Es gibt Momente, da wird es ganz schnell schwarz um einen. Man fällt in ein Loch und während man auf den Schmerz beim Aufschlag wartet, fällt man immer weiter, bis man kein Licht mehr sieht. Überall ist Dunkelheit, sie lähmt, sie verängstigt und entzieht die Fähigkeit zu Atmen. Regungslos schwebt man in einem luftleeren Raum, orientieren kann man sich nicht, festhalten kann man sich nicht. Welch beklemmendes und ohnmächtiges Gefühl uns umhüllt, während uns ein modriger Geruch in die Nase steigt. Und dann schlägt man unvermittelt am Boden auf.

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Alles schmerzt, die Beine vom exzessiven Support, der Kopf vor lauter Anspannung, der Bauch vor lauter unmissverständlicher Übelkeit. Doch am meisten schmerzt das geschändete Herz, zerrissen vom Spagat zwischen himmelhochjauzend und zu Tode betrübt, am Ende zertrampelt unter den Füßen der Demütigung. Selten fühlte sich eine Niederlage so entsetzlich an wie an diesem Wochenende. Lange saß ich gestern Abend noch an der Bearbeitung der Fotos, jedes Jubelbild der Mannschaft ein Stich ins Herz, wie unendlich glücklich man dabei war, wurde mir schmerzlich bewusst.

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Wirklich neu ist das Gefühl der abermalen Punktlosigkeit nicht. Auch nach einer Führung zu verlieren ist perse nichts Fremdes. Erwartet hatte ich nichts, doch hätte ich gar lieber 0:3 verloren. Man hätte zumindest gewusst, warum. Was die letzten Wochen noch dem Pech, der Chancenverwertung, den individuellen Aussetzern, dem Schiedsrichter oder sonst irgendwelchen anderen zugerechnet wurde, scheint nun trauriges System geworden zu sein. Ein System, das kaum noch Platz lässt für Hoffnung auf bessere Tage.

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Teil der Aufarbeitung

Ich solle spazieren gehen, meinte ein Freund zu mir, statt mich mit dem zu beschäftigen, was die nächsten Stunden vor mir liegen würde. Das hier habe ich mir selbst ausgesucht, mit allen negativen und positiven Konsequenzen. Vor über zehn Jahren entschied ich mich, ein paar wenige Freunde und Bekannte in Worten an meinem Leben teilhaben zu lassen. Vor über neun Jahren entschied ich mich, mit einer Kamera mein Leben zu dokumentieren. Vor über acht Jahren entschied ich mich, dem VfB mein Herz zu schenken. Und heute morgen entschied ich mich, aufzustehen und darüber zu schreiben, andere Fans daran teilhaben zu lassen.

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Manche nennen es „Baden im Selbstmitleid“ – doch für mich ist es Teil der Aufarbeitung, das Ende einer Woche und untrennbarer Bestandteil eines Fußballspiels. Mein Herz blutet, dessen könnt ihr euch sicher sein. Doch hat es euch eines Tages früher oder später hierher geführt, ihr wisst, wie das Spiel am gestrigen bitteren Nachmittag endete, und seid trotzdem hier. Manche zum Bilder anschauen, manch andere um ein wenig Trost zu finden, um zu erkennen, dass man mit seinem Kummer nicht alleine ist. Ihr seid es nicht.

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Es würde weit weniger weh tun, wenn ich gleich von einer wohl herben Niederlage des VfB ausgehe, dachte ich mir bereits Tage zuvor. In Leverkusen passierte nur selten etwas gutes, unvergessen natürlich die vergangene Saison, als der halbe Block nach dem 3:0 für Leverkusen (Endstand 4:0) das Stadion verließ, weil man einfach genug gesehen hatte. Punkte eingeplant hatten wohl die allerwenigsten, umso tragischer zermürbte uns das, was später folgte.

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Ohne Erwartungen auch kein Frust – oder?

