Es gibt Tage, an denen liebe ich das, was ich tue. Dann sitze ich am Tag danach, oder auch zwei Tage am Rechner, lächle wissend vor mich hin, schlürfe dazu einen Kaffee und bringe etwas zu digitalem Papier, was gemeinhin “Spielbericht” genannt wird, mit den harten Fakten einer Bundesligapartie jedoch nur wenig gemein hat. Ich lebe für die Emotionen, die der Fußball, der VfB und vor allem mein Umfeld in mein Leben gebracht haben und bin stolz und dankbar, die Möglichkeit und die Fähigkeit zu haben, diese Dinge anderen mitteilen zu dürfen. Und dann gibt es die Tage, an denen stelle ich die Frage, warum ich das eigentlich tue. Das Schreiben. Der Fußball. Die Leidenschaft.

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Jeder von uns wird hin und wieder daran erinnert, warum er einst sein Herz einem Verein geschenkt hat, es sind jene Spiele wie das gegen Köln, das einem beweisen kann, dass man sich vor Jahren oder gar Jahrzehnten richtig entschieden hat. Das Los eines Fußballvereins, sofern er sich nicht am oberen Teil der Tabelle festgebissen hat, verlautet uns meist aber etwas anderes. Es geht nicht immer nur über eine unbegreifliche Liebe, um grenzenlose Emotionen – für uns geht es auch um die Bewältigung von Frust und die Antwort auf die Frage, warum wir uns trotz aller Rückschläge noch immer Woche für Woche in die Kurve oder den Gästeblock stellen. Auf der Suche nach einer Antwort auf jene Fragen, die ein Nicht-Fußballfan niemals stellen würde.

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Wir sind anders. Und wer diese Emotionen verstehen kann, weiß auch, wie sehr es an solchen Tagen weh tun kann. Für Außenstehende ist die Sachlage einfach: ein Bundesligist, der nach einem Jahr Zweitklassigkeit wieder aufgestiegen ist, spielt bei einem Bundesligist, der sich zuletzt mit viel Glück immer wieder oben gehalten hat. Früh gibt es einen Platzverweis für den Aufsteiger, den er auf kurz oder lang nicht mehr standhalten kann und einbricht. Der andere Bundesligist gewinnt das Spiel. Klingt einfach, oder? Über eine Woche ist seither vergangen, aber ein kleines bisschen nagt es schon noch an mir. Vielleicht auch ein großes bisschen.

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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Eine mehr als stressige und unangenehme Arbeitswoche liegt hinter mir. Im Grunde die perfekte Ablenkung nach einem Wochenende, das nicht so lief wie geplant, und dass mich trotz der einen oder anderen netten Begegnung ratlos zurücklässt. Nicht, weil der VfB mal wieder verloren hat. Nicht, weil der VfB die Niederlagenserie in der Ferne nahtlos fortgesetzt hatte. Aber warum musste es ausgerechnet der HSV sein? Der Verein, dem mehr Glück als Verstand dazu verhalf, trotz aller Voraussetzungen einfach nicht abzusteigen. Seit Ende August hatten die Hamburger nicht mehr gewonnen. Da kam der beste Aufbaugegner der Liga gerade recht. Und das Allerschlimmste dabei: es war in dieser Saison vermutlich noch nie so einfach, auswärts zu punkten.

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Vier Wochen lang quälte mich ein zäher Husten. Was bei unserem Urlaub auf Sylt als einfache Erkältung begann, ließ sich mit Hausmittelchen und der Hausapotheke nicht in den Griff bekommen, bis mir schließlich nichts anderes mehr übrig blieb, als mir ein Antibiotikum verschreiben zu lassen. Jeder mit halbwegs normalem Menschenverstand hätte die anstrengende Reise nach Hamburg abgesagt. Aber die verrückte Ute doch nicht. Ute quält sich lieber, denn trotz des üblichen Pessimismus will sie sich den ersten Auswärtssieg der Saison nicht entgehen lassen. Es hätte mir ja gleich suspekt sein sollen, dass diese Gedanken überhaupt in meinen Kopf geraten sind.

