Eigentlich hatte ich gedacht, Tränen der Trauer würden über meine Wangen laufen. Eigentlich hatte ich gedacht, der VfB nutzt die letzte Chance, die er noch hat. Eigentlich hatte ich gedacht, das alles würde irgendwie anders laufen. Da waren keine bitteren Tränen, keine hemmungslose Aggression in mir, nur die große Fassungslosigkeit, wie uns das noch passieren konnte. Wieder einmal. Es scheint wirklich so zu sein, dass sich die Geschichte immer wiederholt, bis man es eines Tages doch richtig macht. Jahr für Jahr wachen wir auf wie Bull Murray an einem jeden Tag und stellen fest, dass es immer so weiter geht.

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Ausnahmslos jeder VfB-Fan, der danach gefragt wird, welche Situation die negative Trendwende hätte verhindern können, hat dabei ein ganz bestimmtes Bild im Kopf. Für manche ist es die Entlassung von Alexander Zorniger gewesen, für andere das verlorene Spiel gegen Hannover, für manche die Selbstgefälligkeit, mit der sich die Spieler nach dem 2:2 in Darmstadt den Fans stellten und meinten, man hätte die Lilien immerhin auf Abstand gehalten.

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Für meine Verhältnisse bin ich noch eigenartig ruhig und gefasst, was jedoch nicht bedeutet, dass die Tränen nicht doch am nächsten Wochenende kullern werden. An dem Tag, an dem es fest steht. An dem Tag, an dem man sich eingestehen muss, dass es zu spät ist. An dem Tag, an dem der VfB den bitteren Gang in die zweite Liga antreten muss. Weder will und kann ich mir das Dasein als künftiger Zweitligist schönreden, noch glaube ich, es sei unverdient. Bitter ist es, ohne jede Frage, aber vor allen Dingen ist es die logische Konsequenz aus vielen Jahren Lernresistenz.

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Ein mahnender Zeigefinger

Viel gab es nicht, was den VfB-Fans in den letzten Jahren des Abstiegskampfs Mut machen konnte. Irgendwo zwischen dem flehentlichen Glauben, die Mannschaft hätte endlich verstanden, worum es geht, bis hin zur verkappten Hoffnung, es gäbe jedes Jahr aufs Neue drei Dümmere, bis man eines Tages aufwacht und feststellt, dass man selbst der Dumme ist. Das Vertrauen in die mentalen und physischen Fähigkeiten eines nur selten konstruktiv zusammengestellten Kaders hat enorm gelitten und immer wieder brachte es der VfB fertig, aus einer hervorragenden Ausgangslage weniger als gar nichts zu machen.

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Vor zwölf Wochen war der VfB für eine Nacht Tabellenneunter, die beste Platzierung seit fast zwei einhalb Jahren. Ich genoss sie so gut ich konnte, die „schönste Zeit seit vielen Jahren“ und doch sehne ich mich nach jenen sorgenfreien Tagen im Februar zurück. Was hatten wir uns nicht alle gefreut, über den spürbaren Teamspirit, die Kabinenfotos von Emiliano Insua und die hervorragenden Aussichten auf ein weitgehend entspanntes Saisonfinale. Ich rede nicht von Europa, ich rede von Sorgenlosigkeit, aus dem Allergröbsten heraus zu sein. Gereicht hat es trotzdem nicht und ich verstehe bis heute nicht, wie das passieren konnte. Das weiß vermutlich nicht einmal die Mannschaft selbst.

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Die Jahre haben mich mürbe gemacht. Wann immer Großes möglich war, das den Fans den schlimmsten Schmerz erspart hätte, versagten die Nerven oder man erschien nicht motiviert genug, fast so, als wolle man es immer spannend machen. Warum hätte ich sonst einen Grund gehabt, trotz ansprechender Leistungen die Sorge in mir zu tragen, dass ein Negativlauf genauso schnell kommen kann wie ein Positivlauf, vielleicht sogar noch leichter, denn man muss weniger dafür tun. Der Niedergang des VfB Stuttgart hat viele Gesichter, doch die, die es am härtesten trifft, können am wenigsten dafür: die Fans in der Kurve.

