Fassungslos stand ich da. Wenige Sekunden, bevor Manuel Gräfe die Partie beenden konnte, riss es uns den Boden unter den Füßen weg. Noch einmal Freistoß für den HSV, das 1:1 würde uns nicht reichen, das wussten wir. Raffael van der Vaart trat an, bange Blicke in der Cannstatter Kurve, der Angstschweiß saß uns auf der Stirn. Da flog er, der Ball, direkt auf den Kopf von Gojko Kacar, der nur noch einnicken musste. Daniel Schwaab war den einen Schritt zu spät, Sven Ulreich war ohne Chance. Bruno Labbadia kannte kein Halten mehr und rannte zur Eckfahne, wo der Torschütze zum 1:2 unter einer Jubeltraube von Hamburgern begraben wurde.

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Der Ellenbogen meines Vordermanns riss mich aus meinem Tagtraum. Lautstark brüskierte er sich über die Nachspielzeit von vier Minuten. Ich stand immernoch da, wo ich in meinem Traum stand, doch stand über uns auf der Anzeigetafel ein 2:1 in großen weißen Lettern. Jetzt bloß keinen Mist machen. Die Zwischenergebnisse der Konkurrenz hatten die Runde gemacht, Hannover führte in Augsburg und die Freiburger hielten beharrlich ein 1:1 gegen die Bayern fest. Etwas anderes als einem Sieg kam heute damit nicht in Frage, selbst ein Unentschieden wäre nicht genug.

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Eine Woche der gefühlten Schlaflosigkeit, der inneren Unruhe und der wachsenden Anspannung lag hinter mir, als ich am Samstagmorgen mit einem verspannten Nacken meine Augen geöffnet hatte. Wir haben schon so viel mitmachen müssen, doch muss der VfB unsere Nerven wirklich bis zum allerletzten Moment strapazieren? Er muss, denn vor wenigen Monaten hatte wahrlich nichts darauf hingedeutet, es noch aus eigener Kraft schaffen zu können. Wir hatten resigniert und unsere Hoffnungen auf den Klassenverbleib heimlich, still und leise zu Grabe getragen. Doch unser Glauben kehrte zurück.

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Schreckensszenarien und andere dunkle Gedanken

Was wäre, wenn man sie schon viel früher in dieser Konstellation hätte spielen lassen können? Kein Tag vergeht, an dem ich mir nicht diese eine Frage stelle. Schon längst wären wir aller Abstiegssorgen ledig und würden das Feld von hinten aufgerollt haben. Wer weiß, wozu wir im Stande gewesen wären. Eine Entscheidung, die einst aus der Not und auch aus dem medialen Druck gefällt wurde, sie war rückwirkend der Grundstein für eine fast schon vergessen geglaubte Offensivkraft, die die Mannschaft in den letzten Wochen entwickelt hat.

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Man könnte fast sagen, dass man in dieser Form vor Nichts und Niemanden Angst haben muss. Das gilt aber nicht für mich – ich habe vor so vielen Dingen Angst. Vor dem Abstieg, vor der Reaktion der Fans, vor späten Gegentoren (nicht zu Unrecht), und ja, auch vor Bruno Labbadia. Etwas mehr Gelassenheit würde mir gut tun. Das höre ich oft. Sehr oft. Und doch kann ich mich der Gedanken nicht verwehren, die mir im Kopf herumschwirren und mich alle Schreckensszenarien entwickeln lassen, statt der Mannschaft das Vertrauen zu geben, das sie verdient hat.

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Ich will ja glauben – doch habe ich Angst davor, dass es schief geht, wenn es nicht mehr schiefgehen soll. Zwei Drittel der Saison hatten sie scheinbar verschlafen, nun sind sie erwacht aus ihrem Dornröschenschlaf, es wurde aber auch allerhöchste Zeit. Wir hatten uns vor nicht allzu langer Zeit die Frage gestellt, gegen wen dieser unfähige Stümperhaufen denn noch gewinnen will, nachdem sie bereits so unzählig viele Punkte liegen gelassen hatten. Die Antwort haben sie uns mittlerweile gegeben, was bleibt, ist trotz allem ein Szenario, vor dem uns auch der Sieg gegen Hamburg nicht bewahren kann.