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Meine bessere Hälfte Felix wollte sich die Strapazen der über 650 Kilometer quer durch Deutschland gar nicht erst geben und überließ es mir, eine passende Mitfahrgelegenheit gen Norden zu finden. Gar nicht so leicht wie gedacht. Seit so vielen Jahren schon stehe ich mit Linda bei den Heimspielen im Block 33, lange Zeit nahmen wir uns nicht wirklich wahr – bis sie mich vor (geschätzt) zwei Jahren angesprochen hatte, ob ich die bin, die sie denkt, die ich bin. Seither kennen und schätzen wir uns – und Hamburg wurde zu unserer ersten gemeinsamen Auswärtsfahrt. Mit von der Partie: ihre beste Freundin Lisa, ein reiner Mädelsausflug von drei weiß-roten Blondinen. Das konnte ja heiter werden. Und wenn Felix nicht schon entschieden hätte, daheim zu bleiben, vielleicht hätte er spätestens bei diesen Aussichten die Entscheidung getroffen.

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Stuttgart-Hamburg in unter sechs Stunden

Ein jeder, der die Strecke Stuttgart-Hamburg schon einmal mit dem Auto gefahren ist, weiß, wieviel auf diesem Weg schief gehen kann. Staus, Baustellen, Unfälle, quer durch die Republik gibt es einiges, was ein schnelles Vorankommen unmöglich machen kann. Ob die Abfahrt um vier Uhr morgens ausreichen würde, um rechtzeitig anzukommen? Wir mussten es drauf ankommen lassen, begrüßten uns mitten in der Nacht am Bahnhof in Winnenden und machten uns nach einem kurzen Bank- und Tank-Stopp auf in den hohen Norden.

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“Kutscher, fahr mal tausend!” – und Linda drückte das Gaspedal durch. Ob ihr es glaubt oder nicht: nach weniger als sechs Stunden standen wir in der Tiefgarage des Hotels, bei dem wir übernachten wollten. Und das, obwohl wir durchaus Pausen gemacht haben und sogar eine Umleitung über die Käffer hinnehmen mussten. Kurz vor halb elf standen wir also da, drei Mädels an der Hotelrezeption, die Zimmer noch nicht fertig, und zogen und schließlich kurzerhand in der Hotellobby um. Uns macht das doch nichts aus.

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Für uns ging es weiter in Richtung Tierpark Hagenbeck, wo Lindas Freunde untergekommen sind und wir noch einige Zeit bis zum Aufbruch Richtung Stadion verbringen konnten. Es sagt ja immerhin keiner, dass man Mittags halb zwölf noch kein Bier trinken kann, oder? Dass wir viel von der Zeit, die wir dank Lindas Bleifuß (der für meine Nerven tatsächlich hinsichtlich Ankunft am Stadion zuträglich war) gewonnen hatten, bei der nur langsamen Anfahrt zum Stadion wieder verloren hatten, war natürlich trotzdem irgendwo schade. Wie gerne hätte ich mich noch mit Michael getroffen, einem in Reutlingen lebenden HSV-Fan, den ich via Facebook kennengelernt hatte und wir uns beim letzten Gastspiel in Hamburg am Gästeblock treffen konnten.

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Kein Foulspiel, keine Chance, keine Punkte

Da stand ich nun, zwei Tickets in der Tasche und ein bisschen spät dran. Alle Jahre wieder zieht es mich zunächst zum Imbissstand, kurz etwas schnabulieren und dann ab in den Stehblock im Gästebereich. Bis heute, weit über eine Woche später, ärgere ich mich – denn es war schlichtweg ein Fehler, nicht gleich in den Oberrang gegangen zu sein. Dass ich vor lauter Schwenkfahnen kaum Bilder machen konnte und mir erst klar wurde, dass dies eine kleine Choreographie geben sollte, als ich mitten dran stand, war natürlich ärgerlich.

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Hier und heute war ich auf mich alleine gestellt. Es war kein Felix auf dem Oberrang, der hätte Fotos machen können, auch kein Markus oder Jonas, meine geschätzten Fotografenkollegen vom Team vfb-bilder.de, heute war ich ganz alleine. Und verkackte es dadurch, die erste Halbzeit unten gewesen zu sein, im Glauben, sonst etwas zu verpassen. Dabei verpasste ich so manches gute Fotomotiv, was ich nicht mehr zurückholen konnte. “Kann passieren” mag der eine oder andere jetzt denken. Sollte es aber nicht, so gut sollte ich es nach all den Jahren eigentlich wissen.

