Die Angst stand mir deutlich ins Gesicht geschrieben, mein Herz raste und eiskalter Schweiß rannte mir den Rücken hinunter. Meine Knie schlotterten, mir war abwechselnd heiß und kalt. Vor meinem inneren Auge sah ich es schon, das späte Gegentor, die jubelnden Hamburger, die frustrierte Cannstatter Kurve. Wie nah das pure Glück und die bittere Verzweiflung beieinander liegen, zeigt oft nur ein einziger kleiner Moment. Gerade eben fürchtest du noch, dass dir das Rückgrat gebrochen wird, im nächsten Augenblick schreist du dir die Seele aus dem Leib, weißt nicht wo oben und unten, vorne und hinten ist, liegst mit Tränen in den Augen in den Armen deiner Mitmenschen und fragst dich, wie du nur für eine Sekunde daran zweifeln konntest.

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Am nächsten Morgen mit einem grenzdebilen Dauergrinsen aufzuwachen, gehört noch immer zu den schönsten Dingen, die man als Fußballfan erleben kann. Vor einigen Monaten noch sah unser Alltag noch wesentlich trister aus. Viel Lebensfreude bot uns der VfB nicht, Niederlage um Niederlage mussten wir erdulden, nur gelegentliche Punkte pflasterten unseren Weg in Richtung Winterpause, die wir alle sehnlichst herbeiwünschten. Und dann kam Jürgen Kramny. Der kumpelhafte Typ, der ein wenig an Thomas Schneider erinnerte, der zur falschen Zeit am rechten Ort war.

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Die wenigsten hatten damit gerechnet, dass wir es noch schaffen würden, den einen oder anderen Punkt mit in die Winterpause zu nehmen, ich übrigens auch nicht. Gar noch weniger rechneten mit einem Punktgewinn gegen Wolfsburg, und niemand rechnete mit einem Sieg. Wie unberechenbar der Fußball mitunter ist, ist Glück und Unglück zugleich, je nachdem, auf welcher Seite man steht. Versteht mich nicht falsch, ich will nichts beschreien. Wir stecken noch immer tief drin im Schlamassel und es wird noch einige Erfolgserlebnisse brauchen, bis man wieder ein wenig Luft nach unten bekommt. Doch sieht es so gut aus wie lange nicht.

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Drei Siege in Folge

Viele fragten in meinem Umkreis und in den sozialen Netzwerken, wann es zuletzt drei Siege in Folge gegeben hatte. Nachvollziehen kann ich die Frage nicht, es ist doch sonnenklar, wann es das zuletzt gab. Oder haben all jene Leute das Saisonfinale der vergangenen Saison vergessen? Davor waren es gut drei Jahre (oder länger) gewesen, die man keine drei Spiele in Folge mehr gewinnen konnte. Genau das brauchten wir, um uns doch noch ans Ufer zu retten. Mainz, Hamburg und Paderborn wurden in einem atemberaubenden und ruhelosen Abstiegsfight in die Knie gezwungen. Und falls jemand fragt: Ja, ich bekomme gerade selber Gänsehaut.

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Noch immer hat sich das breite Lächeln in meinem Gesicht nicht verflüchtigt. Warum sollte es auch, macht es doch seit einiger Zeit mal wieder richtig Spaß, den Jungs zuzusehen, und obendrein mit den entsprechenden Ergebnissen (im Gegensatz zum Hinrundenauftakt). Keiner von uns wird so schnell singen „Der VfB ist wieder da“, dafür haben wir schon zu viel erlebt. Doch warum nicht auf das besinnen, was den VfB in letzter Zeit stärker gemacht hat: das Besinnen auf die eigentlichen Stärken und Fähigkeiten. Jürgen Kramny lässt sie das spielen, was sie können – und wie man sieht, mit Erfolg.

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Wann immer ich am Tag danach vor dem heimischen Rechner sitze und meine Finger mal mehr oder weniger schnell über die Tastatur gleiten, denke ich für einen Moment an jene, die dem nicht beiwohnen konnten und etwas so Berauschendes verpasst haben. Ich versuche sie daran teilhaben zu lassen, in dem ich diese Zeilen schreibe, wenngleich es wohl kaum das Gleiche sein kann. Dass ich immer wieder gesagt bekomme, man sitze mit Gänsehaut vor meinem Blog und fühlt sich, als wäre man dabei gewesen, oder man durchlebe es erneut, es ist das wohl schönste Lob von allen.