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Hilfe, meine Nerven!

Wohin ich auch schaute, was ich auch gelesen hatte, wen ich auch fragte, überall konnte die Anspannung kaum größer sein. Die Freude über den Sieg gegen Mainz war noch recht verhalten, hatte man doch noch nichts erreicht und mit Hamburg den wesentlich schwierigeren Gegner erst noch vor der Brust. Der HSV bereitete nicht nur mir große Sorgen mit ihrer fast schon unnachahmlichen Art, hässlichen Fußball zu spielen, doch er war zumindest zuletzt recht erfolgreich. Deren später Ausgleich gegen Freiburg ließ unsere Befürchtungen größer werden, auf einen Gegner zu treffen, der sich mit allen Mitteln wehrt, und wenn es sein muss, auch mit unfairen.

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Je länger ich darüber nachdachte, desto unruhiger wurde ich. Einfach nicht drüber nachdenken, wäre da die nervenschonendere Alternative gewesen. Doch seit wann existiert die Logik an Orten, wo Pathos herrscht? Schon am Abend kreisten meine Gedanken um das Spiel, von dem man wusste, es könnte schon den sicheren Abstieg bedeuten. Ich erinnerte mich an all jene, die lachten, als der HSV Bruno Labbadia verpflichtet hatte, und wie schnell ihr Lachen verstummt wäre, wäre er es gewesen, der uns in die zweite Liga geschickt hätte.

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Alle waren aufgerufen, in einem weißen Trikot oder Shirt am Cannstatter Bahnhof zu erscheinen – was klang wie die Einladung zur alljährlichen Heimsaisoneröffnung mit der legendären Karawane Cannstatt ist in Wahrheit ein beeindruckender Beweis unendlicher Treue und Leidenschaft, wenn man in den dunkelsten Stunden noch einmal enger zusammenrückt. Aller Widrigkeiten zum Trotz hat man sich gemeinsam aufgerafft, um noch einmal alles für den Verein zu geben. Denn an uns soll es zu keinem Zeitpunkt gelegen haben.

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Schritt für Schritt

Über eine halbe Stunde vor der vereinbarten Uhrzeit trafen wir vor dem Bahnhofsgebäude an, zahlreiche Brustringträger im weißen Trikot waren bereits versammelt, minütlich wurde mehr und mehr der Vorplatz geradezu geflutet, wer kein weißes Trikot am Leib trug, war entweder ein HSV-Fan oder hat von dem Aufruf trotz aller Kundgebungen nichts mitbekommen. „Alle in Weiß gegen den HSV“ lautete das Motto, das voll aufzugehen schien. Kurz nach 13 Uhr setzte sich die weiße Menge in Bewegung, lautstark, leidenschaftlich und vor allem hoffnungsvoll.

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Durch die Straßen Cannstatts marschierten die Fans eines Tabellenletzten, für viele Außenstehende nahezu unvorstellbar. Es fühlte sich ein wenig wie die reguläre Karawane an, man stelle sich nur vor, sie wäre es und man fängt einfach von Null an. Doch waren es nicht die Kölner zum ersten Heimspiel, gegen die sich der VfB am zweiten Spieltag behaupten musste, es waren die Hamburger am zweitletzten Spieltag eine nahezu völlig verkorksten Spielzeit, deren konkretes Ende bis zum letzten Spieltag, womöglich sogar darüber hinaus, unklar sein wird.

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Schnellen Schrittes lief ich vorweg, die Kamera ratterte, die Sonne prallte ins Gesicht, Schritt für Schritt auf dem Weg zu einem weiteren Spiel der Kategorie „Alles oder Nichts“. Das „Nichts“ war keine Option, sonst wäre die Saison am Samstagnachmittag mit dem Abstieg besiegelt worden, ein fürchterlicher Gedanke, der einen lähmen konnte. Viele Möglichkeiten gab es nicht, die Ansage war klar: einfach drei Mal gewinnen. Einfach.