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Minimalchancen und Restwahrscheinlichkeiten

Wir werden auch weiterhin ins Stadion kommen. Wir werden weiterhin Besitzer einer Dauerkarte sein. Wir werden weiterhin alles für den Verein geben. Würde nur jeder Verantwortliche eine solche Leidenschaft wie wir an den Tag legen, ich würde jetzt nicht bei schönstem Frühlingswetter bei heruntergelassener Jalousie im Arbeitszimmer unserer Cannstatter Wohnung sitzen, mit einem Kloß im Hals und dem Kaffee vor der Nase an der Tastatur sitzen und um Worte ringen, von denen ich zwar irgendwie befürchtet hatte, sie doch eines Tages schreiben zu müssen, aber doch nicht ernsthaft davon ausgehen konnte, sie noch brauchen zu müssen.

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Manche werden vielleicht sagen, dass man nicht aufgeben sollte, solange noch die rechnerische Minimalchance besteht. Wir alle haben schon oft genug gesehen, welch verrückte Geschichten im Fußball passieren können und dass selbst dem HSV das Kunststück gelang, sich mit Ach und Krach in die Relegation zu retten und dort mit nur zwei Unentschieden die Klasse zu halten. Dafür brauch es jedoch etwas, was wir scheinbar am 23. Mai des letzten Jahres aufgebraucht haben: das Glück des Tüchtigen. Insgeheim wissen die Meisten, dass dies das Ende ist und die Chancen auf den Klassenerhalt allenfalls theoretischer Natur sind.

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Die Wahrscheinlichkeit, in Wolfsburg drei Punkte zu holen, wo man seit acht Jahren auf einen Punktgewinn wartet, und darauf zu hoffen, dass Frankfurt zeitgleich gegen Bremen gewinnt, tendiert gegen Null. Frankfurt hat in einer möglichen Relegation bessere Karten als wir und wird sich vermutlich mit Bremen inoffiziell auf ein Remis einigen. Und selbst, wenn das Wunder von Wolfsburg gelingen sollte, wer sagt uns, dass man in der Relegation bestehen könnte? Die Tränen, die gestern geflossen sind, zeugen nur von einer traurigen Gewissheit, die nur eine Frage der Zeit war.

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Von Freud zu Leid in nur zwölf Wochen

Ihr ahnt vermutlich nicht, wie schwer es mir fällt, diese Zeilen zu schreiben. Immer wieder gab es Tage in den letzten Jahren, an denen ich verzweifelt versucht hatte, mich abzulenken, nur um festzustellen, dass ich trotz allem nicht drum herum komme. Tage, an denen ich mich fragte, ob es nicht besser gewesen wäre, nie zum Allesfahrer geworden zu sein und den Stadionbesuch nur als gelegentliches Event wahrgenommen hätte, wieviele traurige Stunden und Tage hätte ich mir damit nur ersparen können, wenngleich sich die positiven Emotionen nie so in meinen Kopf hätten einbrennen können. Ob das so viel besser gewesen wäre, wage ich an dieser Stelle nicht zu beantworten.

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Freud und Leid eines Stadiongängers liegen manchmal nur ganz wenige Spieltage auseinander. Gerade eben feierst du noch den Sieg mit deinen Freunden und Weggefährten, stehst Arm in Arm in einer vollkommen euphorisierten Kurve mit Tränen der Freude in den Augen, der Boden unter deinen Füßen vibriert und du nimmst in Kauf, dass dir Tage später der Hals noch weh tut oder du schlichtweg für einige Stunden deine Stimme einbüßt. Momente des vollkommenen Glücks bei einer eigentlich so lapidaren Angelegenheit, ein paar Männern beim Bewegen eines Lederballs zuzuschauen. Wir alle kennen sie, diese glückseligen Stunden, fernab jeder Trauer, jeden Frustes, jeder Enttäuschung.

