Manchmal liegen Freud und Leid näher beieinander, als man sich vorstellen kann. Zwanzig Minuten zwischen dem absoluten Schockzustand nach einer indiskutablen Darbietung, nach der selbst ein junger Kreisklassenspieler gesagt bekommt, er wäre für diesen Sport einfach nicht gemacht; und jener großartigen Aufholjagd, die nach einem aussichtslosen 0:3-Rückstand noch einen Punkt sicherte. Die Geschehnisse vom gestrigen Tage aufzuarbeiten, fällt mir nicht leicht, ich kann es noch gar nicht richtig fassen, was da gestern im Neckarstadion passiert ist.

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Wie soll man das einordnen? Was war das für eine entsetzliche erste Halbzeit? Wie ging das überhaupt, im offenbar hirntoten Zustand noch drei Tore zu schießen? Warum hat Martin Harnik nicht noch das gottverdammte vierte Tor gemacht? Viele Fragen bleiben übrig am Tag danach. Unterschiedlicher konnten die Gegensätze nicht sein. Zwischen Frustration und Stolz lagen nur zwanzig Minuten. Ich wusste gar nicht mehr, wie sich das anfühlt, einen Rückstand aufzuholen. Nicht einmal bei einem einzigen Tor. Und dann gleich drei?

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Die Fans mit dem Brustring im Herzen sind sich einig: “Wahnsinn!”. Wir alle haben viele Kräfte lassen müssen für eine selten so dagewesene Aufholjagd. Als das dem VfB das letzte Mal gelang, war das mehr als sechs Jahre vor meiner Geburt. Im März 1980 wurde ein 0:3-Rückstand gegen Dortmund ausgeglichen. Ich kenne die Gegebenheiten von damals nicht, wage aber zu behaupten, das gegen Leverkusen an jenem sonnigen Samstag nicht ein Einziger gerechnet hatte.

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Unentschieden? Mit Kusshand!

Wie sehr hätten wir ein Unentschieden mit Kusshand genommen…? Wie weit schien es in die Ferne gerückt zu sein, als die Mannschaften mit gellenden Pfiffen in die Kabine verabschiedet wurden und ihnen schließlich der Rücken zugekehrt wurde…? Wie dankbar waren wir schließlich dafür, das uns die Mannschaft etwas zeigte, von dem wir dachten, sie wären niemals dazu im Stande: Gegenwehr.

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Lange ließen sie es vermissen, seit Wochen, seit Monaten, in jeder einzelnen Partie, nach denen wir ratlos und teilweise hoffnungslos zurück geblieben waren. Wann immer ein Gegentor gefallen war, schien es abermals so, als käme dies gänzlich unerwartet. Eine Idee, damit umzugehen, gab es meist nicht. Darauf zu bauen, dass man die schwierige Situation des Gegentors von vornherein verhindert, funktionierte aber ebenfalls nicht. Was also tun, wenn der Karren im Dreck ist?

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Stunden sind bereits vergangen an diesem Sonntag, dem Tag danach, der obligatorisch zur Formulierung eines ganz persönlichen Spielrückblicks dienen soll. Vieles war interessanter, selbst der Doppelpass auf Sport1 und die folgende Zusammenfassung der einzelnen Spiele, da ich am Vorabend keine Sportschau verfolgen konnte. Getreu dem Motto: Verlieren sie, schreibt sichs schlecht, wenn nicht, dann erst recht?

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Bloß keine Illusionen

„Kießling wird’s schon richten!“ hatte ich missmutig vor mich hingebrabbelt, wann immer die Frage aufkam, was das denn heute werden würde. Illusionen in Bezug auf den Spielausgang konnte und wollte ich mir nicht machen, zu oft habe ich schon erlebt, dass der blonde Lockenkopf gegen den VfB einnetzt, so oft wie kein anderer. Auch der sportliche Klassenunterschied sollte mittlerweile auch dem Allerletzten klar geworden sein. Trotz allem wollte ich mir die Laune nicht verderben lassen und genoss ein gemeinschaftliches Weißwurstfrühstück mit Freunden und Bekannten.