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Ein undankbares Fußballwetter

Misstrauisch blickte ich durchs Fenster hinaus auf die Straße, mich selbst fragend, wieviele Lagen an warmer Kleidung wohl notwendig wären. Noch war es trocken, doch das sollte sich ändern in den Minuten, in denen sich das Stadion füllte. Die ersten Tropfen fielen, als wir noch mit gemischten Gefühlen vor den Toren der Cannstatter Kurve standen, fachsimpelten, plauderten und uns gegenseitig auf das bevorstehende Duell gegen die Hamburger einstimmten. Viel Optimismus verspürte ich nicht, denn wir wissen ja alle: wenn ich mal optimistisch bin, steht eine bittere Niederlage bevor. Das musste nun wirklich nicht sein, schon gar nicht gegen den HSV.

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Bei immer stärker werdendem Regen drängten sich die Massen vor den Eingängen, die Meisten kamen durchnässt an ihren Plätzen an. Vor nicht allzu langer Zeit stand ich hier beim Pokalspiel gegen Braunschweig, ebenfalls im noch heftigeren Niederschlag, den der Wind weit in die Kurve hinein peitschte. Nicht gerade angenehm, schon gar nicht für uns Fotografen, die wir unsere Geräte vor Nässe schützen müssen, wohl aber gleichermaßen fotografieren sollten – kein einfaches Unterfangen!

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Mein Blick ging in Richtung Gästeblock, bis zur letzten Reihe gefüllt mit Hanseaten. Mich schüttelt es, wenn ich an den ohrenbetäubenden Lärm denke, den sie von sich gaben, als im letzten Heimspiel gegen Hamburg Gojko Kacar in der 12. Minute das 0:1 schoss, auf den 23 Minuten später mit dem 2:1 der legendäre Affentanz folgte. Ob es heute wieder den Rückstand braucht, der uns die letzten beiden Partien hatte gewinnen lassen? Gegen ein klares 4:0 hätte ich allerdings nichts einzuwenden gehabt, im Gegenteil.

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Das Hadern mit den vielen Chancen

Auch die letzten Minuten des Wartens waren vorüber und unter einer scheinbar nicht vorüberziehenden Regenwolke betraten die Akteure des Abendspiels den nassgetränkten Rasen, der somit zum schweren Geläuf wurde. Es sollte nicht nur die Begegnung zweier zuletzt fast abgestiegener Traditionsvereine werden, sondern auch um ein Wiedersehen mit Bruno Labbadia, der von 2010 bis 2013 an unserer Seitenlinie stand. Ein kleines Stück Genugtuung, nachdem er seinen Vertrag bei den Hanseaten verlängert hat und man zurecht mutmaßen darf, ihm ereile nun das selbe Schicksal wie einst nach der Verlängerung beim VfB.

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Wer früh führt, lebt lang gefährlich, ständig in der Angst, in der vielen restlichen Zeit noch das eine oder andere Gegentor zu bekommen. Doch gefreut hätte ich mich trotzdem, hätten wir bereits nach gerade einmal zwei einhalb Minuten jubeln dürfen. Der Winkel war nach Emiliano Insuas Flanke für Christian Gentner letztlich zu kurz, nachdem Freund und Feind am Ball vorbeirutschte. Knapp danach verzückte ein schöner Heber des Flankengebers, der seinen festen Platz in der linken Verteidigung gefunden hat.

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Noch dachte ich, ich würde mich später nicht über das Auslassen solcher Chancen aufregen müssen. Von denen gab es in der Hinrunde schon zu viele, so viele wie für mehrere Siege in Folge, doch kam alles anders. Die ersten guten Chancen nach nur wenigen Minuten ließen uns hoffen. Ich wusste ja noch nicht, was folgen würde. Laut erhoben wir unsere Stimmen und streckten unsere Hände in den regnerischen Abendhimmel. Wir waren hier, sangen, hüpften und hofften, so wie wir es immer tun.

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Macht bloß keinen Scheiß!

Keine Panik, Leute, Abseits! Dass uns der Schreck in die Glieder fuhr, konnte die gehobene Flagge des Linienrichters nicht ungeschehen machen. Spätestens seit unserem Hinspiel in Hamburg am zweiten Spieltag sollte die Mannschaft doch eigentlich besser wissen, wie sehr man auf Pierre-Michel Lasogga aufpassen sollte. Aus dem Nichts heraus nagelte er den Ball an den Giebel, doch stand er knapp im Abseits. Man vermag es sich eigentlich nicht vorstelle. Was wäre, wenn es keine Latte gewesen wäre? Und was, wenn kein Abseits…? Konzentration, Männer!

