Eigentlich wollte ich darüber schreiben, wie es sich anfühlte, als das zweite Tor gefallen war. Wie ein breites Grinsen über meine Lippen huschte und ich langsam mit dem Kopf nickte. Wie es sich ein kleines Stück so anfühlte, als hätte sich ein Kreis geschlossen, der vor fast einem Jahr mit seiner Rückkehr begonnen hatte. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, Mario Gomez wäre nie eine ganz besondere Personalie für mich gewesen. So viele Jahre, so viele Emotionen, so viele Geschichten. Trotz der größer gewordenen emotionalen Distanz zum Verein, ein ungelogen schöner Augenblick. Und doch ist er auf einmal bedeutungslos.

Tieftraurig und beinahe ohnmächtig sitze ich hier, versuche ein paar Worte zu finden für das Spiel, an dessen drei Punkte standen, das aber auf so bittere Art und Weise überschattet wurde. Wie soll ich unbefangen darüber schreiben können, wie ungemein wichtig dieser Sieg war, wie wir zum ersten Mal seit gefühlt sehr langer Zeit wieder so etwas wie Kampfgeist in der zweiten Halbzeit beobachten konnten und wie die Kurve schließlich beim Siegtreffer explodiert ist. Freuen kann sich hinterher niemand darüber, denn die bittere Nachricht machte schon bald die Kunde. Und wieder einmal lernen wir auf grausame Art und Weise, wie egal der Fußball sein kann.

Ich hatte nicht einmal Lust auf dieses Spiel. Die vorweihnachtlichen Vorbereitungen laufen schon jetzt auf Hochtouren, so kam das vorletzte Heimspiel des Jahres mehr einem Störfaktor gleich. Generell hatte der VfB bei mir ganz persönlich viel an Emotion verloren. Da mag zum einen die sportliche Entwicklung sein, die dem Rechnung getragen hat, emotionale Distanz aufzubauen, und dennoch fühlt es sich seltsam an. Dieser einen Sache nicht mehr die Priorisierung im Leben zu geben ist mich Sicherheit etwas, was ich nicht nur seit Jahren dringend nötig hatte, sondern was mir noch vor zwei Jahren absolut fremd und unwahrscheinlich vorkam. Die letzten zwei Auswärtsspiele fanden ohne mich statt. Nicht, weil ich nicht konnte. Sondern eher, weil ich nicht wollte.

Eine Halbzeit zum Vergessen

Die Geschichte des Spiels war im Grunde bereits vorgezeichnet. Man hatte eine Ahnung, wie das ganze laufen würde, wie sie sich die Gegentore fangen würden und mit welchen Ausreden sie später vor die Mikrophone treten würden. Der gebeutelte VfB gegen die bisher solide Hertha auf dem sechsten Tabellenplatz, was soll da schon gut gehen? Das Zutrauen in die Mannschaft und die Hoffnung auf Besserung ist am absoluten Nullpunkt angekommen, da konnten auch die bislang zwischendurch gesammelten Pünktchen nichts ändern. Ist es die Entwicklung des VfB, die uns langsam den Spaß genommen hat? Oder ist es die Entwicklung des Fußballs im Allgemeinen? Die Wahrheit wird wohl irgendwo in der Mitte liegen.

Am Tag zuvor hatte der VfB eine Mail verschickt mit den wichtigsten Infos zum Spiel. “Hart gegen Hertha” war das Motto. Nun standen wir hier, bei (zumindest gefühlten) Minusgraden vor einer Minuskulisse und fragten uns, ob die Härte des Spiels wohl noch kommen möge. Weite Teile der ersten Halbzeit waren bereits gespielt. Es war schlimm, sehr schlimm. Die alte Dame hatte bei weitem nicht ihren besten Tag erwischt, und doch war sie bei jeder Aktion schneller und frischer im Kopf. Als dann die Hertha einige Minuten vor dem Pausenpfiff das Tor machte, schien der Tag bereits gelaufen. Nichts, aber auch wirklich gar nichts deutete darauf hin, dass das Spiel noch besser werden würde.

Seit drei Monaten hatte Mario Gomez nicht mehr getroffen, in der Presse wurden bereits die Torlos-Minuten gezählt und die berechtigte Frage, ob er nicht ausgedient hat, wurde häufiger gestellt. Damit muss er leben, schlussendlich wird ein Stürmer immer an seinen Toren gemessen. Dass er, auch wenn er nicht trifft, zumindest versucht voranzugehen, kann man oft beobachten, manchmal eben auch an der Auswechselbank. In einem Interview sagte er neulich, er würde schon mal wieder treffen. Dass der VfB danach deutlich verloren hatte, machte die Aussage allerdings keinesfalls besser, der Druck wurde nur noch höher. Bis gestern.