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Die weiße Wand

Angespannt lief ich die Treppenstufen herunter, so wie ich es bereits unzählige Male getan habe. Das letzte planmäßige Heimspiel der Saison 2014/2015, es konnte beginnen, und so reihte ich mich wortwörtlich ein in eine weiße Wand, die mittlerweile jegliche Aussagen über das verwöhnte und bruddelnde Stuttgarter Publikum relativiert hat. Hier stand ich an meinem Platz, wie jedes Heimspiel, die selben Leute um mich herum, wie jedes Heimspiel, doch eine Anspannung, die irgendwie anders war als sonst. Den Gedanken vom drohenden sofortigen Abstieg, ich konnte ihn nicht abschütteln.

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Mit tosendem Applaus begrüßte man die Mannschaft zum Aufwärmen, wild gestikulierten wir und hatten ihnen „Auf geht’s, gebt alles!“ zugerufen. Bereits gegen Mainz zeigten wir ihnen ein Transparenz, auf dem „Niemals aufgeben!“ zu lesen war, heute zeigten wir es ihnen in noch größerer Ausführung. Auf die Konkurrenz können sie nicht hoffen, sie müssen es schon selber richten. Und genau bei diesem Gedanken wird einem Pessimisten schwarz vor Augen. Wo soll das nur hinführen?

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Trotz aller Angst, als vor 60.000 Zuschauern im ausverkauften Neckarstadion die Mannschaften einliefen, fühlte man nur eines: Zuversicht. Im Gästeblock brannten die Hamburger indes ein nettes, ansehnliches Feuerwerk ab, als wir unsere Stimmen erhoben und ohne Rücksicht auf Verlust alles geben wollten, was uns lieb und teuer war. Es war egal, ob wir am nächsten Tag heiser sind, dass uns die Gliedmaßen schmerzen und wir keinen Fuß mehr vor den anderen setzen können, nur eines war wichtig: die bedingungslose Unterstützung einer Mannschaft, die diese auch zu schätzen weiß.

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Ganz viel Pathos

Keine fünf Minuten waren gespielt, und ich kann ohne Flunkerei behaupten, Zeit meines Fanlebens (was zwar noch nicht wahnsinnig lange ist, aber sei es drum) niemals einen lauteren VfB-Wechselgesang zu Ohren bekommen zu haben. Nach all den erfolglosen Heimspielen in dieser Spielzeit, nun war die Zeit gekommen, all das vergessen zu machen, wenn man denn jetzt nur noch ein paar Mal alles gibt, was man kann, und mehr als das. Es war an der Zeit, über sich selbst hinauszuwachsen, Mauern zu durchbrechen und Taten zu vollbringen, die man nicht für möglich gehalten hatte.

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Es fehlte an Präzision auf dem Feld, der Druck war der Mannschaft ein wenig anzumerken in den ersten Spielminuten, die Pässe kamen nicht an und die ersten vorgetragenen Angriffe waren noch nicht komplett durchdacht. Doch wer konnte hier schon die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erwarten, wenn hier zwei Abstiegskandidaten in höchster Not aufeinander treffen? Hacke, Spitze, Eins zwei drei? Man musste unbedingt gewinnen, um noch eine Chance auf den direkten Klassenerhalt zu haben, das wussten die Mannschaft genauso gut wie wir.

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Das spielerische Momentum lag unumstritten beim VfB, der sich in den letzten Wochen auf eine beeindruckende Art und Weise gemausert hat, das kämpferische Momentum beim HSV, der beißt, kratzt und trotz der unansehnlichsten Spielanlage der Liga immer wieder punktet. Wer sollte da am Ende das größere Momentum haben? Die Angst war jeweils der größte Gegner, ist aber auch jeweils der schlechteste Berater. „Lass die Jungs mal machen, vertrau ihnen, die gewinnen das schon“ – wenn ich doch nur ein offenes Ohr für so viel Zweckoptimismus gehabt hätte.

