Wer hätte vor einigen Wochen und Monaten denn ahnen können, dass ausgerechnet das Heimspiel gegen Bochum dazu beiträgt, dass sich der Wind in Stuttgart nun entscheidend gedreht hat. An diesem Abend zeigte sich die äußerst hässliche Fratze des Fan-Daseins. Und da es keine Stunden sind, an die ich gerne zurück erinnere, fasse ich mich kurz, denn mit diesem Spielbericht bin ich ohnehin schon spät dran.

Mit dem Rücken zur Wand, besser hätte man die Situation von Trainer Markus Babbel vor dem Spiel nicht beschreiben können – wieder kein Sieg, und es wäre nicht mehr tragbar gewesen, ihn als Trainer zu behalten. Sei die Rückrunde auch noch so fantastisch gewesen, wenn ein halbes Jahr später die Ergebnisse ausbleiben, ist auch der charismatischste und sympathischste Trainer nicht mehr zu halten, wenn von allen Seiten Druck ausgeübt wird.

Aus den letzten quälenden Wochen (Ausnahme: Glasgow) zog nun auch der Kern der Stuttgarter Fans seine Konsequenzen und gab am Tag vor dem Spiel in einer offiziellen Meldung bekannt, es würde seitens des Commando Cannstatt, der Stuttgarter Ultras, keine organisierte Stimmung geben, d.h. keine Vorsänger, und die allgemein an die Fans der 3xer Blöcke gerichtete Bitte, sich wenn möglich an dem Stimmungsboykott weitgehend zu beteiligen.

Schon vor dem Spiel war die Atmosphäre am Stadion eine eigenartige, keiner wusste so recht, was passieren würde. Ob dies als ein Zeichen gewertet werden würde, was die Fans setzen wollten um Mannschaft und Vorstand endlich aufzuwecken, blieb abzuwarten. Beim Anfahren des VfB-Busses ans Stadion wurde dieser kurzzeitig von einigen Stuttgarter Fans aufgehalten, die zum Kämpfen und Siegen aufforderten. Leider mischten sich darunter auch ein paar wenige Idioten, die ANGEBLICH (laut Ludovic Magnin) Tötungsgesten mit aufgeschlitzten Kehlen in Richtung der Spieler worfen – ob es stimmt, weiß ich nicht. Ich weiß ebenfalls nicht so ganz, wie ich diese Situation einschätzen sollte, ich habe nur später davon gehört und habe Fotos und Videos gesehen.

Wer nicht vom Stimmungsboykott gehört hatte, erlebte zum Spielbeginn eine herbe Überraschung, als beim Aufwärmen der Mannschaft das Plakat hochgehalten wurde mit den Worten: “14 Spiele, 11 Punkte, 11 Tore, 17. Platz” sowie beim Einlaufen “Euer Kredit ist verspielt!”. Die Kurve schwieg, und sieht man sich Fernsehausschnitte an, so kann man gut erkennen, wie irritiert die Spieler waren, dass keine Unterstützung von der Fankurve kam, die sonst immer mit so viel Herzblut und Leidenschaft bei der Sache ist.

Man nannte es Kellerduell – ob sich die Mannschaften auch entsprechend reingehauen haben, mag nicht nur an dieser Stelle gerne bezweifelt werden. Die sichtlich verunsicherten Jungs unserer Mannschaften stocherten nach dem Ball, kamen aber zu keinen wirklich nennenswerten Akzenten. So ging es mit einem 0:0 – und mit vielen Pfiffen – in die Kabine. Ein 0:0 gegen Bochum – und die Angst, es würde endgültig bergab gehen, spürte ausnahmslos jeder, dessen Herz für den Verein mit dem Brustring schlägt.

Es war wirklich befremdlich, ganz ohne die Fangesänge, das Gehopse und die Fahnen, eine eigenartige Situation. Doch auch, wenn sich viele in der Cannstatter Kurve der Stimmung und der Freude verweigerten, nach 68 Minuten vergaß man es dann doch für eine kurze Zeit: Innenverteidiger Serdar Tasci schenkte uns das 1:0 und ließ uns für kurze Zeit dann doch jubeln, bis man wieder verstummte.

Die lang ersehnten 3 Punkte auf dem Silbertablett, nur noch die Nachspielzeit überstehen… Doch als hätten wir in den letzten Wochen noch nicht genug durchmachen müssen, war uns dieser äußerst dreckige Sieg nicht vergönnt gewesen, noch nicht einmal in Überzahl, nachdem der Bochumer Diego Klimowicz 10 Minuten vor Schluss die rote Karte sah.

Nur eine dumme Aktion, nur ein unnötiger Freistoß für die Gäste, nur eine minute vor dem Ende der regulären Spielzeit. Ein perfekt platzierter Schuss mitten ins Herz – und die Aggressionen und der Frust bahnten sich ihren Weg: wieder nur 1:1. Man müsste abwarten, was passieren würde. Schräg hinter mir wurde ein Plakat entrollt: “2. Liga – wir kommen”. Eine Art Galgenhumor?

Draußen traf ich mich nochmal mit Kumpel Daniel, als nicht weit entfernt die ersten Böller und Kanonenschläge explodierten, bengalische Feuer wurden vor dem Stadion entzündet. Eine große Menge rannte sofort zum Ort des Geschehens und versammelte sich vor dem Ausgang an der Haupttribüne. Es wurde gesunden “Wir ham’ die Schnauze voll!”, “Wir singen Scheiß Millionäre” und weitere Parolen, von den im Fernsehen hochepushten Gesängen “Wenn ihr absteigt, schlagen wir euch tot!” habe ich nichts direkt gehört. Beängstigende Szenen spielten sich auf der Mercedesstraße ab, ich beließ es dabei, das ganze lediglich aus einem sicheren Abstand zu beobachten. Es war klar, dass ein Zeichen gesetzt werden musste.

Am Abend suchte ich die VfB-Fankneipe auf, die mir in den letzten Wochen so sehr ans Herz gewachsen war und machte mir dennoch einen schönen Tagesausklang. Ich übernachtete bei einem Kumpel, zum Frühstück wurden gemeinsam die Geschehnisse des Abends aufgearbeitet, bis uns die Eilmeldung im TV von der Entlassung von Markus Babbel berichtete. Ich hatte lange so sehr gehofft, wir würden uns wieder fangen, bevor dieser Schritt nötig wird, was nun passieren würde, müsse man abwarten.

Frustriert fuhr ich am Nachmittag zurück nach Leipzig, erneut als einzige Frau im ganzen Auto, und als einziger Fußballfan. Um mich von den Gedanken abzulenken, das bei dem Verein, den ich mehr liebe als alles andere, derzeit so viel im Argen liegt, berichtete ich von erfolgreichen Reisen mit dem VfB Stuttgart – von Zeiten, als meine Fußballwelt noch in Ordnung war.

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