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Im nächsten Moment stehst du fassungslos in der Kurve, deine gläsernen Augen aufs Spielfeld gerichtet, das Sekunden zuvor von einem wütenden Pöbel geentert wurde. Es fällt schwer, zu atmen, weiß man selbst doch ganz genau, dass dies das Ende gewesen sein dürfte, nachdem sich herum gesprochen hatte, wie die Konkurrenz gespielt hat. Manche verließen schon Minuten zuvor das Stadion, andere standen einfach nur da, Tränen rollten und nicht wenige ließen ihre Enttäuschung auf dem Spielfeld aus. Ich hatte davor gewarnt, doch konnte nicht einmal ich mir vorstellen, was uns jetzt noch retten sollte.

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Alle in Weiß

Wirklich groß war die Hoffnung nicht, doch wer von uns wollte sich schon vorwerfen lassen, nicht noch einmal alles gegeben zu haben. Das vermeintliche Endspiel in Bremen ging sang- und klanglos und vor allem haushoch verloren, warum sollte das der Mannschaft also für die letzten beiden Spiele mehr Auftrieb geben? Alle sollten im weißen Trikot ins Stadion kommen, die Allermeisten waren diesem Aufruf gefolgt, noch einmal wollte man vor 60.000 Zuschauern alles geben, um die Mannschaft zum Sieg zu schreien.

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Dass ein volles Haus jedoch auf die sportliche Leistung kaum mehr Einfluss hat als ein leerer Gästeblock beim Auswärtsspiel, das mussten wir nun ein weiteres Mal auf leidliche Art und Weise erfahren. Es kribbelte gar sehr, als ich mich alleine schnellen Schrittes auf den Weg machte. Verwirrte Blicke musste ich ernten, als ich mich schon viele Stunden zuvor im weißen Brustring-Trikot zum Stadion aufmachte, dabei war es gerade erst kurz nach elf Uhr am Vormittag. Eine Sonderausgabe meines liebgewonnenen Twitter-Stammtischs hatte auf die Terrasse des 1893 eingeladen.

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Wohin man auch schaute, überall waren sie, die weißen Trikots, und während ich mir das Radler schmecken ließ, schaute ich in viele angespannte Gesichter. Alles oder Nichts, dabei ist der Trend nicht unbedingt unser Freund und genau das vermochte mir unendliche Sorgen zu bereiten. Die Sonne strahlte und hätte uns einen perfekten Tag schenken können, wir lechzen so sehr danach, seit der VfB vor einigen Wochen den Faden verlor und seither ein ums andere Spiel verloren hatte. Noch einmal alles geben und mit Glück in Wolfsburg dann dem Teufel von der Schippe springen, was alleine schon schwer genug werden würde. Und doch kam alles anders.

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Viel geredet, nichts geändert

Was ist es also, das uns Hoffnung geben sollte? Vielleicht war es ja die Tatsache, fast nichts mehr zu verlieren zu haben und die Chance, die man eigentlich gar nicht hat, erst recht nutzen zu wollen. Aber an uns lag es nicht, wir waren nicht diejenigen, die auf dem Platz stehen mussten und das Schicksal des VfB richten mussten, es waren die paar Spieler, die durch die zahlreichen Verletzungen und Sperren zur Verfügung standen. Seit Wochen tragen wir uns mit nicht unberechtigten Zweifeln, dass jeder Verantwortliche beim VfB den Ernst der Lage erkannt hat und bereit ist, 120% zu geben, das sollte spätestens beim Auswärtsspiel in Augsburg offensichtlich geworden sein.