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Mitte Oktober gab Petrus noch einmal alles, strahlender Sonnenschein und Temperaturen um die 23 Grad, lasst es uns genießen, solange es andauert. Am Stadion angekommen, trafen Felix und ich noch weitere Freunde, der eine oder andere Kommentar und auch fragende Blick in Bezug auf die VfB-Doku vom vergangenen Sonntag blieb da nicht aus. Auch meine langjährige Freundin Alex war mitsamt Ehemann und dessen Mutter vor Ort. „Viel Spaß euch!“ hatte ich ihnen gewünscht, wohlwissend, dass dies eher eine rhetorische Aussage war.

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Ein weiteres Mal lief ich die Betonstufen zu meinem Platz im Block 33 hinunter. Dieses Kribbeln im Bauch, und darüber hinaus nicht zu wissen, wie all die Leute, die jedes Mal um mich herum stehen, reagieren würden. Lange ließen die Reaktionen im Block nicht auf sich warten, einige kamen bewusst auf mich zu, andere warfen mir im Vorbeigehen ein „Super Interview“ zu – das befürchtete „Verpiss dich, du scheiß Erfolgsfan“ blieb aus. Zum Glück.

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Zurück am Stammplatz

Da stand ich nun an meinem Stammplatz und las die aktuelle Ausgabe des Cannstatter Blättle und sah mich ganz entspannt um. Viele Leverkusener hatten sich nicht auf den Weg gemacht, gut 1.000 sollen es angeblich gewesen sein. Der Bahnstreik am Wochenende hatte Millionen Fußballfans getroffen, dass die Ränge auch in den heimischen Blöcken klaffende Lücken aufwiesen, war jedoch der zuletzt erkennbaren sportlichen Abwärtsentwicklung geschuldet. Mich sollte das zumindest am Wochenende nicht tangieren, wohl dem, der zu Fuß ins Stadion kommt.

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Bei lockeren Gesprächen über alltägliche Themen wie Knie-Operationen, dem Entfernen von Schläuchen und Reha-Maßnahmen tickte die Uhr herunter. Die ganz große Aufregung und Anspannung blieb aus, zu erwarten gab es nichts außer einer Niederlage. Und sollte der VfB dann doch überraschend führen, kennt er sich ja ohnehin bestens damit aus, es sich selbst wieder kaputt zu machen. Doch das unser Verein an manchen Tagen zu Unerwartetem im Stande ist, das hatte ja keiner so kommen sehen.

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Die Pleite von Berlin vor der Länderspielpause hatten wir alle schon weitgehend abgehakt, nicht viel zu sehen von Frust und Enttäuschung, als beide Mannschaften mit einem bunten Intro begrüßt worden waren. Lasst es bitte schnell hinter uns bringen. Sechs Niederlagen, zwei Unentschieden – die Bilanz der letzten Partien gegeneinander könnten wahrlich besser sein.

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Frühe Schockstarre

Die erste Gelegenheit hatte der VfB mit einem Freistoß, gefolgt von einem Eckball. Ein kurzer Moment der zaghaften Hoffnung wurde recht schnell im Keim erstickt, ein rascher Konter der Gäste und schon stand es 0:1. Zeit gestoppt: Nach drei Minuten und zwei Sekunden. Heung Min Son traf früh in dieser Partie, das früheste Gegentor seit zwei einhalb Jahren. Am Vormittag hatte ich noch gemeint, Leverkusen würde vermutlich sehr früh führen, während ich meine Weißwurst auf dem Pappteller von der Haut entfernte.

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Nur, weil ich es geahnt habe, heißt das aber noch lange nicht, dass es mich nicht frustriert. Unter normalen Umständen hat so etwas noch nichts zu heißen – in der gleichen Spielminute traf zwei Wochen zuvor Moritz Leitner in Berlin, der VfB verlor dennoch. Vielleicht heute mal anders herum? Daran zu glauben fiel so unheimlich schwer, seit Ewigkeiten hatte der VfB kein Spiel mehr nach Rückstand noch zum Sieg drehen können.