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Noch immer leidet das Neckarstadion unter den rückläufigen Besucherzahlen der Hinrunde. Nicht wenige gehören zum Schönwetterpublikum, die entweder schönes Wetter und/oder schöne Spiele brauchen. Schon im Vorfeld war klar, dass Petrus uns nicht gnädig sein würde und uns eher Fritz-Walter-Wetter schickt. Manche sind der Meinung, sie zahlen keine Tickets, wenn die Mannschaft eine grottenschlechte Scheiße zusammen kickt – es darf getrost erwartet werden, dass idealerweise die Besucherzahlen wieder steigen werden.

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Viel gehörte nicht dazu, sich im Klaren zu sein, dass es wohl kein 0:0 zwischen beiden Mannschaften geben würde. Der Boden unter meinen Füßen vibrierte, als immer mehr klar wurde, warum das so ist: schon früh in diesem Spiel ging es rassig hin und her, der VfB dem 1:0 näher als der HSV. Nach nicht einmal 20 Minuten hätte es schon 3:0 stehen können, wenn nicht sogar müssen. Ein Schelm, wer da an das Heimspiel gegen Schalke denkt.

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Auf der Suche nach Gelassenheit

Wesentlich mehr Gelassenheit vor, während und nach dem Fußballspiel würde mir gut zu Gesicht stehen und meine Nerven schonen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn solange mir schier das Herz in die Hose rutscht, wenn Neu-Stuttgarter Kevin Großkreutz an der Seitenlinie mit den Stollen voraus Pierre-Michel Lasogga wegsenst (und das zurecht!) und Schiedsrichter Günter Perl auf ihn zukommt und seine Hand zur Arschtasche geht, wie soll ich da ruhig bleiben? Ich rechnete mit dem Schlimmsten: Glatt-Rot und 70 Minuten in Unterzahl, wo der VfB beim Hinspiel 37 Minuten bei einer 2:1-Führung brauchte. Mir schwante Böses. Er zog Gelb. Puh.

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Es war wirklich zum Haare raufen. Wieviele Chancen der VfB schon jetzt kreeirte, ließ uns angesichts des 0:0-Zwischenstandes beinahe verzweifeln. Umringt von meinesgleichen, allesamt hoffnungsvoll doch unzufrieden mit der Chancenverwertung, sah ich ein Spiel, das für den neutralen Zuschauer mit zunehmender Dauer an Attraktivität zulegte und nur noch eine Frage zuließ: wann fällt das erste Tor für den VfB?

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Die Hamburger standen bisher recht gut, doch nach vorne ging nicht viel. Das alleine muss aber nichts heißen, zu oft haben wir drückend überlegende Spiele mit einem einzigen Ballkontakt verloren. Man könne über so viel Slapstick beinahe lachen, wo uns meist zum Weinen zumute war. Mein Blick wanderte ständig zwischen dem Stimmungskern der Cannstatter Kurve und dem Spielfeld hin und her, als wollte ich jederzeit überall sein, um ja nichts zu verpassen.

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Knapp vorbei ist auch daneben

Viele jubelten schon, bevor sie registriert hatten, dass der Ball nicht im Netz war. Die Flanke von Kevin Großkreutz, maßgeschneidert für Filip Kostic, der den Spaß am Fußball offensichtlich wieder entdeckt hat, landete knapp neben dem Pfosten und strich am Außennetz vorbei. Selbst Maskottchen Fritzle hatte seine Arme schon in die Luft gestreckt, dicht gefolgt vom entsetzten Griff an den Kopf – uns allen erging es so. Kollektives Raunen umfing uns, das Tor schien wie vernagelt. Bruddler vom Dienst würden sagen: „Es kann doch wohl nicht so schwer sein!“ – scheinbar doch.

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So sehr ich hoffte, mir würde noch einmal so ein Glücksschuss gelingen wie bei Daniel Didavis Ausgleichstor gegen Wolfsburg, so hoffte ich vergebens. Vor der Untertürkheimer Kurve wollte das Tor nicht fallen, bevor die erste Halbzeit vorüber war. Torlos ging es in die Kabinen, ein Moment durchschnaufen bei einem bisher durchaus rassigen Spiel. Wieviel entspannter es doch schon jetzt hätte sein können, hätte man die eine oder andere Torchance verwertet.