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Warum ist die Mannschaft eingebrochen? Warum hat sie sich zu früh zu sicher gefühlt? Warum hat sie es nicht geschafft, den Druck hochzuhalten? Warum ist es misslungen, in einem Kurz-Trainingslager auf Mallorca den notwendigen Spirit zu entwickeln, der für die letzten paar Spiele Kraft geben sollte? Warum hat man so viel geschwätzt, statt Taten sprechen zu lassen? Die Antworten auf diese Fragen werden auch in einem nahezu unausweichlich wirkendem Absturz in die Zweitklassigkeit unbeantwortet bleiben.

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Zwei Tage nach Paderborn feierten wir Robin Dutts Brandrede. Nicht einmal ein ganzes Jahr später zeigte man zwar vorübergehend wahrhaft ansehnlichen und im zweiten Anlauf auch erfolgreichen Fußball, muss aber feststellen, dass man es wieder nicht geschafft hat, sich selbst und seinen Fans ein entspanntes Saisonfinale zu gönnen. Viel wurde geredet, beinahe nichts ist passiert. Ob der Druck in den Augen von Herrn Dutt immernoch bei den Anderen liegt, nahm die sportlich klamme Konkurrenz dankend an zog beinahe wöchentlich an uns vorbei. Eines Tages war der Druck bei uns, gemacht hat der VfB daraus aber nicht einmal annähernd so viel wie jene, die man vor gut drei Monaten noch belächelt hat.

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Ohne jeden Vorwurf

Nichts, aber auch wirklich gar nichts können wir Fans uns vorwerfen lassen. Ein volles Haus und eine brachiale Lautstärke aus der Cannstatter Kurve, wie man sie zuletzt, ja, vor einem Jahr erlebt hat, beim Heimspiel gegen, ja, den 1. FSV Mainz 05. Ist es wirklich Zufall, dass sowohl 2015 als auch 2016 das gefühlte Abstiegsspiel am 2. Mai stattfand und neue Hoffnung gegen Mainz aufkeimte? Die Tabellensituation ist eine ähnliche, doch die Voraussetzungen für diesen sonnigen Samstag ungleich anders. War man damals von der Euphorie des Umfelds und der „Jetzt erst recht!“-Mentalität der Anhängerschaft getragen worden, wurden früh die Zweifel lauter. Auch meine eigenen.

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Andächtig stieg ich sie ein womöglich letztes Mal hinunter, die Treppenstufen des Blocks 33, hinunter zum ersten Wellenbrecher, wo sich mein Stammplatz befindet, inmitten von Freunden und Bekannten, mit denen ich schon viele Tore bejubeln konnte und wir uns in noch viel mehr bitteren Momenten Trost spenden konnten. Sehe ich hier ein womöglich letztes Mal ausverkauftes Neckarstadion? Ein beklemmendes Gefühl erfüllte mich seit Tagen, denn im schlimmsten Falle wäre der direkte Klassenerhalt nicht mehr möglich und der Relegationsplatz weit entfernt. Man könnte schon heute quasi absteigen. Und genau das ist geschehen.

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Es war angerichtet für einen Fußballnachmittag, der egal in welcher Hinsicht in Erinnerung bleiben sollte. Entweder man gewinnt und zieht an den letzten beiden Spieltagen den Kopf aus der Schlinge, oder man verliert und muss sich damit befassen, dass der VfB in der kommenden Saison nicht gegen die Bayern, Dortmund und Schalke spielt, sondern eben gegen Sandhausen, Heidenheim und Aue. Getragen von der Stimmung einer vollbesetzten Kurve sollte es der Mannschaft den vorletzten Schritt zum Klassenerhalt ebnen, auf dass man am Ende gemeinsam feiern kann, wie wir es einst in Paderborn taten.