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Jetzt bloß nicht zu schnell die Flinte ins Korn werfen, dachte sich die Cannstatter Kurve und bemühte sich redlich, die Stimmung nicht sofort im Keim zu ersticken. Einige Minuten später spielte der frisch von der Nationalmannschaft zurück gekehrte Nationalspieler Antonio Rüdiger einen Rückpass auf Thorsten Kirschbaum, der sich nicht anders zu helfen wusste, als den Ball nach vorne zu schlagen. Vor die Füße von Heung Min Son. Ein Schuss, ein Strahl, ein Traumtor. 0:2 nach nicht einmal zehn Minuten.

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Indiskutabel

Was willst du dazu noch groß sagen? Die Reaktion der Kurve folgte prompt: „Aufwachen, Aufwachen!“, gefolgt von einem weiteren Vorstoß und einem Lattentreffer des Doppeltorschützen. Hier wäre beinahe das 0:3 gefallen. Den wütenden Pfiffen folgte relativ bald die Ernüchterung und die Erkenntnis, dass es heute übel enden wird, kein einziger hatte einen Zweifel daran, dass die heutigen Gäste aus der Pillenstadt mit Sicherheit noch mehr Tore schießen würden, daran hindern konnte sie der VfB offensichtlich nicht.

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Sich die erste Halbzeit am Tag danach noch einmal in voller Länge anzuschauen, fällt mir mekrlich schwer. Es wollte gar nichts zusammenlaufen, nicht ein was positives, das es hervorzuheben galt. Überspitzt gesagt: es grenzte lediglich an ein Wunder, dass man nicht noch drei, vier weitere Gegentore vor dem Pausenpfiff kassierte. Ich hoffe daher, ihr werdet mir verzeihen, wenn ich mir an dieser Stelle einen Sprung erlaube und den Verlauf der ersten Halbzeit weitgehend unkommentiert lassen möchte.

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Oft sahen wir erschreckend schlechte Leistungen, standen enttäuscht in der Kurve und fragten uns, was uns antreibt, jede Woche aufs Neue dem VfB zuschauen zu wollen. Was wir hier sahen, lässt sich bestenfalls mit „Schockzustand“ bezeichnen. Es passte ins Bild des Spielverlaufs, als Karim Bellarabi sechs (SECHS!) Stuttgarter aussteigen ließ und mal eben noch das 0:3 markierte, bevor es in die Pause ging.

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Den Rücken zugewandt

Einfach nicht zu glauben. Ich habe geahnt, dass es heute nichts zu holen gibt, aber eine derart desolate, körperlose und blutleere Darbietung hatte sich der VfB teilweise in ärgsten Abstiegsnöten in der Rückrunde vergangener Saison nicht erlaubt. Fassungslose Gesichter in der Cannstatter Kurve, in die ich blicken musste. Was nun, Armin Veh? Was sagt man einer Mannschaft, deren Anwesenheit auf dem Platz rein statistischer Natur ist? Sie ermutigen und ihnen sagen, dass es nach weiteren 45 endlich vorüber ist und es doch „nur ein Spiel“ ist?

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Co-Trainer Armin Reutershahn stand gegen Ende der Halbzeitpause mit Neuzugang Adam Hlousek auf dem Feld und zeigte ihm ein paar DIN A4 Blätter und gab ihm Anweisungen. Obs was bringt? Er kam für Antonio Rüdiger ins Spiel, ein mehr als notwendiger Wechsel, denn der junge Verteidiger war hoffnungslos überfordert. Fraglich, ob ihm diese Darbietung das Hineinwachsen in die Nationalmannschaft kosten wird.