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Mein langjähriger Bekannter und Kumpel Philipp war heute nicht da, er hätte mich wahrscheinlich wie viele andere Male schon am Kragen gepackt, geschüttelt und mich angeschrien, ich solle mich verdammt nochmal entspannen, „Das wird!“ pflegte er immer zu sagen – und nicht selten hatte er Recht behalten. Ganz so viel Vertrauen habe ich dann leider doch nicht immer in die Fähigkeiten meiner Mannschaft, dabei zeigten sie zuletzt doch ansprechende Leistungen die uns erinnern lassen: diese Jungs können kicken… wenn sie denn wollen.

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Abermals gescheitert

Der Wiederanpfiff versteckte sich hinter einem riesigen Spruchband, welches über die gesamte Kurve gehalten wurde. Wer etwas weiter oben stand (oder noch weiter unten), konnte darunter oder darüber aufs Spielfeld schauen, wer direkt dahinter stand, sah nur die Rückseite eines weißen Segeltuchs mit großen schwarzen Lettern, mit denen geschrieben stand: „Unser Zusammenhalt ist so viel stärker als eure Verbote“. Plötzlich lautes Geschrei, wütendes Raunen und Verzweiflung. Welch befremdliches Gefühl, nicht sehen zu können, was vor sich ging.

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Wenn sich gleich das Spruchband legt, was würde ich sehen? Die Jubeltraube der Hamburger, einen eskalierenden Gästeblock? Nein. Nur eine weitere vergebene Torchance von Timo Werner, dem wohl unglücklichsten Akteur auf dem Spielfeld. Das Bemühen war ihm wahrlich nicht abzusprechen, die Kaltschnäuzigkeit an diesem triefend verregneten Samstagabend allerdings schon. In der Nachbetrachtung erinnerte die Situation ein wenig an das 3:1 gegen Köln, als Lukas Rupp nochmal rüberlegte auf Christian Gentner. Daniel Didavi hätte nur seinen Fuß hinhalten brauchten.

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Keine einzige Atempause. Gerade noch regte man sich über die nächste vergebene Chance auf, da verzweifelten wir erneut. Wieviel sollen wir denn noch ertragen? Es folgte eine Ecke, die mit kurzer Herausnahme des Tempos über mehrere Stationen wieder gefährlich in Richtung meines Landsmanns René Adler kam. Wie kann diese Doppelmöglichkeit nicht drin gewesen sein? Die zweite Halbzeit hatte gerade erst begonnen, und die Geschichte der Chancenverwertung setzte sich nahtlos fort, dieses Mal scheiterten Kevin Großkreutz aus kürzester Distanz und Lukas Rupp im Nachschuss.

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Sehnsucht nach Erlösung

Man gebe mir eine Tischkante und ich beiße hinein. Ich habe schon zu oft mit anschauen müssen, wie sie den Ball nicht im Tor unterbringen konnten und am Ende ein völlig hilfloser Gegner mit einer einzigen guten Torchance die drei Punkte holt. Zu viele Erinnerungen, zu viel Frust, zu viel Schmerz. Sie sollten sich doch einfach nur selbst belohnen für die Verbesserungen der letzten Wochen, die kaum jemand für wahrscheinlich gehalten hatte, zumindest in der Kürze der Zeit. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass wir noch lange nicht über den Berg sind, aber die Beine sind kräftiger und frischer als zuvor.

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Knapp eine Stunde war gespielt, nach einer Ecke der Hamburger bekam Daniel Schwaab den Ball an den Arm geschossen. Erinnerungen wurden wach an das Heimspiel gegen Augsburg, in dem der in diesen Tagen nach Warschau gewechselten Adam Hlousek den Ball an den Arm bekam, es Elfmeter für Augsburg gab und das Spiel verloren wurde. Dicht darauf folgten zwei Strafraumsituationen, in denen zwei Mal innerhalb kürzester Zeit einer unserer Spieler zu Fall kam, beide Male die Pfeife aber stumm blieb. Kein Elfmeter, weder beim Foul an Filip Kostic, noch an Daniel Didavi – sei es drum, wie wir kurz danach feststellen durften.