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Alles nach vorn

Da schrie sie also nun all ihre Hoffnungen hinaus, meine geliebte Cannstatter Kurve und peitschte eine Mannschaft an, die den Anspruch auf Erstligatauglichkeit seit Wochen schuldig bleibt. Hoffnungen machte alleine die Rückkehr von Kevin Großkreutz, dem vielbeschworenenen „Mentalitätsmonster“, seit seiner Verletzung aus dem Spiel in Ingolstadt ging es steil bergab. Bezeichnend, dass es sein Einwurf war, der über Umwege bei Philip Heise landete, der bisher keine große Rolle gespielt hatte und dessen Abschied mehr als wahrscheinlich ist. Sechs Minuten waren vorüber, ein Schuss aus der zweiten Reihe mit meiner Kamera aufs Tor gerichtet.

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Ich weiß nicht genau wie, nur verschwommene Erinnerungen, ich weiß nur noch, wie laut und chaotisch es schlagartig um mich herum wurde. Die Anspannung war groß vor dieser Partie und nach sechs Minuten entfachte das Feuer der Leidenschaft aufs Neue, als wäre der Funken an einer ewig langen Zündschnur unterwegs gewesen. Unfassbare Emotionen rückten mir ins Blickfeld, sowohl am Spielfeldrand, als Christian Gentner mit der kompletten Bank und nahezu allen Feldspielern den frühen Führungstreffer bejubelte, als auch links und rechts, vor und hinter mir.

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Alleine schon für solche Momente lohnt es sich, ins Stadion zu gehen. Das Problem war nur: es sollte das einzig positive Erlebnis in diesem Spiel bleiben. In der Anfangsphase schenkten sich die Mannschaften nicht viel, ein langweiliges Spiel sah zumindest anders aus. Es gab unzählige Momente in den letzten Wochen, von denen wir nun sagen, es hätte auch alles ganz anders laufen können. Hätte man das Spiel dennoch verloren, wenn nach Lukas Rupp schöner Bogenlampe nicht noch Niko Bungert den Ball von der Linie gekratzt hätte? Wer weiß, was dann hätte passieren können.

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Der VfB und seine Fußballweisheiten

Stattdessen rächte sie sich erneut, die älteste aller Fußballweisheiten. Wer das Tor vorne nicht macht… – ihr kennt den Rest. Keine 60 Sekunden waren vergangen zwischen dem versäumten 2:0 und der bitteren Antwort der Mainzer, die von einem nicht gerade kleinen Anhang begleitet wurden. Das volle Ausmaß einer unzureichenden Abwehrarbeit, zu schnell für unsere Defensive, da waren sie auf und davon. Yunus Malli machte den Ausgleich wenige Minuten vor der Pause und nur die Reflexe von Mitch Langerak ersparte uns Schlimmeres. Es ließ Böses für den zweiten Durchgang erahnen.

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Die anfänglich so prächtige Stimmung litt zusehendst, doch wurde es bereits schon viel früher mit Bekanntwerden der Frankfurter Führung gegen Dortmund merklich stiller. Von allen Dingen, die unsere eigene Niederlage noch erträglich und aufholbar gemacht hätten, war dies das eine Ergebnis, was wir unter keinen Umständen hätten brauchen können. Bange Blicke in der Pause, doch weit entfernt von jener Resignation, die sich 45 Minuten später im großen Ausmaß zeigen sollte.

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Sehr viel anders sah es auf dem Spielfeld zu Beginn der zweiten Halbzeit nicht aus, gleiches Spiel wie zu Beginn: der VfB stärker und die Mainzer um einen koordinierten Aufbau bemüht – doch auch hier zeigte sich schnell, dass die Nullfünfer nicht ganz zu Unrecht um die internationalen Plätze kämpfen und der VfB eben unten drin steht. Sie berappelten sich schnell, was man den Unsrigen leider nicht wirklich behaupten konnte. Daran konnte auch die musterhafte Unterstützung von den Rängen nichts ändern.

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Eine Frage des Willens

So groß die Freude über das frühe Führungstor war, so frustrierend und enttäuschend überkam es uns mit dem zweiten Tor der Mainzer zu Beginn der zweiten Halbzeit. Wieder einmal Chaos im Strafraum, wieder einmal ohne jede Not ein Gegentor kassiert. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis auch die Randblöcke der Kurve ihre Stimmen wieder erheben konnten, der Schock saß tief und die dargebotene Leistung unserer Mannschaft ließ nicht viel Platz für Hoffnung.

