Momente wie diese sind selten geworden. Wochenlang hatte die Tristesse den VfB im Würgegriff, ohne Anstalten zu machen, ihn wieder loszulassen. Unser trauriges Dasein am Tabellenende der Bundesliga wurde zur Gewohnheit, allwöchentliche Niederlagen unser täglich Brot und die Aussichten auf Besserung waren nur selten nüchterner als jetzt gerade. Das Abstiegsduell gegen den Konkurrenten aus Hannover konnte der VfB ja nur verlieren. Oder etwa doch nicht? Viel sprach nicht für einen Punktgewinn in diesem alles andere als prestigeträchtigen Kellerduell, ein übles 0:0, ein Hauen und Stochern, das so ziemlich Übelste, was man mit seinem Wochenende anstellen kann. Manchmal ist es ganz gut, keine Erwartungen zu haben. Von Zeit zu Zeit überrascht der VfB einen dann doch.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich wäre in Jubelstürme ausgebrochen. Gleichermaßen würde ich aber auch flunkern, wenn ich sagen würde, ich hätte mich nicht zumindest ein kleines bisschen darüber gefreut. Nicht, weil ich an die Wende und die Besserung von diesem Tage an glaube, aber weil wir alle lange darauf verzichten mussten. Fünf Tore. Mehr als 20% aller Saisontore in einem Spiel. Gegen einen direkten Konkurrenten. Eigentlich kaum zu glauben und ein gewisses Schmunzeln huscht dann doch über meine Lippen. Von der Leidenschaft vergangener Tage bin ich dennoch weit entfernt, ohne zu wissen, ob es jemals wieder so sein wird wie früher.

Einige Jahre in Folge war ich dem VfB an einem jeden Wochenende mit einer Selbstverständlichkeit an jeden Ort gefolgt, heute muss ich mich selbst alle zwei Wochen dazu aufraffen. Aus VfBegeisterung wurde das VfBurnout, teils eine emotionale Entwicklung, teils die logische Folge einer sportlichen Talfahrt, die auch trotz des Sieges kein Ende zu nehmen zu scheint. Ich will mich nicht beklagen, es geht mir gut, so wie es jetzt ist, die Zeiten ändern sich eben. VfB-Fan werde ich immer sein, ich werde auch mal wieder öfter auswärts fahren. Aber es ist anders geworden.

Was zum…?

Nach meinem Tipp fragte man mich besser nicht. Ein unansehnliches Geholze, bis wenige Minuten vor Schluss ein Hannoveraner Sonntagsschuss eine weitere Niederlage besiegelt und das Fass eventuell zum Überkochen bringt. Es konnte ja nun auch wirklich keiner ahnen, was einen erwartet hat an diesem Sonntag. Und da besondere Situationen bekanntlich besondere Aktionen brauchen, traf sich die Cannstatter Kurve Punkt drei Uhr an der großen Treppe am Aufgang zu den Stehblöcken. Gemeinsam wollte man sich einsingen, sich gegenseitig motivieren, sich gegenseitig klar machen, wie viel heute auf dem Spiel stehen würde.

Da stand ich nun, mit der Kamera in der Hand vor tausenden Fans, die vor den Toren der Kurve ihre Lieder sangen. Als hätte man hier mit Absicht auf diesen besonderen Tag gewartet. Danach füllte sich die Kurve, eine Viertelstunde später konnte das Spiel beginnen. Dass Mario Gomez nach 44 Sekunden die erste Torchance hatte, verbuchte ich unser einsamer Zufall und machte mir wenig Illusionen, ein Torspektakel zu sehen. Wie sehr man sich doch manchmal irren kann, nicht wahr? Eine Woche zuvor traf Steven Zuber nach einer Minute und holte danach noch einen Punkt. So etwas lässt sich wohl kaum reprodu… oh. Tor. Mario Gomez. Vier Minuten gespielt, der VfB führte. Das kam unerwartet.

Gute Stimmung in der Kurve, man wedelte die Schals wie immer bei jedem Eckball, und kommt er auch unverwertbar auf Kniehöhe im Nirgendwo an. Heute war irgendwie alles anders. Der VfB rannte, kämpfte, biss, als seien sie ausgewechselt. Nur Geduld, das Spiel war noch lang. Das 1:0 hielt ich noch für einen glücklichen Zufall, das 2:0 in der 16. Minute für eine Rarität. Verdutzt schaute man sich an. Was war denn hier los? Sonst bekommt der VfB kaum einen Ball aufs Tor und führte nun nach 16 Minuten bereits mit 2:0? Verstehen musste man das nicht. Für Freudensprünge war es für mich noch zu früh, wenngleich es der Stimmung im Stadion keinerlei Abbruch tat. Es heißt ja nicht umsonst, man solle die Feste feiern, wie sie fallen.