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Das war so aber nicht geplant

Ein schnelles Tor für den VfB und noch im ersten Durchgang ein zweites, so konnte man den Hamburgern den Zahn ziehen, hieß es. Und doch kam es anders als gedacht, und vor allem schneller als gedacht. Ein Freistoß für die Gäste vor den Augen einer Cannstatter Kurve, die viele Ärgernisse über sich hatte ergehen lassen müssen. Er konnte mich nicht hören, trotzdem schrie ich Christian Gentner zu, er könnte den Pierre-Michel Lasogga doch beim Freistoß nicht so alleine stehen lassen. Der Ball kam, doch nicht auf den, den ich befürchtet hatte, sondern auf den, den ich hätte befürchten müssen. Immer wieder Gojko Kacar, letzte Woche gegen Freiburg, heute gegen den VfB.

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Mit weit ausgebreiteten Armen rannte er Richtung Gästeblock, an mehreren Stellen auf Haupt- und Gegentribüne sowie der Untertürkheimer Kurve sah ich hochgerissene Arme in blauen Trikots. Unter Schock konnte ich nur mit anhören, wie aus der anderen Ecke des Stadions ein lautes „Niemals zweite Liga“ schallte. Man hörte es deutlich, denn die Stimme der Kurve war für einen kurzen Augenblick gebrochen. Was nun, VfB? Ich denke, ich liege richtig mit meiner Annahme, vor einigen Monaten noch wären hier bereits die ersten Pfiffe von der Haupttribüne gekommen. Doch nicht heute. Nicht in diesen stürmischen Zeiten. Und genau das ist das Faszinierende daran.

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Kurz geschüttelt, weiter geht’s. Was ganz einfach und doch so unwahrscheinlich klingt, wurde hier direkt vor meiner Nase demonstriert. Binnen einer Minute war die Kulisse wieder da, lauter, leidenschaftlicher, ungebrochener, als hätte es den Rückstand nie gegeben, gar als hätte der VfB das frühe Führungstor erzielt. Der Mannschaft war der Rückstand trotz allem noch ein paar Minuten länger anzumerken, doch nach gut fünf weiteren Zeigerumdrehungen zeigte sich wieder das Bild eines VfB, der zuletzt keine mentale Gemeinsamkeit mehr zu dem VfB von vor einigen Monaten mehr aufwies.

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Neue Hoffnungen

Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Rückstand fast schon automatisch die Niederlage bedeutete, nicht zu fassen, dass die meisten diese Mannschaft schon abgeschrieben hatten, wenngleich ich auch dazu gehörte. Sie taten wieder mehr fürs Spiel, angepeitscht von allen Fans, denen bewusst war, dass man es nur gemeinsam schaffen kann. Wir stehen zusammen und wir fallen zusammen, die Zeit für kritische und berechtigte Fragen werden wir uns in der Sommerpause nehmen, soviel ist sicher.

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Die neu entdeckte Offensive hat uns in den letzten Wochen am Leben gehalten, ohne Daniel Ginczek, Filip Kostic und Martin Harnik wären das Schicksal, dass ich nach dem Pokal-Aus in Bochum bereits prophezeit hatte, womöglich schon längst wahr geworden. Der Duft des Jubels liegt in der Luft, wann immer eine Flanke in den Strafraum kommt, wer hatte das bei den unzähligen torlosen Heimpartien schon ahnen können. Es war die unscheinbare Flanke von Daniel Schwaab, die Marcell Jansen direkt in den Lauf von Christian Gentner abfälschte.

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Momente, in denen du die Luft anhälst. Wirklich gesehen habe ich es nicht, ich sah nur meinen Leipziger Landsmann René Adler, wie er die kurze Ecke zumachte und sich möglichst breit vor unserem Kapitän aufbaute, weit hatte er die Arme geöffnet und vergrößerte seine Körperoberfläche. Ich kenne René Adler, der ist beileibe kein Schlechter, das war er noch nie. Das alles war mir aber egal, in dem einen Moment, als Christian Gentner den Ball genau dorthin schob, wo René Adler nicht sein konnte: zwischen seinen geöffneten Beinen knallte der Ball über die Linie.