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Der Ball rollte wieder im Neckarstadion. Nichts Gutes war zu erwarten für den zweiten Durchgang, das wusste auch die Kurve, die fürs erste den Support einstellte. Die Trommeln schwiegen, die Fahnen blieben zusammengerollt auf den Stufen liegen. Bange Blicke und, ja, auch Angst vor dem, was dem VfB hier noch drohen würde. Lediglich ein Torschuss von Martin Harnik wurde leise und dezent beklatscht.

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Timo Werner bläst zur Aufholjagd

Ohne Stimmung natürlich auch kein gutes Fotomotiv mit wehenden Fahnen, klatschenden Händen und in die Höhe gestreckten Fäusten. Ersatzweise musste das Spielfeld herhalten, ein paar Male kam der VfB sogar der Kameralinse ziemlich nah. Ein Foto von einem Laufduell zwischen Adam Hlousek und Heung Min Son war gerade im Kasten, da gab er die Flanke auch schon in den Strafraum. Ohne wirklich etwas zu erwarten, wandte ich meinen Blick nach wievor frustriert nach links und wartete.

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Geklärt, der Ball drohte ins Aus zu gehen, es würde wohl Abstoß geben. Doch der Ball ging nicht ins Aus, Martin Harnik gab ihn zurück auf seinen österreichischen Nationalmannschaftskollegen Florion Klein, der eine weite Flanke vors Tor schlug. Heimlich, still und leise hatte sich schließlich Timo Werner davon gestohlen. Er stieg hoch, hielt seinen Kopf hin und versenkte den Ball im Netz.

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Jubel. Natürlich. Und doch so verhalten. Eine Reflexreaktion sorgte für einen Aufschrei der Freude, doch dürfte dennoch allen klar gewesen sein, dass es trotzdem nichts an der drohenden Niederlage ändern würde. Nahezu teilnahmslos verfolgte ich das Anschlusstor und ärgerte mich über den geradezu peinlichen Auftritt von Stadionsprecher Holger Laser – es ist unnötig, bei einem Zwei-Tore-Unterschied einen Anschluss zu feiern, als sei es der Siegtreffer gewesen.

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Skeptisches Warten

Ich freute mich allenfalls für Timo Werner, der das Tor bitternötig hatte. Über 1.000 Spielminuten blieb er bisher ohne Tor, zuletzt ein letztendlich bedeutungsloses in Wolfsburg im Dezember, das allenfalls statistischen Wert hatte. Mein Gefühl sagte mir: Leverkusen würde wohl eher noch das 1:4 machen als der VfB das 3:2, es war verrückt, auch nur über etwas anderes nachzudenken. Ziemlich wahrscheinlich war das drohende Unheil nicht mehr abzuwenden, aber der Anschluss ließ einen neuerlichen Ruck durch die Kurve gehen.

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Die Fans waren wieder da. Das erlebten nur diejenigen nicht mehr, die bereits zur Halbzeitpause nach Hause gegangen sind. Weite Teile der Cannstatter Kurve, vornehmlich die Seitenblöcke und die hinteren Reihen waren noch skeptisch, richtig inbrünstig wurden die Gesänge nicht. Alexandru Maxim machte sich bereit, jener Spieler, dessen Trikot ich in der Kabine hatte fallen lassen und damit in der VfB-Doku für große Lacher sorgte. In den letzten Spielen brachte seine Einwechslung stets neuen Aufschwung, warum also nicht?

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Kurz darauf fällte Roberto Hilbert, der von 2006 bis 2010 selbst das Trikot mit dem Brustring trug, Timo Werner, direkt vor meinem Block. Schmerzverzerrt krümmte er sich am Boden, es gab einen Freistoß für die Gastgeber. Erste Amtshandlung unseres neuen Mannes mit der 44, mit dem vieldiskutierten Freistoßspray markierte Schiedsrichter Felix Zwayer eine Rasierschaumlinie vor dem Rumänen, der gerade einmal zwei Minuten auf dem Feld stand. Gespanntes Warten.