Ich lachte, lächelte und freute mich, auf ein Wiedersehen mit Freunden, gutes Essen und bestenfalls gute Stimmung. Nur mit Glück und Geschick würde es allenfalls zu einem Punkt reichen, doch mit Cleverness war unsere Mannschaft zuletzt nicht wirklich bekannt geworden. Im Glauben, ich würde ohnehin schon wissen, was passiert (wie so oft), hielt sich auch die große Anspannung in Grenzen. Warum nervös sein, wenn der VfB das Spiel so oder so verliert? Ich hätte es ihnen noch nicht einmal übel genommen – das sagte sich zumindest noch leicht, als Felix und ich in den frühen Morgenstunden mit dem Auto aufgebrochen waren.

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Wirklich Wort gehalten hatte der Wetterbericht mit seinen 16 Grad nicht, doch Felix hielt Wort und zog sich nach Ankunft im Wohngebiet nahe des Stadions seine kurze Hose an. Sei es drum, dachte ich mir, und hatte mich wortwörtlich warm angezogen. Der gleiche schlammige Weg wie die letzten Jahre, das gleiche dumpfe Gefühl der drohenden Niederlage, das gleiche ungute Gefühl, wann immer sich das Metallgestänge der BayArena vor mir erhebt. Und trotzdem war ich hier, als eine von 2.500 Fans, die geahnt haben, man würde später nicht unbedingt mit drei Punkten die Heimreise antreten können.

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Einige Stunden waren es noch hin, der Weg führte uns zunächst in ein nahegelegenes Lokal unweit des Stadions, Kaffee, Mittagessen, die Ruhe vor dem Sturm genießen. Nebenan im Ulrich-Haberland-Stadion schauten wir uns die Traditionsmannschaften beider Vereine an, jubelten, bruddelten und gaben unqualifizierte Kommentare und freuten uns am Ende über ein 1:1. Mit den Worten „Das Ergebnis würde ich nachher auch gern nehmen“ liefen wir rüber und nahmen unsere Plätze ein, wie in jedem Jahr, dass für VfB-Fans meist bitter endete. Doch das alleine hatte die wenigsten von uns je aufgehalten.

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Ein weiß-rotes Lazarett

Die letzten Minuten vergangen bis zum Anpfiff, ich fand meinen Platz in der linken oberen Hälfte, das Spielfeld zwar verdeckt durch den Metallzaun, doch mit guter Sicht auf einen hoffentlich lauten und bunten Support einer unentwegten Anhängerschaft. Die Leverkusener Nordkurve schrie ihre Mannschaftsaufstellung, einen Namen hatte ich dabei jedoch nicht erwartet: noch wenige Stunden zuvor saßen wir zu Tisch und ich zeigte mich erleichtert, Stefan Kießling würde wohl wegen Hüftproblemen ausfallen. Er stand in der Startelf, das Schlimmste war zu befürchten. Gegen niemanden trifft er so gerne wie gegen uns.

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Kein Christian Gentner. Kein Serey Dié. Kein Daniel Ginczek. Kein Filip Kostic. Es gab schon bessere Vorzeichen. Besonders letztere Drei fehlen uns schmerzlich, doch was sollte man schon groß dagegen tun? Der Kader ist und bleibt ein Streitthema, insbesondere in der Abwehr soll und muss im Winter nachgebessert werden, eine Tatsache, die nach Ende dieser Partie nur noch offensichtlicher wird. Dr. Felix Brych gab die Partie frei, von der wir uns später wünschen würden, wir könnten sie mit einem Fingerschnipp vergessen machen.

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Sie machten das ordentlich in der ersten Halbzeit, das mussten wir wohlwollend anerkennen und die zunächst nur verhaltene Stimmung im Gästeblock wurde ein wenig besser. Einige Chancen spielten sie sich heraus, doch es wäre nicht der VfB, wenn er sie nicht ungenutzt ließe. Je länger es 0:0 stehen würde, desto besser, ein einigermaßen glimpfliches Ende war doch alles, dass es zu erhoffen galt. Hinten standen sie weitgehend gut gegen einen Champions League Teilnehmer, dem ein Acht-Tore-Spiel am vergangenen Dienstag in den Knochen steckte, sie hatten Kräfte gelassen, das war jedenfalls anzunehmen.

