Es war ein ziemlich eigenartiger und auch denkwürdiger Abend in der comtech Arena, der 10.000 Zuschauer fassenden Spielstätte der SG Sonnenhof Großaspach. Ein Hauch von Europapokal. Wie bitte? Das Konzert von Robbie Williams, welchem ich selbst beigewohnt hatte (zum Zeitpunkt dieses Berichtes ist das Konzert bereits vorbei), zwang den VfB zum Umzug ins etwa 35 Kilometer entfernte Großaspach im Rems-Murr-Kreis.

Da im Neckarstadion bereits der Rasen abgedeckt und die Bühne aufgebaut wurde, konnte der VfB am Donnerstag Abend sein Heimspiel gegen Botev Plovdiv nicht vor heimischer Kulisse austragen und musste ausweichen. Ein eigenartiges Gefühl, woanders hinfahren zu müssen, um ein Heimspiel zu haben?! Mein Weg führte mich direkt vom Geschäft aus zur anderen Seite von Stuttgart, in Richtung Backnang, wo Shuttle-Busse Richtung Stadion fuhren.

Nach einer langen Sommerpause war dies das erste Mal, dass wir unsere Bekannten und Freunde wieder begrüßen durften. Da wir dem ersten Pokalspiel beim BFC Dynamo nicht beigewohnt hatten und die Bundesliga am darauffolgenden Sonntag in Mainz, erneut ohne uns, starten würde, war die Vorfreude nur umso größer. Viele bekannte Gesichter an einer unbekannten Spielstätte. Ein was Gutes hatte der Umzug: so würde keiner sehen, wie wenig Interesse die Stadt an den Europapokal-Auftritten des VfB hat.

Ein 0:0 würde reichen

Schon den ganzen Tag beschäftigte mich ein Gefühl der Anspannung, manchmal mehr die Befürchtung, manchmal mehr der Glaube, es würde schon alles gut gehen. Das Hinspiel eine Woche zuvor wurde im bulgarischen Burgas ausgetragen, soweit ich mich erinnern kann das einzige UEFA-qualifizierte Stadion des Landes. Dort dauerte es lang, bis ein Tor gefallen war, Vedad Ibisevics Tor in der 67. Minute wurde bereits fünf Minuten später schon wieder ausgeglichen. Es waren die einzigen Tore, die wir eine Woche vor dem Spiel in Aspach zu sehen bekamen.

Mit der Auswärtstorregel reicht uns damit ein 0:0. Das Spiel zu gewinnen dürfte doch eigentlich kein Problem sein? In der Saison, die noch nicht einmal richtig angefangen hatte, hatte man zumindest die erste Pokalrunde souverän, wenn auch nicht besonders glanzvoll überstanden. Die Hoffnungen waren groß, man möge sich einschießen auf Mainz, was alle Jahre wieder schwer genug sein würde.

Nachdem alle Leute begrüßt waren, nahm ich meinen Platz bei meinem Glücksbringer Sandro ein, mit dem ich in der abgelaufenen Saison Seite an Seite ein paar der wenigen Siege erleben durfte, was uns seit jeher zum unzertrennlichen Gespann machte. Gut gefüllt war es, als die Partie beginnen konnte, die unsere erste Hürde auf dem Weg in die Europa League darstellen würde. Schiedsrichter Jan Valasek aus der Slowakei führte die Mannschaften aufs Feld in dieser ganz und gar ungewohnten Umgebung.

Gute Möglichkeiten zu Beginn

Sofort losgehen konnte es noch nicht, beide Mannschaften versammelten sich am Mittelkreis und gedachten dem am 20. Juni verstorbenen VfB-Urgesteins Günter Seibold, der fast sein ganzes Leben beim Verein für Bewegungsspiele verbracht hatte. Statt einer Schweigeminute gab es einen donnernden Applaus, sowohl von den Stuttgarter Fans als auch von den Bulgaren, von denen sich mindestens zwei große Busse und einige privat Angereiste auf den Weg gemacht hatten.

Das Spiel konnte beginnen unter dem lauten Applaus der 7.500 Zuschauer. Ob das Spiel nicht ausverkauft war oder ob eventuelle Stehplätze zu Sitzplätzen gemacht werden mussten, kann ich nicht beantworten. “Geht ja gut los!” dachte ich mir nach erst fünf gespielten Minuten, als wir durch Georg Niedermeier beinahe in Führung gegangen wären, auch wenig später konnte Cacau die tolle Flanke von Ibrahima Traoré nicht in ein Tor ummünzen. Es wäre der perfekte Start gewesen.

Zwei schnelle Tore und Plovdiv würde drei benötigen, um noch weiter zu kommen. Zwei Tore zu schießen sollte mit der Aufbruchsstimmung, die die Mitgliederversammlung erzeugt hat, doch eigentlich kein Problem sein, oder? Die Hoffnungen waren groß, als der neu gewählte Präsident Bernd Wahler einige Tage zuvor eine neue Ära angekündigt hatte, es dürfe nicht unser Anspruch sein, um Platz 12 zu spielen, sondern ganz vorne, um den Europapokal, damit solch anstrengende und zeitlich meist ungeschickten Qualifikationsspiele überflüssig werden.