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Wut im Bauch

Wieder eine nicht ungefährliche Flanke vors Tor, Bernd Leno, der sich beim letzten Gastspiel in Stuttgart die letzten Sympathien verspielt hatte, klatschte nach vorne ab. Dort lauerte Florian Klein, eher zufällig, unscheinbar, abwartend. Ich sah ihn noch kurz anlaufen und auf den Ball draufzimmern, wohin er schoss, konnte ich nicht richtig erkennen. Bitte, lieber Fußballgott, wenn du in deinem Herz in einer dunklen Ecke einen Platz für uns Stuttgarter hast, dann lenke diesen Ball hinein ins Netz, bitte, wir flehen dich an.

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Bumm! Flatsch, Bierdusche von hinten. Völlig egal! 110 km/h pure Schussgewalt, ein Tor aus reinem Willen, wenngleich der Zufall ein wenig mitspielte in Form eines minimalen Abfälschens. Nichts zu machen für den einstigen Stuttgarter im blauen Torwarttrikot. Mit Wut im Bauch, anders ist dieser Gewaltschuss unseres Neuzugangs nicht zu erklären. Nach dem zweiten Tor von Heung Min Son das nächste Traumtor der Partie.

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Was hatte Armin Veh zur Mannschaft gesagt, als sie schweigend in der Kabine saßen? Was auch immer es war, es sorgte dafür, dass der VfB hier schließlich wie ausgewechselt war. Aus einem desolaten 0:3-Halbzeitrückstand wurde nun ein 2:3 mit Tendenz zu mehr. Es lag etwas in der Luft. Jetzt waren wirklich alle Fans wieder mit dabei, schönen Gruß an jene, die bereits nach Hause gegangen waren.

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Alles nach vorn

„Wenn die ganze Kurve tobt“ schallte es durch die Reihen, die Stufen unter meinen Füßen vibrierten, meine Knie zitterten. Alles, was im ersten Durchgang fehlte, sie boten nun alles auf, was sich für ein gutes Spiel gehört. Warum nicht gleich so, warum nicht in den Spielen davor? Es bestärkt mich in der Meinung, dass die Mannschaft an sich keine schlechte ist, die Jungs können kicken, manche davon überdurchschnittlich. Und dass sie auch in der Lage sind, etwas daraus zu machen – wenn auch selten – das konnte man hier ziemlich gut sehen.

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Wer hätte das gedacht? Wer waren diese Jungs, und was haben sie mit der Mannschaft aus der ersten Halbzeit gemacht? Nominell gab es bisher alle drei personelle Änderungen, Adam Hlousek kam für Antonio Rüdiger, Alexandru Maxim für Moritz Leitner und Filip Kostic für Timo Werner. Geht da vielleicht noch mehr? Die Spannung geladen, mit all ihrer Leidenschaft peitschte die Kurve die Jungs nach vorne.

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Das Bruddeln von Seiten der Haupttribüne verstummte, es gab hier nichts mehr zu meckern, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das das letzte Mal von „meinem VfB“ sagen konnte. Zehn Minuten nach dem Gewaltschuss des Österreichers der nächste Freistoß, diesmal ein Fall für Filip Kostic, der genau wie Alexandru Maxim bei der Vorlage zum 2:3 exakt zwei Minuten zuvor eingewechselt wurde. Nachtigall, ick hör dir trapsen!

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Mit aller Macht

Hakan Calhanoglu stellte die Ein-Mann-Mauer, während die langsam untergehende Sonne in einem spitzen Winkel ins Neckarstadion einfiel. Die Führung der Gäste wackelte gewaltig. Ein paar Schritte Anlauf, ich sah den Ball noch fliegen, was folgte, war Gänsehaut pur. Martin Harnik hatte es genau so gewollt. So und nicht anders. Mit aller Macht warf er sich in diesem Ball, ob er dabei gegen den Pfosten knallt und sich verletzt, wird ihm wohl egal gewesen sein.

