgart, schieß ein Tor”. Sagen wir mal so: vielleicht hatte es beflügelnden Charakter.

Ich konnte nur noch sehen, wie sich Anastias Donis im Kopfballduell gegen einen Gladbacher durchsetzte, bevor ein gigantischer Jubelschrei durchs Neckarstadion hallte und alle von den Sitzen geholt hatte. Ein anständiges Foto von der Szene? Keine Chance, zu verwackelt und danach hatte ich eher zu tun, meine Kamera vor den Massen an Bier, die über mich kamen, zu schützen. Ich sah erst später auf der Anzeigetafel, wie er jubelnd abdrehte und etwa beim Block 36 über die Bande sprang. Die Ordner, die zur Sicherung des Blocks eingeteilt waren, konnten aber auch nicht mehr viel machen, als vor Freude ein paar Fans über die Mauer sprangen und den Torschützen heftigst herzten. Die ganze Kurve lag sich in den Armen, der Rest des Stadions auch, von einem recht stillen Gästeblock abgesehen.

Für einen Moment fühlte es sich fast so an, als sei hier der Siegtreffer im entscheidenden Spiel in der Nachspielzeit gefallen. Dass es noch gut 45 Minuten zu überstehen galt, war die Krux an der ganzen Sache. Mit dem Führungstor hatte sich die Mannschaft unser Vertrauen und unseren Support zumindest in diesem Spiel zurückerkämpft, nach etwa einer Stunde gab es nun in der Kurve kein Halten mehr. Währenddessen wurde das Spiel mehr und mehr zur Nervenschlacht. Der zweite Treffer wollte einfach nicht fallen, dafür schnürte uns Gladbach zunehmend in unserer eigenen Hälfte ein, kaum Entlastung und die eine oder andere größere Chance für die Gäste.

Zehn Minuten Herzinfarkt

Die letzten zehn Minuten zogen sich wie eine Ewigkeit. Irgendwie das 1:0 ins Ziel bringen, wenn man schon kein zweites Tor macht. Irgendwie die drei Punkte holen, die am Ende über Abstieg oder Relegation entscheiden können. Irgendwie. Jedes Anlaufen der Gäste, jeder Freistoß in aussichtsreicher Position, jeder verlorene Zweikampf, es war nicht zum aushalten. Vier Minuten Nachspielzeit. Gegen 20:22 Uhr zückte Bastian Dankert seine Pfeife und beendete die Nervenschlacht. Mein Jubel hielt sich ein wenig in Grenzen, eine Jubelfaust und eine feste Umarmung für meine Freundinnen Linda und Isabell mussten reichen, während Nico Willig an der Seitenlinie den Jürgen Klopp machte und Jens Grahl sich in schönster Fanboy-Manier auf alle draufwarf, die sich vor seinen 91 Kilo Kampfgewicht nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten.

Es war geschafft. Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Womöglich hatte der Sky-Kommentator recht, der VfB hätte beschlossen, auch an dieser Saison teilzunehmen. Dass es dafür immer das extremste Mittel des Trainerwechsels bedarf, will dennoch nicht in meinen Kopf hinein. Grundsätzlich können die alle kicken, manche besser als der andere. Warum bringen sie es dann nicht auf dem Platz, wenn es doch so immens wichtig ist? Warum muss erst der Trainer entlassen werden, damit die Jungs mal wieder anständig laufen? Für einen Moment sollte das heute zweitrangig sein, wir hatten gewonnen und das war alles, was zählte. Ob das am Ende reicht, werden wir sehen.

Petrus war den ganzen Tag über launisch und bescherte uns nicht nur vor und während dem Spiel Regen und Sonnenschein im Wechsel, auch nach dem Spiel prasselte der Regen auf uns herab. Um mich herum spürte ich Freude und Erleichterung, aber die Angst, dennoch noch direkt abzusteigen, konnte man noch niemandem nehmen. Das, und die Frage, wer denn Relegationsgegner sein könnte. Im Rennen sind Union Berlin, Paderborn (2015 lässt grüßen) und der HSV, der am Sonntagnachmittag auf den vierten Platz abgerutscht ist. Ob Hannes Wolf dann noch Trainer in Hamburg ist, darf bezweifelt werden. Aber nicht nur dessen wäre der HSV der so ziemlich unangenehmste Relegationsgegner von allen. Der VfB hat es in der eigenen Hand. Noch drei Mal so spielen wie gegen Gladbach, vielleicht reicht das schon.

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