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Irgendwie noch den Ausgleich machen und darauf hoffen, dass die aufgebrachten Energien der Gäste zum Schluss hin zur Neige gehen, das war zumindest die Theorie. In der Praxis drückten sie uns in die eigene Hälfte, überspielten ganz leicht die Defensive und scheiterten nur am gut aufgelegten Mitch Langerak, der als letzter Impuls für Przemyslaw Tyton ins Spiel gekommen war. Es hätte schon jetzt 3:1 oder 4:1 stehen können, eine halbe Ewigkeit vom Schlusspfiff entfernt.

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Bange Minuten in der zweiten Halbzeit, flehentliches Warten auf den noch so unverdienten Ausgleich, durch einen Freistoß, eine Ecke oder meinetwegen auch durch einen unberechtigten Elfmeter, alle Mittel waren recht, solange sie uns nur vor dem Gang in die zweite Liga bewahren würden. Doch je länger die Partie dauerte, desto bewusster wurde uns, wie wenig die Mannschaft tatsächlich verstanden hat. Der unbedingte Wille, jeden Schritt mitzugehen und eben mehr zu tun als man selbst für notwendig erachtet, er fehlte einfach und ließ unsere schlimmsten Befürchtungen wahr werden.

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Der Sargnagel

13 Minuten. Vor gut einem Jahr trennten uns 13 Minuten vom Abstieg in die zweite Liga, als Alexandru Maxim mit einem Lupfer die Paderborner Abwehr überspielte, Daniel Ginczek den Torhüter umkurvte und mit dem 2:1 unser endgültiger Erlöser wurde. Ein Jahr später fiel erneut 13 Minuten vor Schluss ein Tor, unterschiedlicher konnten die empfundenen Emotionen jedoch nicht sein. Damals Glück, Erleichterung und grenzenlose Freude, mit dem 3:1 war der gefühlte Abstieg perfekt. Unaufholbar.

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Auf den Tribünen setzten sich die Massen in Bewegung, die Stimmen der Kurve verstummten und das lange Warten auf das Ende hatte begonnen. Unendlich lang kam sie mir vor, die Zeit bis zum Abpfiff und unendlich groß wurde meine Angst vor dem, was darauf folgen würde. Wut und Enttäuschung, ohne jede Frage, aber wie würde sich dieser äußern? Ähnlich wie einst gegen Dortmund, mit einem Gespräch mit der Mannschaft direkt vor der Kurve, ein letztes Einreden und Einschwören, oder die hässliche Fratze eines Platzsturms?

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Die Nachspielzeit war schon beinahe vorüber, die beängstigende Stille einer Kurve, die ahnt, dass die letzten Tage in der ersten Liga fürs erste gezählt sind, vermischt mit der Ungewissheit, wie das frustrierte Publikum wohl damit umgehen würde. Ein gellendes Pfeifkonzert brach erwarteterweise über die Mannschaft hinein, alles andere hätte mich gewundert, ein paar wenige Schritte gingen sie in Richtung Kurve, bis sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten. Von links kamen sie, ein paar Leute aus der Kurve, teilweise vermummt, ihnen folgten unzählige weitere.

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Pure Emotionen

Da war er nun, der befürchtete Platzsturm. Das haben die Presseleute und Ordnungskräfte bereits vermutet und hatten bereits Minuten vor Schluss die komplette Bande vor der Kurve geräumt. Ich blieb zurück, überlegte kurz, ob ich auch laufen soll, um ein paar Emotionen bildlich einzufangen, doch sah ich, wie es die Leute bezahlten, die es wagten, fröhlich lächelnde Selfies zu machen. Wer weiß, ich hätte vielleicht schneller eine sitzen gehabt, noch bevor ich hätte erklären können, zu welchem Zwecke ich die Fotos machen würde. Mir blieb nur übrig, tatenlos das alles mit anzusehen.