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Für solche Momente liebe ich einfach diesen Sport, dafür liebe ich diesen Verein, dass er mir solche Glücksgefühle bescheren kann. Instinktiv beugte ich mich nach vorne und schützte meine Kamera vor den Massen an Bier, die mich unmittelbar getroffen hatten. Der absolute Wahnsinn, die Kurve stand völlig Kopf. Einige Fans, die ihren Platz auf der Treppe eingenommen hatten, schlug es mit dem Ausgleich einige Meter nach vorne, kein Wellenbrecher konnte sie stoppen, einige fielen zu Boden, mit dem euphorischen Lachen im Gesicht.

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Da lag der Österreicher im Tor, gefangen im Netz. Oft genug lag er in den Maschen, der Ball jedoch nicht. Heute war alles anders, heute schrieben wir Geschichte. Georg Niedermeier griff entfesselt in die Maschen, hielt sie fest und ließ seinen Emotionen freien Lauf: „Schaut her, der Ball ist im Tor, wir haben es gemeinsam mit euch geschafft“, auch Martin Harnik drehte ab, zeigte der Kurve seine Jubelfaust und vergaß in aller Euphorie Thors Hammer.

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Unglaubliche Gänsehautmomente

Brutal. Abartig. Krank. Verrückt. Irre. Sucht euch was aus. Es war einfach nicht zu fassen. Zum späten Sonntagabend sitze ich nun hier, in der linken Bildschirmhälfte läuft die zweite Halbzeit via vfbtv, auf der rechten Bildschirmhälfte entsteht ein Wort nach dem anderen. Meine Hände zittern, die Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Wer nicht mit all seiner Liebe bei diesem Verein ist, wird wohl kaum nachvollziehen können, wie man sich als VfB-Fan bei diesem dritten Tor gefühlt hat.

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Zwanzig Minuten zuvor sahen die Gesichter um mich herum so viel anders aus, aus tiefen Sorgenfalten in entsetzten Gesichtern, ohne den Hauch eines Lächelns, wurde der Ausbruch der Freude, schreiend, singend, hüpfend, klatschend. Wer in der ersten Halbzeit noch jeden Sinn, das Neckarstadion aufzusuchen, in Frage stellte, der hatte nun die Antwort bekommen: genau dafür. Niemand von uns hatte das für möglich gehalten, es wird wahrscheinlich auch nie eine rationale Erklärung dafür geben, was sich zwischen ca. 16:17 Uhr und ca. 17:20 Uhr abgespielt hat.

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Man muss der Mannschaft und Armin Veh glauben, dass es einzig und allein eine ruhige Halbzeitansprache war, in denen sich der Coach weigerte, drauf zu hauen, wenn sie doch sowieso schon am Boden lagen. Er erzählte ihnen, dass er schon andere Partien als Trainer erlebt hat, in denen aus einem 0:3 ein 4:3 wurde. Glauben. Wille. Leidenschaft. Sie liefen heraus aufs Feld und glaubten auf einmal wieder, sie zeigten unbändigen Willen und feurige Leidenschaft. So einfach…?!

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Geht da vielleicht noch mehr?

Bei aller gute Laune, es gab da nur ein klitzekleines Problem. Der Blick auf die Anzeigetafel zeigte uns neben den großen weißen Lettern, auf denen 3:3 zu lesen war, nämlich folgendes: noch eine Viertelstunde zu spielen. Der VfB war über sich hinaus gewachsen, doch reicht das alleine aus, den Fluch der Schlussphase zu bezwingen? Äußerste Vorsicht war geboten, es wäre fatal, alles nach vorne zu werfen und dabei die Abwehr völlig außen vor zu lassen, wir alle erinnern uns noch an die Schlussphase aus dem Heimspiel gegen Rijeka.