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Ordentliche erste Halbzeit

Die Gastgeber kamen immer besser ins Spiel, doch noch hielt die Defensive, nicht mehr als eine kurze Momentaufnahme. Wie leicht es mitunter ist, Tore gegen uns zu schießen, zeigten die bis dato 19 Gegentore in dieser Spielzeit, somit durchschnittlich zwei Gegentore pro Spiel. Dem aktuellen Frieden konnte ich nicht trauen, 45 Minuten hatte Leverkusen Zeit, das unter Beweis zu stellen, was ihre eigenen Ansprüche sind, und wer sich den Luxus erlauben kann, einen Karim Bellarabi von der Bank zu bringen, über dessen Ambitionen scheint doch vermutlich schon alles gesagt.

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Auf der kalten Betonstufe des Gästeblocks verbrachte ich die Halbzeitpause, erst kurz vor Wiederanpfiff erhob ich mich, in der Hoffnung, vielleicht ein Tor in unmittelbarer Nähe zu sehen, denn es war der von Bernd Leno gehütete Kasten. Für Carlos Gruezo kam Arianit Ferati, ein 18-Jähriger für einen 20-Jährigen. Dem Frieden wollte und konnte ich nicht trauen, wenngleich ich das torlose Unentschieden mit Kusshand genommen hätte.

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Wir ahnten ja noch nicht, was noch vor uns lag. Ich sitze jetzt hier am Sonntagnachmittag, weiß nun, was noch vor mir liegt, jedes einzelne Gegentor und jeder Stich ins Herz. Wehmütig winde ich mich auf dem roten Drehstuhl im Arbeitszimmer, versuche unfreiwillig eine Ablenkung zu finden, als wäre mir nicht schon bewusst, dass es keinen Zweck hat. Als ich mein Herz an den VfB verschenkte, tat ich das mit voller Absicht, doch nicht ahnend, welchen Kummer er mir bereiten würde.

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Der Hammer ist zurück

Der Ball rollte wieder, ein paar wenige Minuten waren gespielt. Weit entfernt vom Tor gab es Freistoß, ein Fall für den offenbar in Richtung Leverkusen abwanderungswilligen Daniel Didavi, dem ein beklemmendes Gefühl nicht nachgewiesen werden konnte. Fünf Mann in weiß-rot, sieben Mann in rot-schwarz, als die Nummer Zehn zum Schuss ausholte, liefen sie allesamt an der Strafraumlinie los, der Moment, den ich auf Foto festhielt. Schlecht geklärt von Kevin Kampl, eine Kerze steil in die Luft, ungelenk, unplatziert und unsortiert, es brannte im Strafraum der Gastgeber. Kommt schon, irgendwer!

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Im ersten Moment konnte ich nicht genau erkennen, wer sich inmitten dieses Tohuwabohus zum langen Pfosten davongestohlen hatte, ich konnte nur noch sehen, wie der Ball mit dem einen Fuß gestoppt und mit dem anderen Fuß unter die Latte genagelt wurde. Alles schrie um mich herum und in der Sekunde, als ich eine nur allzu bekannte Jubelgeste an der Eckfahne entdecken konnte, erwischte mich die erste von mehreren heftigen Bierduschen. Er kann es doch noch, der Martin Harnik.

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Ein paar Dezibel machte es aus, der Gästeblock schien beflügelt und witterte Morgenluft. So richtig ausgelassen freuen konnte ich nicht, zu lange noch zu spielen, zu bitter noch die Erinnerung an Moritz Leitners frühes Tor Anfang Februar 2014, das am Ende durch das 2:1 kurz vor Schluss egalisiert wurde. Zu viele späte Gegentreffer, mit denen man am Ende ohne Punkte zurückblieb. Für ein paar Minuten verblieb ich mit Vorsicht, um dann doch hemmungslos herauszuschreien.

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Mit einem Drehschuss mitten ins Glück

Was war denn hier los? Wie ging das? Was ist passiert? Wo bin ich überhaupt? Und warum bin ich pitschnass? Alles davon war mir egal. Es war eine schnelle Körperdrehung von Daniel Didavi, mittig an der Strafraumgrenze, Bernd Leno war in die andere Ecke unterwegs und als der Ball vom Innenpfosten ins Netz kullerierte, war für einen Moment jeder vorsichtige Gedanke weit weg, jede Sorge um die Niederlage für einen Augenblick vergessen und die Hoffnung war so groß wie nie zuvor, dass er endlich wieder da wäre, der VfB Stuttgart, so oft gescholten, so oft gescheitert, zwei Tore in Front.