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Wird der Vorfall in den Medien und sozialen Netzwerken auch hochstilisiert, es war längst nicht so schlimm, wie mitunter behauptet wird. Ich will es nicht bagatellisieren, ein körperlicher Angriff auf die Mannschaft ist nicht tragbar, aber dass die Nerven nun völlig blank lagen, ja wer hatte es uns jetzt noch verdenken können? Immer mehr Leute enterten das Spielfeld, die Mannschaft zog sich zurück, ein Großteil des Pöbels sammelte sich vor dem Spielertunnel und machte mit lauten Ausrufen, die ich nicht vollständig verstehen konnte, seinem Ärger Luft. Minuten später kam die Mannschaft zurück, stellte sich der Menge, wohlwissend, dass es das einzig Richtige gewesen ist, wovor ich auch den Hut nehme.

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Ich sah Christian Gentner, wie er ein paar Worte an die Menge richtete, doch gab man ihm weder Mikrofon noch Megafon, so dass seine Worte nur jenen vorbehalten waren, die sich dort versammelt hatten. Erst später sah ich die Bilder eines weinenden Timo Werner, die glasigen Augen eines völlig emotionalen Kevin Großkreutz. Einigen Spielern geht der drohende Abstieg nahe, das wissen wir, doch längst nicht allen, die sich mental bereits mit neuen Vereinen befassen, zu denen sie im Sommer wechseln werden.

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Zwischen Selfies und Schockstarre

Um mich herum eine unheimliche Mischung von Fans in Schockstarre, deren einzige Bewegung die nach unten rollenden Tränen waren, herumlaufende Event-Didis, die mit ihrem Smartphone alles mögliche filmte, als sei dies eine Aufstiegsfeier und auch jene, die gedankenverloren aufs Spielfeld liefen, auf der Suche nach Antworten, die ihn kein Mensch hätte geben können. Nach all den Worten, die ich voller Leidenschaft für den VfB in den letzten Jahren geschrieben habe, so unwahrscheinlich erschien es mir, für diese Momente jemals welche finden zu können.

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Mir schnürte sich die Kehle zu, das Atmen fiel schwer und doch vermochten keine Träne zu rollen, als wollten sie es sich aufheben bis zum nächsten Samstag, wenn das letzte Spiel gespielt und die letzte Chance vergeben ist. Noch trage ich es mit Fassung, doch ohne zu wissen, wie es mir in einer Woche ergehen wird. Oder ist es nach all den Jahren vielleicht sogar erträglicher geworden, einen eventuellen Abstieg mit größtmöglicher Gelassenheit zu nehmen, wenn man geradezu mehrere Jahre auf diesen Tag „hingearbeitet“ hat, auch wenn man es nicht vorhatte?

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Als ich das letzte Mal auf die Uhr schaute, war es 18:40 Uhr, gut anderthalb Stunden waren seit dem Abpfiff vergangen, noch immer tummelten sich unzählige Menschen auf dem Rasen und die Kurve war noch gut besetzt, wie auch im Rest des Stadions. Draußen stellte sich die Mannschaft noch einmal den Fans, getrennt durch Gitterstäbe, recht gesittet, doch nicht fern von jeder Wut und Trauer. Es fällt schwer, das alles zu ertragen, so erwartet der Niedergang auch sein möge. Als der letzte Zuschauer das Spielfeld verlassen hatte, rückten die Ordnungskräfte in die Blöcke hinein und scheuchten auch die letzten Geläuterten nach draußen.