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Beinahe wäre uns das fröhliche Lachen im Gesicht versteinert, neun Minuten vor Schluss rettete Thorsten Kirschbaum möglicherweise entscheidend mit einer Glanzparade das 3:3, es wäre nicht sicher gewesen, ob auch ein weiteres Leverkusener Tor hätte ausgeglichen werden können – dann wäre all der Kraftaufwand am Ende ohne jeglichen Wert gewesen. Von moralischen Werten überlebst du in der Bundesliga nämlich nicht.

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Kurz darauf rettete er erneut aus kürzester Distanz, geistesgegenwärtig war er zur Stelle. Er hatte selbst wohl nicht gedacht, dass zwei späte Paraden doch noch spielentscheidend sind. Sieben Minuten noch, wieder Freistoß für den VfB. Das 4:3 wäre ja auch zu schön gewesen, aber es waren ja auch noch ein paar Minuten. Man stelle sich das nur einmal vor: der VfB gewinnt hier tatsächlich noch? Die Idee davon bereitete mir abermals Gänsehaut.

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Sieg oder Spielabbruch

Die Gäste hatten Glück, dass sie das Spiel zu Elft zu Ende spielen durften, Ömer Toprak zerrte derart an Filip Kostic, der nur eines wollte, weiterlaufen, schließlich kam er zu Fall. Der Leverkusener hatte drei Minuten zuvor den gelben Karton gesehen und hätte sich nicht beschweren dürfen, als erster unter der Dusche zu sein. Als ein folgendes Foul an einem Leverkusener sofort abgepfiffen wurde, tobte die Kurve. Wenig später die gleiche Situation am Mittelkreis.

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Es kochte gewaltig, mit Müh und Not konnten die Fans, die bei mir im Block ganz vorne stehen, die erhitzten Gemüter zurückhalten. Einmal landete der Ball dann tatsächlich noch im Stuttgarter Netz, abgepfiffen, Stürmerfoul ohne jeden Zweifel. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, eine halbe Ewigkeit zogen sich die letzten Minuten hin. Abpfeifen, oder noch die letzten Sekunden für das 4:3 nutzen, ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte.

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Drei Minuten gab es obendrauf, noch einmal Ecke für den VfB vor der Cannstatter Kurve. Hier schwieg jetzt keiner mehr, zehntausende Schals wehten, ein verzweifelter Aufschrei des Entsetzens, Bernd Leno rettete seine Mannschaft vor dem mehr als unerwarteten Rückstand. Nur noch wenige Sekunden, banges Warten, der sekündliche Blick auf die Anzeigetafel, ohne jeden Zweck, denn die Nachspielzeit wird nicht angezeigt. Tick. Tack. Tick. Tack.

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Den Sieg auf dem Kopf

Einwurf für die Gastgeber, zitternd, betend, hoffend. Filip Kostic brachte den Ball nochmal vors Tor. Ich konnte nur noch die Luft anhalten, wollte weder hinsehen, noch mich abwenden. Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, flehte ich im Stillen, als es um mich herum kaum lauter hätte sein können. Christian Gentner stieg hoch und verlängerte den Kopfball in Richtung langen Pfosten. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, in fast schon naiver Erwartung, sie in einem Tollhaus wieder zu öffnen. Gefühlt in Zeitlupe flog der Ball weiter, und weiter, und weiter.

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Martin Harnik. Mach ihn, verdammte Scheiße, mach ihn! Er traf ihn mit dem Kopf, langsam segelte der Ball in Richtung Netz. Noch ein Stück, komm schon, noch ein Stück, bald war das Wunder vollbracht. Unterwegs in den siebten Himmel, die Hand von Bernd Leno verhinderte das gänzliche Ausrasten. Nein. Nein! Neeeeeiiiiin! Erneute Fassungslosigkeit. Doch anders als zur Halbzeitpause sah es anders aus und fühlte sich anders an.