Die Gäste auf Augenhöhe – mindestens

Doch beschweren will ich mich nicht \” mit dem Einzug ins Pokalfinale wurden wir für eine Saison belohnt, die eigentlich keine Belohnung verdient gehabt hätte. Viel zu viele dumme und unnötige Niederlagen, Lustlosigkeit, Frust, Tristesse. Schwere Zeiten waren es, außer, es war gerade DFB-Pokal. Die Losfee meinte es gut mit uns und servierte uns die Bayern erst im große Finale in Berlin. Auch, wenn das Spiel verloren wurde, wir haben eine tolle Leistung gesehen und konnten uns auf Europa freuen.

Schon in der ersten Halbzeit machte sich mit zunehmender Spieldauer ein ungutes Gefühl breit. Je länger das erste VfB-Tor auf sich warten lassen würde, desto ungeduldiger würden auch die Zuschauer werden. Selbstverständlich und nachvollziehbar, ist das Spielen auf ein 0:0 doch höchst gefährlich. “Achwas, machen sie ja nicht!” versuchte ich mir noch einzureden. Und musste dennoch dabei zusehen, wie sie die Gäste mehr und mehr ins Spiel haben kommen lassen. Die Partie wurde ausgeglichen, das Bruddeln wurde lauter.

Ein Raunen ging durch die Reihen, die Abwehr wackelte verdächtig. Bälle, die konsequent weggeschlagen oder clever in einen Konter umgemünzt werden können, nein sogar müssen, bekamen die Jungs nicht weg, immer wieder hatte Sven Ulreich seine liebe Mühe, alles abzuwehren, was auf ihn zukam. Sie verpassten es, den Bulgaren ihr Spiel aufzuzwingen und sie gar nicht erst zur Entfaltung kommen zu lassen.

Plovdiv dem Tor näher

Wenige Minuten vor der Pause hätte es fast in unserem Kasten geklingelt, eine erneute Weltklasse-Reaktion unserer Nummer Eins bewahrte uns vor dem Worst Case, dass Plovdiv hier in Führung geht und vielleicht noch Schlimmeres passiert. Unruhe auf den Rängen, Unzufriedenheit in den Gesichtern der Fans, die neben mir standen, Unbehagen beim Blick auf das desaströse Spiel unserer Mannschaft \” “Aufwachen, Aufwachen, Aufwachen!”

Kurz vor der Pause scheitere auch Alexandru Maxim, der uns in der Rückrunde einer der wenigen Lichtblicke war, kurz vor dem Tor von Adam Stachowiak. Sven Ulreich musste auf der gegenüberliegenden Seite noch einmal beherzt eingreifen, Cacaus Querpass auf unseren Neuzugang aus Hannover, Mohammed Abdellaoue, brachte kurz darauf ebenso wenig den erwünschten Erfolg.

Erste Pfiffe konnte man vernehmen, als nach 45 Minuten der erste Durchgang der Partie beendet war. Es brauchte schnellstmöglich ein paar VfB-Tore um diesen Tag noch einigermaßen erfolgreich enden zu lassen. Wer sich auf einem 0:0 ausruht, lebt gefährlich. Sehr gefährlich. Die Bulgaren spielten gut mit, was uns Fans wohl kaum recht sein konnte. Man bemühte sich redlich um Stimmung, doch es war eben einfach nicht das selbe wie “daheim”.

Bemüht, aber erfolglos

Alles andere als tiefenentspannt machte ich es mir auf der dunkelblauen Sitzschale gemütlich, zuzelte an meinem Tetrapak, was nur mit dem Wohlwollen der Ordnerin mitgenommen werden durfte: “Das Getränk habe ich jetzt einfach nicht gesehen, okay?”. Wer nach der Pause erwartet hatte, Bruno Labbadia hätte die richtigen Worte gefunden und die Bulgaren einfach mal an die Wand gespielt, merkte ziemlich schnell, dass er sich geirrt hatte.

Es war war ein zähes Spiel, in dem die Bulgaren teilweise bessere Chancen hatten als wir. Ein ständiges Auf und Ab auf dem Spielfeld, vorne nicht zwingend genug, hinten wacklig ohne Ende. Ob das am Ende nicht doch ins Auge gehen könnte, blieb zu dem Zeitpunkt noch abzuwarten. Dass sie sich nicht bemüht hatten, konnte man ihnen aber nicht absprechen, sie probierten vieles, um das Spielgerät endlich im Tor unterzubringen.

Ununterbrochen angefeuert von der aktiven Fanszene, während sich der Rest der Zuschauer weitgehend berieseln lässt (was ja auch im Neckarstadion meist nicht anders ist), sahen wir ein offenes und spannendes Spiel. So spannend, dass man alle paar Minuten darum fürchten musste, Plovdiv würde aus allen Versuchen schlussendlich Kapital schlagen. Je länger das Spiel dauerte, desto gefährlicher wäre diese Situation gewesen.