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Nicht nur, dass ich die Choreo, das Einlaufen der Mannschaften und die ersten paar Spielminuten nicht wirklich gut einfangen konnte, als sich die Fahnen etwas lichteten und die für dieses Spiel extra erlaubte Spiegelreflexkamera (zumindest das muss ich den Hamburgern wirklich lassen) konnte zum Einsatz kommen, da sah ich durch das Telezoomobjektiv etwas, von dem ich hoffte, es mir eingebildet zu haben. Gerade einmal zwölf Minuten waren vorüber, da zückte Guido Winkmann Gelb-Rot. Gut 80 Minuten in Unterzahl. Hervorragende Aussichten also für den ersten Auswärtssieg, oder zumindest den ersten Auswärtspunkt. Nicht.

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Ein kurzer Moment der Hoffnung

Dzenis Burnic ging vorzeitig zum Duschen, erst im Laufe der nächsten Minuten fragte ich meine Nebensteher, was deren daheim gebliebene Freunde per WhatsApp geschrieben hatten. “Kein Foul, Fehlentscheidung!” – das nützte dem VfB allerdings herzlich wenig. Auch, dass der Unparteiische seinen Fehler recht bald eingestehen musste. Wo gerade noch zuversichtliche Hoffnung herrschte und man frohen Mutes war, dass es auswärts zumindest gegen den HSV reichen muss, schon alleine aus Prinzip, spürte ich nun das beklemmende Gefühl nahenden Unheils. Wie sollte die ohnehin schon nicht sattelfeste Abwehr mit einem Mann weniger auf dem Feld das Unglück verhindern?

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Noch immer stand es 0:0 und schon jetzt wünschte ich mir, ein Erdloch möge sich auftun und mich verschlingen. Ich wollte nicht mehr hier sein, denn ich ahnte bereits, was kommen würde. Die Hausherren würden sich ihre zumindest zahlenmäßige Überlegenheit zunutze machen und den VfB förmlich überrollen. Sieben Minuten hatte es gedauert, da konnten wir nichts mehr dagegen machen. Dieses grässliche Geräusch, wenn zehntausende um einen Herum aufspringen und ein Tor bejubeln, wie das von Aaron Hunt. Und als wäre das nicht übel genug gewesen, zeigte uns die Anzeigetafel auch noch das ganze Ausmaß des Debakels. Ich kann noch nicht einmal darüber schreiben, so dämlich war es. Man könnte beinahe darüber lachen, wenn es nicht so verdammt bitter gewesen wäre.

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Das Tor war gefallen und dem VfB blieb nichts anderes übrig, als hinten zuzumauern, um ein Debakel zu verhindern. Leichter gesagt als getan, denn wenn der VfB eines nicht kann, dann ist es das Mauern. Funktioniert hatte es trotzdem, zumindest bis zur Halbzeitpause. Schon jetzt wollte ich lieber nach Hause gehen, verließ den Gästestehblock und stapfte frustriert die Treppenstufen zum Oberrang hinauf, wo ich die zweite Halbzeit verbringen wollte. Gar nicht so einfach, hier durch die Menschenmenge zu kommen, immerhin hatten sich gut 4.000 Stuttgarter auf den weiten Weg gemacht, so viele bringen im Sommer manche Vereine nicht nach Stuttgart mit, die nur die Hälfte der Strecke hinter sich bringen müssen.

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Keine Gnade

“Warum bin ich Vollidiot nicht gleich am Anfang hier hochgegangen?” fragte ich mich immer wieder, als ich mit meiner Kamera auf den Stehblock unter mir hielt und auch beste Sicht aufs Spielfeld hatte. Ich habe wohl selten so gut bei einem Spiel (oder vielmehr: einer Halbzeit) sehen können, ein völlig unverbauter Blick auf das Tor vor dem Gästebereich, das nur kurz nach Wiederanpfiff unerwartete Hoffnung schöpfte. Für mich gehen solche Situationen stets zu schnell, wenn es um Handspiele, Abseitspositionen oder so manches Foul geht. Ein kollektiver Aufschrei “Hand!” schien Guido Winkmann zunächst nicht groß zu interessieren, bis er beim Videoassistenten nachfragte und auf den Punkt zeigte. Elfmeter für den VfB!