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Machts noch einmal!

Flatsch, flatsch, flatsch. Mit einem Taschentuch tupfte ich vorsichtig meine Kamera ab, die ein paar Spritzer Bier abbekommen hatte, bevor ich mich dem Abklatschen und Umarmen meiner Mitmenschen widmen konnte. „Wir werden niemals untergehen, solange unsre Fahnen wehen“, nie waren diese Worte wichtiger, bezeichnender und bedeutsamer als in dieser spannenden Schlussphase der Saison. Nina war als Glücksbringer an meine Seite zurückgekehrt, die Gänsehaut auf ihren Armen schien stellvertetend für alle Emotionen, die sich hier Bahn gebrochen haben.

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Zwei weitere gute Gelegenheiten nur wenige Minuten später blieben ungenutzt, trieben uns aber nur umso mehr an, und wenn man dachte, es könnte nicht mehr lauter werden, legte die Kurve noch einmal ein paar Dezibel drauf. Weiter, weiter, immer weiter, alle Beteiligten, alle Spieler, alle Fans! Noch gut zehn Minuten waren in der ersten Halbzeit zu spielen, als Filip Kostic vor dem Gästeblock zum Eckball antrat. Noch einmal zog er sich die Stutzen hoch und atmete tief durch, bevor er bis zur Bande am Spielfeldrand Anlauf nahm.

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„Lieber Fußballgott, bitte lenke diesen Ball irgendwie ins Tor, du hast uns doch nicht gegen Frankfurt, Bremen und Mainz gewinnen lassen, um uns hier und heute absteigen zu lassen“ flüsterte ich wortlos in mich hinein, als der Serbe den Eckball trat. Ich hielt den Atem an, als ein Kopfball auf den langen Pfosten die Ecke verlängert hatte. Dort stand Martin Harnik, ewig lange gescholten als Chancentod, der stets unter seinen Möglichkeiten blieb, doch hier zog er eiskalt ab. Das Netz sah ich zappeln und verlor den Boden unter den Füßen, denn ich schwebte nun sprichwörtlich über ihm.

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Affentheater im Neckarstadion

Jürgen Klinsmann sagte einst „Das sind Gefühle, wo man schwer beschreiben kann“. Er wird gewusst haben, was er meinte, schließlich trug auch er einmal das Trikot mit dem roten Brustring. Was ich aufgrund des über mich hineinstürzenden Jubelsturms nicht für voll genommen hatte, genoss ich dafür nun umso mehr auf der Anzeigetafel, die das Tor in der Wiederholung zeigte. Zur Eckfahne drehten sie ab, Martin Harnik, Daniel Didavi, Daniel Ginczek und Antonio Rüdiger und machten sich im wahrsten Sinne des Wortes zum Affen. Unter der Woche von Huub Stevens noch im Training als Affen bezeichnet, antworteten sie hier nun auf ihre ganz eigene Weise.

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Seit gestern Abend habe ich mir die Szene unzählige Male angesehen, jedes Mal huschte mir das breite Grinsen über die Lippen, wohlwissend, dass am Ende alles gut gegangen war. Doch auch hier vermag ich den Gedanken nicht zu vertreiben, wie sehr sich der VfB doch zum Affen hätte gemacht, wenn es am Ende nicht zum Sieg gereicht hätte. Der Boden bebte, als die Kurve Arm in Arm ein geschlossenes 1893 hüpfte. Von den Hamburger Fans kam nunmehr das, was auch ihre Mannschaft zeigte: Nichts.

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Wie es meinem Chef wohl gerade geht, der in Lissabon Kurzurlaub machte und mich kurzerhand zum SMS-Ticker verdonnert hatte? Drei SMS hatte ich ihm bisher geschickt, es hätten durchaus noch mehr werden können. Fürs erste verabschiedeten wir die Mannschaft mit Applaus in der verdienten Führung und dem ebenfalls verdienten Applaus in die Kabine, doch noch lagen die Nerven blank. Man mag sich nicht ausmalen, was wäre, wenn das hier trotzdem noch schief geht.