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Viel hatte hier nicht mehr gefehlt, dann wäre die Sensation perfekt gewesen. Ob das gemessen an der ersten Halbzeit zu viel des Guten gewesen wäre, ist uns natürlich herzlich egal. Gute dreißig Sekunden noch, Leverkusen ließ sich Zeit. So viel Zeit, dass es keine Zeit mehr für eine weitere nennenswerte Chance gab. Um ca. 17:20 Uhr war es vorbei. Eine völlig wirre Mischung der Gefühlte braute sich hier zusammen: vom blanken Entsetzen über einen vagen Hoffnungsschimmer bis zum Ausbruch der Freude, und am Ende sogar noch die Enttäuschung, nicht das Siegtor gemacht zu haben.

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Wer hätte das gedacht?

Wer dem Brustring gewogen ist, der ist sich sicher: Anhand des Spielverlaufs und jener entsetzlich schlechten ersten Halbzeit muss man das Unentschieden dankbar annehmen, alles andere wäre vermessen. Und doch: Was wäre gewesen, wenn Bernd Leno nicht zur Stelle gewesen wäre? Doch auch ohne das zweite Tor des Österreichers wurde der Abpfiff dankbar beklatscht, eine völlig verrückte Partie war nun beendet. Wie ging das denn, aus einem 0:3 ein 3:3 zu machen. Ob es tatsächlich nur die Halbzeitansprache von Armin Veh war, werden wir vermutlich nie erfahren.

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Nach einer Achterbahnfahrt der Gefühle und zwei extremen Halbzeiten begrüßten wir die Mannschaft wohlgesonnen vor der Kurve. Es liegt noch einiges im Argen, das dürfen wir bei aller Freude über diese Energieleistung nicht vergessen, das weiß das Trainerteam und auch die Mannschaft hoffentlich einzuschätzen. Was bleibt, ist ein ungläubiges Lächeln im Gesicht und das Wissen, dass der VfB tatsächlich über sich hinaus wachsen kann.

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Minuten später fand ich mich im oberen Bereich des Blocks 33 wieder, wie in jedem Heimspiel. Durch die Lautsprecherboxen drang Helene Fischer, der persönliche Liebling der Stuttgarter Fanszene. Wenngleich ich mich mit Schlagermusik nicht anfreunden kann, dieses Spiel hinterließ einen tatsächlich „Atemlos“.

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Sie können, wenn sie wollen

Der Weg nach Hause war lang und führte ausnahmsweise sogar noch über die Imbissbude am Cannstatter Bahnhof in die nahegelegene Kneipe, in der sich Felix mit unseren Freunden nach jedem Heimspiel einfindet, während ich daheim schon die ersten Bilder bearbeite und mein Bier ganz alleine trinke. Eine solche Partie ist Anlass genug, ein besonderes Spiel erfordert besondere Feierlichkeiten. Nach einem Wulle zog es mich dann aber doch nach Hause, immernoch zitternd, aber dafür dankbar und hoffnungsvoll für die nächste Partie.

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Zuletzt machte es nur selten Spaß, sich die Spiele im Nachgang noch einmal anzuschauen, Spielberichte zu lesen oder Fotos zu betrachten. Es war wieder so ein Tag, in Zeiten der Frustration nehmen wir das stets gerne mit. Schön zu wissen, wozu die Mannschaft in der Lage ist, wenn sie denn nur will. Mag ihnen manchmal die sportliche Qualität fehlen, seien sie auch noch so verunsichert, wenn sie in Rückstand geraten, dieses Spiel lehrt uns eines: sie können, wenn sie wollen. Und wie!

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Auf dieses nervenaufreibende Wechselbad der Gefühle hätte der eine oder andere leidgeprüfte VfB-Fan mit Hang zum Herzkasper vielleicht gerne verzichtet. Solche Spiele kosten so unheimlich viel Kraft, nicht einen hatte ich danach getroffen, der frisch und entspannt aussah, ein „völlig krankes Spiel“ lag nun hinter uns und macht uns Lust auf mehr (aus der zweiten Halbzeit natürlich). Um 19:39 aktualisierte ich dann noch meinen Facebook-Status: „Ich werd langsam zu alt für diesen Scheiß.“

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