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Und so war es Daniel Ginczek, der für einen kurzen Moment neue Hoffnung keimen ließ, dass die Niederlage hier vielleicht doch noch nicht so sicher war, wie ich dachte, wie wir alle dachten. Es waren zehn wahrhaft tolle Minuten, in denen es laut wurde im Gästeblock und jeder spürte, dass hier vielleicht doch noch etwas gehen kann. Aber dieser Tag war offenbar nicht für uns bestimmt. Uns blieb nichts erspart, weder ein unberechtigter Platzverweis oder Zielers Slapstick-Einlage, noch das Gegentor durch einen, der selbst das Trikot mit dem Brustring getragen hatte. Ich weiß nicht, ob Filip Kostic schon einmal für den HSV getroffen hatte, aber dass es ihm gegen den VfB gelang, konnte mich nicht einmal wirklich überraschen. Ein gebrauchter Tag in jeder Hinsicht.

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Was hätte denn jetzt noch groß passieren können? Ein Platzverweis für den HSV, noch ein Elfmeter oder ein Glückstreffer, irgendwie einen Punkt mitnehmen und wieder heimfahren? Das war nicht das Schicksal, dass sich der Fußballgott für die 4.000 mitgereisten Stuttgarter ausgedacht hatte. Stattdessen mussten wir mit ansehen, wie statt des neuerlichen Ausgleichs das 3:1 gefallen war, Jann-Fiete Arp, der neue Shootingstar des Nordens. Wenn es einmal beschissen läuft, dann richtig. Kopfschüttelnd stand ich da, ohne das Geringste gegen dieses beschissene Gefühl hätte tun zu können. Ein unberechtiger Platzverweis und ein Torwart-Klops, der so allenfalls in der F-Jugend passieren darf, hatten das Spiel schon früh in falsche Bahnen gelenkt. Und wir konnten nichts dagegen tun.

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Gestatten: die Auswärtsloser

Dass uns Ron-Robert Zieler im Laufe der zweiten Halbzeit vor einem noch größeren Debakel bewahrt hatte, kann jedoch nicht wieder gutmachen, was er sich beim Führungstor der Hamburger geleistet hatte. Noch Tage später würde man aber allenfalls von Guido Winkmann sprechen und die ohnehin schon kritische Diskussion rund um den Videobeweis noch weiter befeuern. Wo war der Videoassistent, als der Unparteiische eine falsche Entscheidung traf? Die Regeln besagen offenbar, dass man bei Gelb-Rot nicht eingreifen darf, bei Glatt-Rot allerdings schon. Wie hätte das Spiel laufen können, wenn man das Spiel im Elf gegen Elf zu Ende hätte bringen können?

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Natürlich ist es müßig, darüber zu diskutieren. Natürlich haben die meisten von euch ohnehin verdrängt, was letztes Wochenende passiert ist. Natürlich ärgert es mich trotzdem. Und zwar maßlos. Es obliegt alleine mir, damit umzugehen, einen Haken dahinter zu machen und mein Leben fortzuführen, so wir alle es tut. Aber kennt ihr das nicht auch, dass es Tage gibt, an denen es ungemein schwer fällt? Wie würde ich mich als HSV-Fan jetzt fühlen? “Endlich!” schreien und mich freuen, dem drohenden Abstieg ein weiteres Mal zu entkommen, für ein paar Wochen vielleicht, oder wieder ein ganzes Jahr?

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Bittere Häme gab es von Hanseaten nicht, vermutlich weil ihnen selbst bewusst war, dass der ungerechtfertigte Platzverweis für Dzenis Burnic deren Heimsieg begünstigt hatte. Von den wohlwollenden Worten der HSV-Fans konnte ich mir allerdings auch nichts kaufen, als wir uns auf den Rückweg zum Bahnhof Stellingen machten. Die nächsten Auswärtsspiele würden nicht einfacher werden. Hannover, Bremen und Hoffenheim. Wenn es nicht einmal gegen den HSV reicht, gegen wen dann? Wir alle kennen die Mechanismen des Geschäfts, ich denke hierbei besonders an Hannes Wolf. Einige Stunden später saß ich erneut mit Linda und deren Freunden in einem Hamburger Wohnzimmer, Gastgeber war ein HSV-Fan, es gab Bier und Pizza. Besser wurde es an diesem Tag nicht mehr. Und sei das Beste an dem Tag gewesen, zumindest für einen kurzen Moment wieder lachen zu können.

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