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Schwerstarbeit für die Cannstatter Kurve. Halb im Regen stehend mussten wir mit ansehen, wie sie uns auf die Folter spannten, doch gaben wir nicht auf, solange sie es auch nicht würden. Immer weiter, immer wieder, immer lauter. Leidenschaft und Engagement, für Mannschaft und Kurve gelten ähnliche Ansprüche. Wenn wir alles geben, erwarten wir nicht weniger auch von den Spielern, die den Brustring tragen dürfen.

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Millimetergenau

Daniel Didavi trat währenddessen zum Freistoß an. Ich schaute kurz rüber zum Twitter-Kollegen Thomas, der neben mir stand. Ein einziger Blick genügte, um uns im Klaren drüber zu sein, woran wir dachten, nämlich an jenen Countdown, der seit nunmehr über fünf Jahren weiterläuft und die Zeit zählt, in denen der VfB keinen Freistoß mehr direkt verwandelt hat. Von allen Spielern in unserem Kader ist Daniel Didavi wohl am nähesten dran. Er versuchte es direkt, ein fieser Schuss für Rene Adler, der zur Ecke klären musste. Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft. Täuschen sollte ich mich nicht.

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Drei Eckbälle folgten, die wedelnden Schals in unseren Händen wehten einfach immer weiter ohne Unterlass. Alle drei brachte Filip Kostic hinein, der vor einer Woche in Köln bereits das 2:1 durch Timo Werner vorbereitet hat – nicht mehr als ein Strohfeuer? Dieses Mal stieg Daniel Didavi hoch in die Luft, wo er doch sonst eher der Künstler mit dem Fuß ist. Was dann geschah, entzog sich meinem persönlichen Blickwinkel. Während ich noch die oberen zwei Drittel des Tores im Blickfeld habe, verbirgt sich das untere Drittel, die wesentliche Torlinie, meiner Sicht.

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René Adler und Aaron Hunt standen beide auf der Linie, als Daniel Didavis Kopfball aufs Tor kam. Aber war es auch ein Tor? Die eine Hälfte der Kurve jubelte, die andere Hälfte verharrte in Schockstarre, riss die Augen weit auf und fragte: „Drin?“. Irritierende Blicke überall, zum Linienrichter, zum Schiedsrichter, zur Anzeigetafel. Wer wollte sich schon verfrüht über die längst überfällige Führung freuen? Doch dann war es endlich Gewissheit. Der Fingerzeig von Günter Perl ging in Richtung Mittelkreis, das Tor würde gezählt. Offiziell war es ein Eigentor von Aaron Hunt, doch feierten wir Daniel Didavi als Torschützen.

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Ausgleich aus dem Nichts

Flatsch! Da kam die Bierdusche, und es war mir herzlich egal. 66 ewig lange Minuten hatte es gedauert, doch nun war es gefallen. Wie amüsant es doch im Nachgang ist, sich anzuschauen, wie die Hamburger Ersatzspieler, die sich zu diesem Zeitpunkt vor der Cannstatter Kurve warm gemacht hatten, mit dem Finger wedelten und anzeigen wollten, es sei kein Tor gewesen. Netter Versuch. 70 Tage ist das unsägliche Heimspiel gegen Augsburg her und so musste man doch eines zweifelsfrei feststellen: von der lustlosen und behäbigen Darbietung auf dem Feld ist nichts mehr übrig geblieben. Nicht alles gelingt, doch scheint die Einheit zurück.

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Jürgen Kramny hatte sich bisher zurückgehalten und wechselte noch nicht, obwohl die Mannschaft fast schon einen müde gewordenen Eindruck machte. Auf der anderen Seite wechselte Bruno Labbadia bereits zum zweiten Mal und brachte Artjoms Rudnevs. Rudnevs? Da war doch schonmal was…?! Gerade noch unfreiwillig daran gedacht, da war es schon zu spät. Der Ausgleich war gefallen, aus dem Nichts heraus, als der VfB dem 2:0 näher war als die Gäste dem Ausgleich. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein.

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Und wieder waren sie da, in meinem Kopf, all die vergebenen Möglichkeiten der vergangenen 75 Minuten. Gemach, gemach, keine Panik – das meinte zumindest Thomas, dessen Tipp von 3:1 ganz sicher auch eintreffen würde. Was gut gemeint war, brachte mir die Panik zurück. Eine Viertelstunde war noch zu spielen und schon fürchtete ich wieder das Schlimmste. Aus gutem Grund, schon alleine nach dem, was wir im Hinspiel hinnehmen mussten. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, als wäre mir nicht ohnehin schon genau bewusst gewesen, wieviele Minuten wir noch Zeit hatten, das zweite Tor zu machen, oder zumindest das zweite Gegentor zu verhindern.