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„Machs gut, erste Liga!“

Wehmütig warf ich einen letzten Blick auf das fast leere Stadion und murmelte still „Machs gut, erste Liga!“ und kehrte dem Stadion mit gläsernen Augen und einem Kloß im Hals den Rücken zu. Vor den Toren des Stadions war es wie ausgestorben, zertretene Bierbecher und zerfetzte Stadionzeitungen, diverser Abfall, unzählige Zigarettenstummel und eine einsame zurück gelassene Fahne zeugten davon, dass hier zuvor ein Fußballspiel stattfand. Wir gehörten zu den letzten „Überlebenden“ der Kurve, die sich zu später Stunde von dannen machte. Was machte es da schon, das Publikum länger auf die Fotos warten zu lassen, ich brauchte erst einmal ein Bier.

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Die vielen Stunden verlorener Zeit bescherten mir eine lange Nacht. Bis kurz vor zwei Uhr saß ich da, korrigierte Tonwerte und Kontraste, begradigte Fluchtlinien, zensierte erkennbare Gesichter der Ultras, platzierte die Wasserzeichen und bereitete alles wie immer für die Veröffentlichung auf. Ein mühsames Geschäft, meist verbunden mit Freude und willigem Engagement, hin und wieder jedoch als eine anstrengende Bürde. Auch die vermutete schlaflose Nacht war ausgeblieben, schnell schlief ich ein und konnte mich am nächsten Tag nicht einmal daran erinnern, was ich geträumt hatte. Vom Klassenerhalt oder vom Abstieg, vor einer kräftezehrenden Relegation mit ungewissem Ausgang, ich weiß es nicht mehr.

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Auch am nächsten Tag gab ich mir Mühe, es gelassen zu sein. Vermutlich kommt die große Keule tatsächlich erst am kommenden Samstag. Viele Stunden ist es her, seit ich die ersten Worte dieses mittlerweile sieben Seiten langen Word-Dokuments hinunter getippt habe, währenddessen habe ich draußen nicht ein einziges Mal das Wetter genossen, stattdessen musste ich mit ansehen, wie dem missachteten Marketingprodukt RBL aus meiner Heimatstadt der Aufstieg gelang, gefolgt von bissigen Kommentaren damaliger Mitschüler und Weggefährten, die mir unter die Nase reiben musste, es gäbe ja nächstes Jahr nicht einmal ein Duell beider Klubs. Ob ich das so bedauerlich finden soll, da habe ich mich noch nicht entschieden.

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Was bleibt, ist die Resignation

Vieles ist eine Sache der Entscheidung. Man wird sich in der Fanszene auch entscheiden müssen, wie man mit der letzten Patrone in Wolfsburg umgeht. Es wurde dazu aufgerufen, in rot zu erscheinen, doch wird man noch einmal alles in die Waagschale werfen oder war gestern bereits die große Resignation von allen Seiten zu spüren? Die Minimalchance von vielleicht 5% ist noch da, doch wie das gelingen soll bei acht Jahren Punktlosigkeit in Wolfsburg und der Abhängigkeit von der Konkurrenz? Dann wäre da immernoch der Angstgegner aus Franken.

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Die emotionale Aufladung hat sich seit gestern Nachmittag wieder beruhigt, die Resignation jedoch ist geblieben. Kaum jemand glaubt noch ernsthaft an den Verbleib im Oberhaus, dafür wurden zu lange zu viele Fehler gemacht, und ich rede hier nicht nur von den Fehlern im Spiel, wenn man den Gegner nicht richtig deckt oder die Laufwege nicht stimmen, nein, das wahre Problem ist unheimlich vielschichtig, fast schon zu vielschichtig, um kurzfristig daran zu arbeiten.

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Oscar Wilde hat einmal gesagt, dass am Ende alles gut wird. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende. Jedem bleibt selbst überlassen, wie er damit umgeht, der Gästeblock in Wolfsburg wird trotz allem wohl voll sein. So sehr hatte ich gehofft, es ginge am 7. Mai um nichts mehr, um einen Wochenendausflug zu meinen Eltern ohne Kummer genießen zu können. Wir alle träumten von einem entspannten Saisonfinale ohne große Angst. Doch hier und jetzt ist kein Platz mehr für Träumer.

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