Wie ausgewechselt

Ozan Kabak, im Winter erst aus der Türkei zu uns gekommen, 18 Jahre jung, erst mit dem 2:0 und kurz vor der Halbzeit ebenfalls mit dem Kopf zum 3:0. Was zum…? Was war hier los? War ich hier im falschen Film? Das ist doch alles völlig absurd. Das war nicht der VfB der letzten Wochen. Man konnte im Vorfeld nur hoffen, das Trainerteam macht der Mannschaft die Wichtigkeit dieses Spiels klar, und zum ersten Mal seit längerer Zeit schien sie auf den Trainer gehört zu haben. Eine tolle erste Halbzeit, mit Applaus und Gesang verabschiedete man die Mannschaft in die Pause, auch das hat mit Sicherheit Seltenheitswert.

In der zweiten Halbzeit ließen sie es deutlich ruhiger angehen. Nicht, dass wir das nicht in den letzten Wochen auch beobachten konnten, bei einem 3:0-Vorsprung gegen derart abwesende Gäste kann man vielleicht ein kleines bisschen ein Auge zudrücken. Prompt wurde das bestraft, mit dem Anschlusstreffer nach 68 Minuten versetzte es der bis dahin tollen Stimmung einen deutlichen Dämpfer. Im Grunde muss man sich hier keine Sorgen machen, nicht wahr? Dafür kennen wir aber den VfB zu gut. Fällt direkt danach das 3:2 beginnt das Zittern erneut. Das erkannten auch die Vorsänger der Kurve, die ein feines Gespür dafür hatten, was in dem Kopf eines jeden einzelnen Fans vor sich ging. Schiss vorm 3:2.

Zehn Minuten Zittern, Bangen und Hoffen. Noch war das Spiel nicht gewonnen. Noch konnte alles den Bach hinunter gehen. Aber nicht heute. Nicht gegen Hannover. Steven Zuber erlöste uns, unter freundlicher Mithilfe der Wade von Bobby Wood (der im Hinspiel doppelt gegen uns traf), der aus einem flachen Schuss eine Bogenlampe machte, die sich hinter Michael Esser zum 4:1 ins Tor senkte. Nicht schlecht für eine Mannschaft, die in den letzten Wochen so gut wie gar nichts auf die Kette bekommen hat. Und nicht schlecht für jene, die ein unansehnliches Scheißspiel prophezeit hatten – so wie ich.

Ein nüchterner Ausblick

Einen hatte der VfB dann sogar noch auf Lager. Drei Minuten nach der endgültigen Entscheidung traf erneut Steven Zuber und machte aus einem wichtigen Sieg einen wichtigen Kantersieg. Und wo ich sonst bei allen Toren recht verhalten war, für eine kleine Umarmung ohne großes Gebrüll reichte es beim 5:1 dann doch noch irgendwie. Weit entfernt von jeglicher Eskalation, es wäre der sportlichen Situation auch nicht im entferntesten angemessen gewesen. Manche sahen das nicht so und waren äußerst euphorisch. Verdenken kann ich es ihnen aber auch nicht, zu lange hatte der VfB nun auf einen Sieg warten müssen, und noch länger auf einen Sieg in dieser Höhe.

Der Mannschaft kam der Applaus zu, den sie sich in diesem Spiel verdient hatte. Für einen kurzen Augenblick fühlte es sich fast so an, als hätte es die letzten Wochen nicht gegeben. Doch dann erinnert man sich wieder: an die sportliche Talfahrt, die finsteren Wochen mit heftigen Niederlagen, die schweren nächsten Spiele in den nächsten Wochen und vor allem die immer noch andauernde Präsenz von Wolfgang Dietrich. Selbst am Familienblock hing ein Transparent mit den Lettern “Dietrich raus”, zusätzlich zu den unzähligen Transparenten einer jeden Gruppierung in der Fankurve. Wollen wir Stuttgart oben sehen, muss zuerst der Dietrich gehen. Jedenfalls hoffen wir das.

Natürlich tut der Mannschaft und den Fans der Sieg gut. Erreicht ist damit aber noch gar nichts, und ich halte trotzdem jeden für clever genug, das richtig einzuordnen. Ein “Oh wie ist das schön” mag für den einen deplatziert wirken, ist aber viel mehr der Tatsache geschuldet, dass man so etwas wirklich schon länger nicht mehr gesehen hat. Zuletzt genau genommen so ziemlich genau drei Jahre zuvor. Gleicher Ort. Gleiches Ergebnis. Gegen Hoffenheim spielte man auch 5:1, wähnte sich im Abstiegsrennen aus dem Schneider. Nur, um danach kein einziges Spiel mehr zu gewinnen und schließlich abzusteigen. Wir alle sind gewarnt. So vieles erinnert in diesen Wochen an das bittere Jahr 2016, vermutlich weiß keiner so gut wie wir, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht.

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