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Kramnys glückliches Händchen

Mit dem ersten Wechsel für den VfB wurde Timo Werner von seiner engagierten, aber unglücklichen Darbietung erlöst, für ihn kam der Ukrainer Artem Kravets, Neuzugang von Dynamo Kiew. Nur noch wenige Minuten Zeit, das Unheil abzuwenden, da marschierten die Hamburger wieder, die der VfB unnötigerweise wieder ins Spiel gebracht hat, wo sie doch schon mausetot waren. Ich sah den Ball schon drin, als Ivo Ilicevic frei vor Przemyslaw Tyton zum Schuss kam.

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Nicht atmen. Nicht denken. Nichts sagen. In gefühlter Zeitlupe lenkte unser Keeper den Ball zur Seite mit einer Reaktion, die viele nach seinem unglücklichen Start im Brustringtrikot nicht für möglich hielten. Un. Fass. Bar. Für den neutralen Zuschauer eine kurzweilige Angelegenheit, für den VfB-Fan eine unglaublich anstrengende Tortour. Ich schrie so laut ich konnte, war es in der Situation nun angebracht oder nicht, die irritierten Blicke meiner Nebensteher gingen mir dabei herzlichst am Allerwertesten vorbei.

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Und schon wieder die Hamburger! Wenige Zentimeter rollte der Ball am Pfosten vorbei, wieder einmal bekam man Pierre-Michel Lasogga nicht gestoppt. Um Gottes Willen, das hälst du doch im Kopf nicht aus! Die letzten paar Minuten zogen sich ewig hin, ein letztes Mal setzte die Cannstatter Kurve zu einem phänomenalen Endspurt an. Wieviel hatte diese Kurve mitmachen müssen, und trotzdem spornt sie sich stets selbst zu Höchstleistungen an. Die Mannschaft brauchte uns, und so gaben wir noch einmal alles. Wohlwissenderweise.

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Mit Köpfchen ins Glück

Noch ein Wechsel, in der Hoffnung, noch einen letzten Akzent zu setzen. Viel Zeit blieb nicht übrig, als Daniel Didavi für Alexandru Maxim Platz machte. Tick. Tack. Tick. Tack. Diese Spannung war im Kopf nicht auszuhalten. Weiter, immer weiter! Viel Eingewöhnungszeit brauchte Alexandru Maxim nicht, als er nach einem schnellen Ballgewinn die Seitenlinie entlang lief. Meine Kamera hielt ich hoch in die Luft gestreckt, auf Zehnspitzen stehend auf das Tor gerichtet. Lang und weit flog der Ball, ein letzter Kontrollblick aufs Display der Kamera, ob ich sie auch ja richtig hielt, da verlor ich schon das Gleichgewicht. Ein letztes Mal drückte ich noch ab, bevor es wirr wurde um mich herum.

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Jene Momente lassen sich nur schwer in Worte fassen, sind sie doch essentiell in unseren Erinnerungen an die schönsten Momente unsere Stadionerlebnisse. Wie will ich jemanden glaubhaft erklären, wie es sich anfühlt, wenn der Neuzugang in seinem ersten Heimspiel zwei Minuten vor Schluss den Siegtreffer erzielt? Wie will ich jemanden davon überzeugen, welch sprudelnder Quell der Euphorie eine Kurve sein kann, die nach all dem Frust der letzten Monate und Jahre wieder die Freude und die Erleichterung wieder gefunden hat? Wie will ich jemandem jenes Glücksgefühl klar machen, wenn nicht der Gegner kurz vor Schluss zum Sieg trifft, sondern dein eigener Verein?

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Wie gut mir das alles gelingt, überlasse ich euch selbst, doch werde ich nicht müde, es immer wieder zu versuchen. Welch überaus schöne Geschichte, wenn zwei frisch Eingewechselte in Koproduktion dem VfB zum Sieg verhelfen. Es war verdient, ohne jede Frage, ob mit oder ohne Vereinsbrille. „Und wenn die ganze Kurve tobt, schlägt mein Herz in Weiß und Rot, ich lass’ dich niemals allein, du bist ewig mein Verein“ – ein kleines Stück Gänsehaut für jene, die dabei waren, für jene, die daheim geblieben sind und für all jene, die dem VfB wohlwollend gesinnt sind.