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Die Becher leerten sich über mich, meine Kamera war nass, schnell putzte ich sie ab mit dem weichen Innenflies meiner Kapuzenjacke, fiel den sichtlich begeisterten Engländern neben mir in die Arme und schlug mein rechtes Knie immer wieder unwissentlich gegen die Metallstange vor mir. Einen Moment der Schwerelosigkeit, in dem alles, wirklich alles in Ordnung schien, angetrieben von der Euphorie von 2.500 leidenschaftlichen Fans, die ihren Augen nicht trauen konnten und so laut schrien, wie es die Lungen nur hergaben.

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Ich wusste genau, wie groß meine Halsschmerzen am nächsten Tag sein würden und sah mich schon selbst breit grinsend am Rechner sitzen, mit einer Thermoskanne Kamillentee. Dabei sollte ich es doch eigentlich besser wissen, erst den Abpfiff abzuwarten, ich weiß doch ganz genau, wie sehr so etwas in die Hose gehen kann. Meinem dumpfen Bauchgefühl wollte ich zunächst nicht vertrauen, als kurz nach dem 2:0 Karim Bellarabi eingewechselt wurde, der ohne jeden Zweifel ein richtig guter Fußballer ist.

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Ein paar Minuten im Himmel

Prompt fiel das 2:1, dass so niemals hätte gegeben werden dürfen. Zwei Meter vor den Augen von Dr. Felix Brych riss Stefan Kießling den seit kurz vor Ende der ersten Halbzeit gelb verwarnten Toni Sunjic zu Bodens, ohne die Aussicht, an den Ball zu kommen. Zwei Meter und es hätte der Pfiff ertönen müssen, das Spiel unterbrochen und Freistoß, bzw. Abstoß geben müssen. Stattdessen kam der Ball zum eingewechselten Karim Bellarabi. Vielleicht haben wir das wenige Glück, das uns vergangene Woche zuteil wurde, schon wieder überstrapaziert.

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Sichtlich geschockt schienen sie nicht, wie auch wir, die wir weiter Vollgas gaben, schrien, klatschten, hüpften. Der Boden wackelte unablässig, als wir beobachteten, wie Lukas Rupp auf den frei gelaufenen Timo Werner weitergab, der sich bis zur Torauslinie durchtankte und wieder zurückgab auf den kurzen Pfosten, wo der Stand, von dem er den Ball erst bekommen hatte: nun durfte auch Lukas Rupp seinen ersten VfB-Treffer bejubeln. Ein traumhaftes Bild für die Götter. Eine weiß-rote Jubeltraube, im Hintergrund der am Boden liegende Bernd Leno.

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Aber Vorsicht: das Karma ist bekanntermaßen ein Arschloch. Das wussten wir allerdings noch nicht, als alles ein weiteres Mal wild durcheinander hüpfte, und ich im ohrenbetäubenden Getöse nicht verstand, wer oder was mich da mit Mayonnaise vollgeschmiert hat. Sie klebte überall, an meiner Jacke, in meinen Haaren, an meiner Kamera. Da ich ohnehin schon vom Bier durchnässt war, machte auch das mir nichts mehr aus, eine komplette Essenschlacht um mich herum, es würde mir nicht einmal etwas ausmachen, solange wir das 3:1 über die Zeit retten.

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Entfesselt

Immer wieder, immer lauter, „Und wenn die ganze Kurve tobt“, Herzrasen, Gänsehaut, Begeisterung. Am Tag danach sitze ich nun hier und frage mich, wie das alles passieren konnte. Zu wissen, wie befreit man doch gejubelt hatte, wie laut man schrie und wie sehr man dieses grenzenlose Glücksgefühl in seinem Herz gespürt hat, bis einem einfällt, wie man nach 90 Minuten zurück gelassen wurde, wie man mit einem Schlag in die Magengrube das Gleichgewicht verlor und in ein nie enden wollendes Loch gefallen war.