Zum Glück nur Abseits

Zu allem Überfluss verloren wir dann auch noch Georg Niedermeier, der nach einem Zweikampf zu Boden ging und nicht allzu schnell wieder aufstehen konnte. Schießt ihm den Ball aus kurzer Distanz mit Vollspann ins Gesicht, schlagt ihm mit den Ellenbogen die Zähne aus, zertrümmert ihm die Nase, alles, nur nicht das Knie! Natürlich ist es nie schön, wenn einer unserer Spieler sich verletzt, von allen ist Georg Niedermeier jedoch der, der am Meisten einstecken muss. Solange nicht die Beine betroffen sind, macht es dem Innenverteidiger fast nichts aus.

Wenig später war das eingetreten, was sich leider schon die ganze Zeit angekündigt hatte: der Treffer für die Bulgaren. Nur mit Glück und dem guten Auge des Linienrichters wurde der Treffer nicht gewertet, es war Abseits. Nur noch 18 Minuten waren zu spielen. Stünde es jetzt 0:1, hätte es der VfB definitiv mehr als schwer gehabt, noch zum in die Verlängerung rettenden Ausgleich zu kommen.

Viel ging an diesem Tag beim VfB nicht zusammen. Klar, die Saison hat noch nicht einmal richtig begonnen. Klar, die Mannschaft ist noch nicht richtig eingespielt. Klar, der Gegner hatte es einem wirklich schwer gemacht. Doch darf dies entschuldigen, dass man nur mit allergrößtem Glück vor dem Gegentreffer bewahrt geworden war? Nach all der Aufbruchsstimmung, so hatten wir uns das ganz bestimmt nicht vorgestellt.

Am Ende die Hosen voll

Die Partie neigte sich dem Ende. Auch, wenn es sich die Mannschaft sicher mit all ihren Bemühungen anders vorgestellt und vorgenommen hatte, auf der Anzeigestafel stand nach wie vor 0:0. Es waren nur noch wenige Sekunden in der Nachspielzeit. Wenn jetzt kein Unheil mehr passiert, sind wir weiter. Zufrieden sein kann man mit dem Weiterkommen schon, mit der dargebotenen Leistung freilich nicht.

Es gab noch einmal Abstoß für Plovdiv, Keeper Adam Stachowiak schlug den Ball ein letztes Mal nach vorne, direkt auf den erst kurz zuvor eingewechselten Luis Pedro. Die Abwehr unseres VfB hatte gedanklich schon Feierabend, als die Nummer 9 der Bulgaren alleine mit dem Ball vor Sven Ulreich stand. Panik! Angst! Furcht! Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden standen wir offenbar vor dem Aus. Jeder rechnete damit, dass sogleich das Netz hinter Ulle zappeln würde, nach all den Paraden nun am Ende doch das schnelle Aus?

“Oh Gott”, mehr konnte ich in diesem Moment nicht sagen. Mein Körper verkrampfte, mein Blick war starr. “Oh Gott”, bitte, Ulle, hab diesen Ball, bitte! In bester Karate-Manier lief er heraus und ging das Risiko ein, gekonnt getunnelt zu werden. Statt durch seine Beine hindurch, wollte der gebürtige Niederländer flach den Ball hineinrollen lassen, Ulle grätschte gerade noch so ab. Mit dem Schienbein, mit der Wade, mit dem Fuß, mit dem Knöchel, keine Ahnung, mit welchem Körperteil, der Ball war NICHT im Netz.

“Ulle, Ulle, Ulle!”

Die Kurve wusste, bei wem sie sich bedanken musste. Laut skandierten wir den Namen unseres Keepers, immer und immer wieder. Es war vorbei, geschafft, eine Runde weiter. Aber wie? Aufmunterndes Klatschen bei den mitgereisten Fans aus Bulgarien, nach unzähligen Stunden im Bus sahen sie eine Mannschaft, die streckenweise klar besser war, am Ende schieden sie trotzdem aus. Wegen eines Abseits-Treffers und der glänzenden Reaktion unseres Torhüters, Sekunden vor dem Schluss.

Mit einem blauen Augen waren wir gerade so davon gekommen. Am Ende ist es das, was zählt, nicht wahr? Begeisterungsstürme konnte diese Partie, die von Fehlern und Sorgen nur so gespickt war, natürlich nicht auslösen. In dieser Verfassung würde es schwer werden, in Mainz zu bestehen \” was sich letztendlich auch so bewahrheitete. Bevor ich dem Konzert beiwohnen konnte, wegen dem wir hier in Großaspach spielen mussten, verfolgte ich im Palm Beach die 2:3-Niederlage des VfB.

Haarscharf an der Blamage vorbeigeschrammt, das müsse definitiv besser werden. “So sieht es aus, wenn man gegen den Trainer spielt!” – Gedankengänge meines besten Freundes, den ich nach dem Spiel gerade noch vor seiner Heimfahrt abpassen konnte. Irgendwie hat er es geahnt. Auch Gerd, unser Auswärtsfahrer, hatte es geahnt, eine Woche zuvor gab er Bruno Labbadia noch Zeit bis September. Die Auslosung am nächsten Tag brachte uns HNK Rijeka an der kroatischen Adria-Küste. Wir waren noch nicht fertig mit Europa. Und das alleine zählte.

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