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Energieleistung

Im Getöse der Kurve ging der letzte Wechsel beinahe unter, für Filip Kostic kam Toni Sunjic, noch einmal alles hinten dicht machen. Dass die Hamburger in der Nachspielzeit nochmal am erneut starken Przemyslaw Tyton scheiterten, habe ich beim Beobachten einer ausgelassenen Kurve nicht einmal mitbekommen, das war vermutlich besser so. Mein Blick ging zur Bank, vor der alle Spieler in Reih und Glied standen, bereit, das Spielfeld zu stürmen, wenn Güter Perl abpfeift. Fest im Blick durch den Sucher meiner Kamera, wilde Gesten und ein nie enden wollendes „Pfeif aaaaaaaaaaab“.

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Timo Werners lauter Ausschrei, das selige Grinsen von Jürgen Kramny und das Geschrei von gut 40.000 VfB-Fans im Ohr, was könnte es Schöneres geben? Alle Fahnen, alle Schals, wohin ich auch blickte, ich sah das die Erleichterung in so vielen Augen, während ich all jene abklatschte und herzte, die mir zur Verfügung standen. Was es auch war, was Jürgen Kramny in der Mannschaft zum Leben erweckt hat, er solle es beibehalten und stets weiterentwickeln. Ob wir uns schon bald aus dem Abstiegskampf verabschieden können, werden die nächsten Wochen zeigen, doch es darf mehr und mehr gehofft werden. Wenn uns das mal nicht zum Verhängnis wird.

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Zu den Klänge von „Paradise City“ liefen sie zur Kurve, beidseitiger Applaus für diese enorme Energieleistung! Danke Mannschaft! Danke Cannstatter Kurve! Vor mir waren sie alle wieder auf die Mauer gestiegen, doch die Gestik war klar – die erste Laola mit der Mannschaft seit dem Klassenerhalt in Paderborn. Mit einem Lächeln im Gesicht verabschiedeten sich in die Kabine, und auch die Kurve leerte sich allmählich. Noch immer regnete es, doch konnte es niemandem aufs Gemüt schlagen. Lachend, singend und lebensfroh tänzelten sie umher, lagen sich in den Armen. Manchmal ist Fußball doch ganz schön, das muss ich zugeben.

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Weiter, immer weiter!

Gelassen und erleichtert liefen wir nach Hause, meine Kapuze hatte ich tief ins Gesicht gezogen, immer tropfte der Regen hinunter. Das alles machte mir nichts, nichts konnte meine Stimmung noch trüben. Ich war mir dessen bewusst, wie lang ich noch bis tief in die Nacht hinein am Rechner zu tun hätte, Bilder sichten, bearbeiten, veröffentlichen und verteilen, ein altbekanntes Geschäft, das mit Entbehrungen verbunden ist, ich es aber immerhin noch gerne tue. Jedes einzelne Bild betrachtete ich mit einem Lächeln, wohlwissend, dass es die nächsten drei Punkte waren.

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Was uns in den nächsten Wochen erwartet, ist durchaus spannend. Ich hatte zuerst überlegt „ungewiss“ zu schreiben, doch kehrt mehr und mehr meine Zuversicht zurück. Frankfurt, Hertha und Schalke heißen unsere nächsten Gegner, hinzu kommt mit Dortmund ein hartes Pokallos. Es bleibt nur übrig, an Jürgen Kramny und seine Jungs zu appelieren: Weitermachen, genauso, immer weiter. Dass es noch immer viele Baustellen gibt und es noch immer viel zu verbessern gibt, ja daran hat niemand einen Zweifel, aber nutzen wir die Chance, die wir haben.

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Ein perfektes Sport-Wochenende neigt sich dem Ende. Angelique Kerber gewinnt die Australian Open, der VfB gewinnt gegen Hamburg während die Konkurrenz durchweg verliert, und die Deutschen Handballer sind heute Abend Europameister geworden. So euphorisch diese 48 Stunden auch waren, so sehne ich doch am meisten den Tag herbei, an dem der VfB nichts mehr mit dem Abstieg zu tun hat. Ich werde mir jetzt gleich eine Flasche Bier aufmachen, mich auf die Couch lümmeln und den Abend ausklingen lassen. Und seid euch gewiss: ich lächle noch immer.

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