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Wehe, wenn sie losgelassen

Ein Spielverlauf wie der auf Schalke – als wären meine Knie nicht schon weich genug gewesen, so verfolgte mich die Angst davor bis hin zum Schlusspfiff. Jetzt ein Nervenberuhigungsmittel, das hätte durchaus etwas. Noch ahnte ich nicht, wieviel Geduld wir im zweiten Durchgang noch haben müssten. Ich erinnerte mich an Filip Kostics 2:0 in der Woche zuvor gegen Mainz, das entscheidende Tor zehn Minuten vor dem Schluss, es löste die Anspannungen und befreite uns. Hier das 3:1 machen und uns Fans ein kleines bisschen weniger zittern lassen.

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Man kann ihnen nicht vorwerfen, sie hätten es nicht versucht. Einzig und allein René Adler hatte etwas dagegen, dass ihm hier die Tore um die Ohren geflogen sind, die Chancen dazu gab es. Ob Daniel Ginczek, Martin Harnik oder auch Daniel Didavi, jeder von ihnen hatte weitere Tore auf dem Fuß. Doch fallen wollte das dritte Tor nicht, eine nervliche Zerreissprobe begann, die jedem von uns unheimlich viel Kraft abverlangte.

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Wir sangen und schrien weiter, absolutes Vollgas, auf dass am Ende drei Punkte zu Buche stehen und man mit einer guten Ausgangsposition nach Paderborn fahren kann. Doch noch war es nicht soweit, noch stand es „nur“ 2:1 und je energischer sie anrannten, und je mehr Torschüsse der beste Hamburger auf dem Platz abwehrte, desto größer wurde meine Unruhe. Bange Blicke auf die Anzeigetafel, auf der die Uhrzeit so viel langsamer als sonst zu laufen schien.

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Chancen für ein 5:1

Wir alle kennen das Sprichwort, nachdem der bestraft wird, der seine Chancen nicht richtig nutzt. Schon im Heimspiel gegen Freiburg hätte es 4:0 stehen können, dann wären die beiden Freiburger Tore am Ende nicht mehr als ein ärgerlicher Makel in unserem Torverhältnis gewesen. So bleibt am Ende die größte Angst, sich am Ende um den durchaus verdienten Lohn zu bringen, denn wir wissen alle, dass gerade beim VfB kein Sieg sicher geglaubt werden soll, bis der Unparteiische die Begegnung für Beendet erklärt.

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Ich hatte bereits geahnt, dass es ein knappes Ergebnis werden könnte, dass die Möglichkeiten zu einem 5:1 dagewesen waren, ist das einzige, was man ihnen vorwerfen kann, wenn überhaupt. Ich zitterte am ganzen Leib, mir lief es abwechselnd heiß und kalt den Rücken herunter, je nachdem, wer gerade im Ballbesitz war. Vermochte ich bereits vor der Partie die Spannung kaum auszuhalten, sah ich mich nun hoffnungslos überfordert. Wenn schon wir Fans so viel Druck verspüren, wie mag es dann den Spielern auf dem Rasen gehen?

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Stets dann, wenn du es nicht brauchst, will die Zeit einfach nicht vergehen. Die letzten Minuten wurden zum Nervenkrieg für uns alle, wir sangen weiterhin unsere Lieder, doch in unseren Gedanken schrien wir nur eines: „Vergeigt das jetzt bloß nicht!“, alle paar Sekunden schaute ich auf die Uhr, in der Hoffnung, die Zeit würde schneller vergehen, doch sie tat es nicht. So oft haderten wir mit dem einen Tor, was wir nicht mehr geschossen hatten. Und heute?