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Im Nachgang betrachtet hätte Alexander Zorniger reagieren müssen und die taktische Anweisung vom Spielfeldrand geben müssen, jetzt hinten die Schotten dicht zu machen, bevor man erneut ins offene Messer rennt. Es hatte bisher unheimlich großen Spaß gemacht, hier zuzusehen, doch um ganz sicher zu gehen, man würde mit Punkten wieder heim fahren, waren noch zu viele Minuten von einer packenden Partie zu spielen.

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Das letzte Wort schien noch nicht gesprochen, das spürte ich. Und ich hasse es, wenn die schlimmen Befürchtungen am Ende Wirklichkeit werden. Inwieweit das mit selbsterfüllenden Prophezeiungen zu tun hat, wage ich nicht zu beurteilen. Solange es anhielt, solange wollte ich es genießen in den Reihen einer begeisterten Anhängerschaft. Innerhalb von zehn Minuten waren vier Tore gefallen, würde es in dieser Taktung weitergehen, stünde uns noch einiges bevor. Zu Ende bringen konnte ich den Gedanken nicht.

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Aus dem Nichts zum Ausgleich

Der Schock fuhr uns in die Glieder, zehn Minuten nach Lukas Rupps 3:1 und jenem beglückenden Gefühl des wahrscheinlichen Auswärtssieges verkürzte Sebastian Boenisch auf 3:2 und ließ uns insgeheim doch schon das Schlimmste ahnen. Ich bin mir sicher, nicht die Einzige gewesen zu sein, die es befürchtet hatte. Hinten ging es zu einfach, Tore gegen uns zu schießen, erst recht nach Standardsituationen, ein nur zu bekanntes Leiden in dieser Spielzeit.

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Sie feierten noch den Torschützen und während die Hände über den Köpfen zusammen geschlagen wurde, fiel das 3:3. Binnen weniger Sekunden fielen beide Treffer und trafen und trafen uns schwer. Wie konnte das nur passieren, man führte doch gerade eben noch mit 3:1? Man freute sich doch so sehr, dass der Knoten geplatzt scheint? Was war nur geschehen, dass wir uns den Auswärtssieg noch streitig machen lassen konnten? Es wurde muxmäusschenstill, an der Stelle, wo eben noch alles vor Freude auf der Woge der Begeisterung gewesen war.

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In meinem Kopf drängte er unablässig nach vorne, der schlimmste aller Gedanken. Noch bevor ich die erschreckende Idee visualisieren konnte, dachte ich an den Tag vor fast einem Jahr. In Frankfurt führten wir 3:1, zwischenzeitlich lagen wir mit 3:4 zurück, kassierten den erneuten Ausgleich, bevor Christian Gentner am Ende mit dem 5:4 den Deckel draufmachte. Wir haben gesehen, dass sie es können, wir haben erlebt, wie es sich anfühlt, wenn du einen nicht für möglich gehaltenen Siegtreffer über die Linie buchsierst.

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Schockzustand

Flehentlich schaute ich auf das Spielfeld und versuchte mir vorzustellen, wie das 4:3 fallen für den VfB fallen würde. Doch dachte ich auch daran, was wäre, wenn es anders läuft. Arianit Ferati musste nach 35 gespielten Minuten wieder runter, für ihn kam sein alter Kumpel und Weggefährte Mart Ristl, der zu seinem Bundesligadebüt kam. Freistoß für Leverkusen, kurz vor der Strafraumgrenze, ein Fall für Hakan Calhanoglu. Mein rechtes Auge fing an, zu zucken. Nicht jetzt, nicht heute, nicht hier. Alles, nur das nicht, bitte nicht, ich flehe euch an.

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Beinahe konnte ich sehen, wie sich der Ball über der Mauer ins Netz senkt, ohne Przemyslaw Tyton eine Chance zu lassen, doch flog der Ball vorbei. Immernoch 3:3, doch viel zu wenig, wenn man zwei Mal mit zwei Toren in Führung lag. Auf der verzweifelten Suche nach Glück, doch wir fanden es nicht. Im Gegenteil, Wendells Kung-Fu-Tritt gegen Emiliano Insua blieb ebenfalls ungeahndet. Allerallerallerspätestens nach dem Ausgleich hätte man reagieren müssen, doch welchen Verteidiger hätte man bringen können?