Der doppelte Gomez

Was auch immer Markus Weinzierl der Mannschaft mit auf den Weg gegeben hatte, es war gut. Was im ersten Durchgang noch langsam, behäbig und willenlos erschien, wie ausgewechselt präsentierte man sich mit neu entdecktem Kampfgeist. Das honorierte auch die Kurve, die auf viele Weggefährten verzichten musste, das Spiel in Gladbach vor einer Woche sorgte für zahlreiche Stadionverbote – ohne genaue Details zu kennen. Die meisten der 47.680 Zuschauer (vermutlich deutlich weniger), die bei der Affenkälte ins Stadion gekommen waren, hatten gute Sicht auf das Tor, ich jedoch hatte sie nicht. Hoch mit der Kamera, abdrücken und hoffen, dass sich etwas gutes ergibt.

Und auf einmal war er da, der Ausgleich. Unerwartet, aber nun gut. Auf dem Bild, das ich in diesem Moment gemacht hatte, war noch ein Fuß zu sehen, der Rest verschwamm im unscharfen Jubel. Mario Gomez. Ich erinnerte mich an den Januar diesen Jahres, sein erstes Spiel nach seiner Rückkehr. Ich erinnerte mich an das Tor, das eigentlich gar nicht seines war und ich erinnerte mich an die Träne, die mir übers Gesicht floss, weil ich es nicht verarbeiten konnte. Ich erinnerte mich daran, wie schwer es zu begreifen war, dass der, den ich jahrelang versuchte zu hassen, wieder da war. Gegen Ende der letzten Saison lernte ich, jubeln zu können. Und wann immer er trifft, für einen ganz kurzen Sekundenbruchteil schwingt dann doch die unbeschwerte, jugendliche Emotion mit. Fast so wie damals.

Niemand hatte sich vor dieser Partie viel ausgerechnet, eskalieren konnte die Kurve dann aber trotzdem: nach 76 Minuten hatte der VfB das Spiel gedreht und feierte seinen Doppeltorschützen, der sich bis zu diesem Tag lange Zeit gelassen hatte mit dem Toreschießen. Bei allem Versuchen, emotionale Distanz aufzubauen, so richtig egal sein konnte es einem nicht, als der Kopfball im Netz landete. Die Kamera in diesem Moment ruhig zu halten und danach erst die Mitmenschen zu umarmen, ist nicht immer ein leichtes Unterfangen, aber durchaus etwas, das meine Mitmenschen mittlerweile von mir gewohnt sind. Er hat diese beiden Tore mindestens genauso gewollt wie das (Eigen)Tor am Anfang des Jahres.

Bittere Kunde am Ende des Tages

Nach Zielers letzter Rettungstat und vier Minuten Nachspielzeit war es überstanden. Erleichterung und Freude, zumindest für ein paar Minuten. Überstanden ist noch lange nichts, das wissen sowohl Mannschaft als auch Fans am besten. Für einen Moment schien die Welt in Ordnung, als wir noch nicht wussten, was in diesen Momenten passiert ist. Lächelnd verließen wir das Stadion und schlappten langsam nach Hause, wo uns kurze Zeit später bittere Kunde ereilte. Gerade eben saß ich noch an den Bildern, im nächsten Moment verharrte ich regungslos vor meinem Bildschirm.

Es gibt wohl nicht die richtigen Worte des Trosts, die Christian Gentner nun helfen können. Es ist einfach unvorstellbar. Gerade eben feierst du noch mit deinen Mannschaftskollegen, hast ein gutes Spiel gemacht und die Vorlage zum Siegtreffer gegeben, alles ist für einen Tag in Ordnung – und dann erfährst du, dass du deinen Vater verloren hast. Ich hoffe, er findet den richtigen Halt in seinem Leben, durch seine Familie, durch den Verein, und auch durch uns Fans. Viel Kraft in dieser schweren Zeit wird er mit Sicherheit gebrauchen können.

Alles wird zur Nebensache, wenn einem klar wird, wie unbedeutend das alles eigentlich ist. Das Leben ist so unglaublich kurz, um sich über Fußball aufzuregen, der für uns VfB-Fans in dieser Saison mit Gewissheit von Frust, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Aber das ist alles nicht wichtig. Es sind die Menschen, mit denen wir uns umgeben, die uns Halt geben, uns zu hören und unser Leben bereichern. Sagt diesen Menschen, wie wichtig sie euch sind, denn es sind die, auf die es am Ende ankommt.

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