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Zittern, Bangen, Hoffen

Vier Minuten packte Manuel Gräfe mit drauf, ohne dass ein Tor im zweiten Durchgang gefallen war oder es sonstige lange Unterbrechungen gab. Diese Spannung hälst du ja im Kopf nicht aus. Felix saß heute auf der Untertürkheimer Kurve mit bestem Blick auf die weiße Wand, zwei Minuten lang hielt er ohne Unterlass die Kamera auf Sven Ulreich gerichtet, im Bestreben, den einen Moment des Abpfiffs festzuhalten. Tick. Tack. Tick. Tack. Tick. Tack. Herrgott nochmal, pfeif doch endlich ab. Vier Minuten fühlten sich an wie Stunden.

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Noch einmal Freistoß für den VfB vor der Kurve, nur noch wenige Sekunden. Um ca. 17:25 Uhr riss Filip Kostic die Arme hoch, schnappte sich den Ball und drosch ihn über das Ballfangnetz in den Block 32 der Cannstatter Kurve. Alexandru Maxim und Maskottchen Fritzle waren die ersten Gratulanten, hinzu kamen die anderen Protagonisten eines Spiels, das uns Fans alles abverlangte und uns am Ende trotz aller Spannung mit dem Gefühl des Sieges belohnte.

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Es war geschafft. Tausende Steine fielen von unseren Herzen, einmal tief durchatmen. Noch einmal sammelten sie sich im Mannschaftskreis, eine kurze Brandrede von Huub Stevens, die ich mit meinen bescheidenen Kenntnissen im Lippenlesen nur als eines entziffern konnte: „Noch einmal, Jungs, noch einmal, und dann haben wir es geschafft!“. Wo ihnen vor einigen Monaten noch die schallenden Pfiffe um die Ohren geflogen sind, erhielten sie hier nichts als lauten Jubel. Nur noch einmal zusammenreißen!

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Der letzte Schritt zum Glück

Sie ließen sich abklatschen und drehten die Ehrenrunde durchs Stadion, während auf der Anzeigetafel die Ergebnisse der Konkurrenz gezeigt wurden. Eben war die Freude über den Sieg noch groß, doch sie wich schnell der Ernüchterung. Hannover brachte die Führung ins Ziel, doch die Freiburger gewannen gegen Bayern München, der seit Erreichen der Meisterschaft nur noch ein Schatten seiner Selbst ist. Zwar gaben die Freiburger alles, doch ein Geschmäckle bleibt, nicht wenige nehmen das Wort „Wettbewerbsverzerrung“ in den Mund. Zumindest Paderborn kassierte am Ende nach einer engagierten und gar überlegenen Leistung noch die Niederlage.

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So konnte man sich nicht so richtig freuen, denn wir waren nun lediglich auf dem Relegationsplatz. Trotz allem gingen die Köpfe nach oben, die stolzgeschwellte Brust müssen gut 2.000 Stuttgarter mit nach Paderborn mitnehmen und dort die Mannschaft zum Sieg schreien. Es ist möglich, kämpferisch, spielerisch, doch keinesfalls selbstverständlich. Lange verblieben wir noch vor den Toren des Stadions und verabschiedeten noch Kumpel Eric aus Sachsen-Anhalt, den ich einst in Köln kennengelernt hatte. Dank Felix’ nicht benötigter Dauerkarte war es ihm möglich, dem beizuwohnen, ich denke, er hatte insgesamt ein tolles Wochenende in Stuttgart.

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Langsam trotteten wir heimwärts, doch immer wieder erwischte ich mich dabei, mir Gedanken über alle möglichen eventuell eintretetenden Horrorszenarien zu machen. Was, wenn der VfB nicht über den Relegationsplatz hinweg kommt? Was, wenn uns dort der KSC erwartet (der heute auch tatsächlich wieder Dritter wurde)? Was, wenn wir doch verlieren und direkt absteigen? Anderenfalls: ich hatte uns schon einige Male diese Saison als Absteiger gesehen. Ich hatte mich einige Male geirrt. Da kommt es auf das eine Mal nun auch nicht mehr an. Packen wir es an – nur noch einmal zusammenreißen, nur noch einmal alles geben, nur noch einmal siegen!

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