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Wenigstens das Unentschieden mitnehmen, doch Alexander Zorniger wollte mehr und wechselte Jan Kliment ein, den nächsten Offensiven, der noch das 4:3 machen sollte. Nur noch wenige Minuten, und immernoch saß der eine Gedanke wie ein schmerzhafter Tumor in meinem Kopf. Ich hätte es wissen sollen, wann immer sich ein solcher Gedanke nicht von selbst verflüchtigen wollte, tat er das meist nicht aus gutem Grund.

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Wie konnte das nur passieren?

Wenige Sekunden vor Ende der regulären Spielzeit zog es uns den Boden unter den Füßen weg. Die rechte Abwehrseite war offen wie ein Scheunentor und nach 88 Minuten, in denen man Admir Mehmedi nur schwer in den Griff bekam, bestrafte er uns nach allen Regeln der Kunst. Platziert unter die Latte. Was haben wir VfB-Fans in unserem Leben nur verbrochen, dass man uns jetzt auf jede erdenkliche Art und Weise bestraft? Es war der Todesstoß in einer Partie, in der wir wie der sichere Siege ausgesehen hatten und uns die Butter vom Brot nehmen ließen.

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So blöd kann man doch eigentlich nicht sein. Doch, kann man – wenn man der VfB ist. Lange hörte man kein bisschen von der Nordtribüne, deren lautes Geschrei traf uns mitten ins Mark. Drei Minuten gab es für sieben Tore in einer Halbzeit obendrauf, in denen das Rückgrat aber schon auf derbe Art und Weise gebrochen war. Ein weiteres Mal kamen sie nicht zurück, um ca. 17:23 Uhr sackten ihre Körper auf dem Feld zusammen, sinnbildlich für die bisherige so schmerzhafte Saison. Doch am Ende blieb nur ein Gedanke: Selber schuld.

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Unfassbar. Man wusste nicht, was man sagen sollte. Unzähliges Kopfschütteln, der Schmerz, die Wut, das Unverständnis, und vor allem die Frage, wie das nur passieren konnte. Es stand doch 2:0? Es stand doch 3:1? Man konnte die Punkte doch fast schon schmecken? Wieder ohne Punkte, ohne Hoffnung, ohne Zuversicht. Während die einen sich haben feiern lassen, schlurften die anderen zum Gästeblock. Vereinzelte Pfiffe gab es, doch waren es meist wortlose Gesten, die die Runde machten: offene Arme und drei ausgestreckte Finger.

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Viele Fragen, keine Antworten

Was würde jetzt passieren? Macht die Mannschaft einige Meter vorm Gästeblock Halt, klatscht brav und kehrt uns dann erneut den Rücken? Es hätte laute Pfiffe gewesen, der Graben zwischen Mannschaft und Fans wäre fast unüberwindbar zwischen uns aufgebrochen. Martin Harnik marschierte voraus, wie er es schon oft getan hatte, er suchte das Gespräch, ging auf uns zu, statt von uns weg. Was da unten am Zaun gesprochen wurde, weiß ich nicht, doch ging es recht sachlich zu. Deutliche Worte, der allerletzte Schuss vor den Bug? Ich weiß es nicht.

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Minutenlang blieb ich regungslos im Block stehen, unter meinen Füßen schwamm noch die Bier, dass sich bei den Toren über mich ergossen hatte, meine Hände klebten und mein Auge zuckte noch immer. Verstehen konnte ich das alles nicht. Wortlos drückten sie sich an mir vorbei, Freunde von mir verließen das Stadion, ich konnte ihnen nicht einmal mehr in die Augen blicken und ihnen vernünftig auf Wiedersehen sagen. Ich konnte es einfach nicht, weder verstehen, noch ertragen. Da war sie wieder, die Frage, wieviel einem erspart geblieben wäre, wäre man niemals Fußballfan geworden.

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Felix kam zu mir, zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern, als wollte er sagen „So ist Fußball“. Ja, Fußball ist eben manchmal auch so. Wir feierten nach dem 5:4 in Frankfurt. Wir feierten nach dem 3:2 gegen Bremen. Wir feierten nach dem 2:1 in Paderborn. Wir wissen selbst, wie es ist, am Ende das eine glückliche Siegtor zu schießen. Doch wissen wir wohl besser als jeder andere, wie es sich anfühlt, das eine Tor gegen sich zu bekommen. Laut schreit man „Neiiiiiiiin!“, als könnten sie uns hören und doch noch irgendwie einen Fuß dazwischen halten, bevor man zum letzten Mal verstummt.

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Wortlos, punktlos, hoffnungslos

Lange hatte es gedauert, bis wie den Block verließen, auf dem Weg zur Toilette lerne ich noch eine Bekannte persönlich kennen, die meinen Blog rege verfolgt und die vom Ruhrpott aus dem VfB die Daumen drückt. Liebe Nicole, ich wünschte, es wären andere Umstände gewesen, unter denen wir uns erstmals persönlich getroffen hätten, entschuldige bitte meine Wortkargheit und meinen leeren Gesichtsausdruck, viel lieber hätte ich dich vor der Partie kennengelernt.

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Die Leverkusener Currywurst war das einzige gewesen, auf das ich mich am frühen Morgen noch gefreut hatte, durch das Spiel der Traditionsmannschaften und dem langen Verbleiben im Block waren die Imbissstände schon geschlossen. So zogen wir langsam von dannen, ein weiteres Mal in dem Glauben, es sei das letzte Auswärtsspiel in Leverkusen für mehrere Jahre gewesen. Spiele gibt es noch genug, um das zu verhindern, doch zuletzt fühlte ich mich so nach der Partie auf Schalke, als der Abstieg der vergangenen Saison besiegelt schien. Statt mich daran zu erinnern, was danach folgte, ließ ich den Kopf hängen. Es gab nichts mehr, was mir die Kraft gab, ihn hochzuhalten.

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Wortlos stieg ich ins Auto, auf der Autobahn klappte ich den Laptop auf und ging der Arbeit nach, die ich mir selbst auferlegt hatte: die VfB-Fangemeinde mit Fotos zu versorgen. Fotos von einem Spiel, die uns auf schmerzliche Weise daran erinnern sollten, wie grausam unser liebstes Hobby sein kann, der Torjubel unserer euphorisch aufspielenden Mannschaft, die am Ende ohne Punkte dasteht und sich die Frage gefallen lassen musste, wie sie es nur soweit hatte kommen lassen.

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Alleine in der Dunkelheit

Ein Baldriantee sollte mich zumindest schnell einschlafen lassen, doch lähmten mich massive Beinschmerzen in der Nacht, der Gang zum Phlebologen wird wohl unausweichlich. Als ich schließlich doch einschlief, träumte ich davon, dass alles anders gelaufen wäre. Dr. Felix Brych hätte das Foul an Toni Sunjic gepfiffen, Arianit Ferati hätte das 4:1 gemacht und um ca. 17:23 Uhr wären wir uns gemeinsam in die Arme gefallen und hätten die Wiederauferstehung des VfB gefeiert, der sich fortan auf seine Stärken berufen und die Punkte mit Leidenschaft einsammeln würde.

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Kein Wecker klingelte. Die Uhr zeigte elf Uhr, wobei es noch eine Stunde aufgrund der erfolgten Zeitumstellung abzuziehen galt. Eine Stunde länger Frust, so könnte man es auch sehen. Nur schwer kam ich in Gang, das Gefühl, man wäre von einem Zug überrollt worden. Ein schwerer Kopf und noch schwerere Beine. Ich hatte die Niederlage einkalkuliert. Warum tat es mir dann trotzdem so weh? Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist offensichtlich: das „Wie“.

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Den ganzen Tag nun beschäftigte ich mich mit dieser Frage, malträtierte mich selbst mit diesen Zeilen und mit dem Anschauen des kompletten Spiels, sitze noch hier mit einem Kloß im Hals und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Optimisten würden wohl sagen, dass es schon irgendwie weiter geht, egal wie. Noch immer liege ich am Boden, voller Blut. Ich sehe nichts, ich höre nichts. Nichts übrig als die Frage, ob jemand zur Rettung kommt und ein wenig Licht in die Dunkelheit bringt.

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