Über unzählige rot-weiße Nikolausmützen hinweg schaute ich wie viele andere zur Anzeigetafel über der Cannstatter Kurve. Ich lachte herzlich und war erfreut angesichts der musikalischen Darbietungen in dem Video, das uns nach Abpfiff gezeigt wurde. Die Mannschaft sang “Jingle Bells“, begleitet von absolut gruseligen Videoeffekten, aber herzerwärmend authentisch und spontan. Es ist ein gelungener Abschluss der Hinrunde, die ihre Höhen und Tiefen hatte.

Dabei fehlte am Ende gar nicht so viel, um den sicher geglaubten Sieg doch noch herzuschenken. Was soll man sagen, auch das ist ein Stück weit der VfB, eine Wundertüte, die uns jedes Mal zum Staunen bringt. Mit einem 2:0 zur Pause schien man ein gutes Polster zu haben und hoffte lediglich auf weitere Tore für den VfB, diesmal vor der Cannstatter Kurve. Noch einmal allen Frust vor heimischem Publikum von der Seele schießen. Wenns denn nur so einfach wäre…

Als am 4. November das Los darüber entschied, dass wir nach einem Heimspiel-Erfolg gegen St. Pauli erneut daheim antreten müssen, war die Freude ohnehin schon gedämpft, der Gegner jedoch verhieß zunächst nichts Gutes. Der 1. FC Köln. Ein Angstgegner daheim. Auf dem Weg nach Kopenhagen machte man mich für diese Statistik zum “Wandelnden Lexikon”, seit 16 Jahren konnte in der Bundesliga daheim nicht mehr gegen die Geißböcke gewonnen werden, der letzte Sieg war vor 12 Jahren im DFB-Pokal-Achtelfinale, Köln war damals Zweitligist. Parallelen?

Ein ruheloser Geist

Die letzten Wochen hatten uns gezeigt, dass auf ein schlechtes VfB-Spiel meist ein gutes folgte. Ein positives Omen also, nach der beschämenden Leistung zum Bundesliga-Abschluss in Mainz würde es wahrscheinlich einen Sieg gegen die Kölner geben. Es wird aber auch wirklich Zeit, viele von uns haben noch nie einen Heimsieg gegen Köln erleben dürfen, so auch ich. Dafür viele schlimme Erinnerungen, von außerstrafräumlichen Ausflügen eines Altkeepers bis hin zu unberechtigten Strafstößen war so einiges dabei.

In die Tasche wurde am frühen Morgen alles Benötigte hinein gestopft. Pulli, Handschuhe, Bauchtäschle, Ticket, Kamera und was ich sonst noch so brauche. Mit einer inneren Unruhe verließ ich das Haus, kenne ich meinen VfB doch mittlerweile so gut, dass es mir die Lust auf Weihnachten verhageln könnte. Ausscheiden im DFB-Pokal-Achtelfinale? Gegen einen Zweitligisten? Manche Vereine hatte es seit der ersten Runde schon härter getroffen.

Mit vielen “Was wäre, wenn…?”-Fragen stieg ich nachmittags in die Bahn, die mich nach Bad Cannstatt brachte, ohne Stress, anders als beim letzten Spiel unter der Woche. Dort traf ich meine 1,96 m große bessere Hälfte, der mich mit einem durch die maue Dezemberkälte halbwegs gekühltem Wulle empfing. So ersuchten wir ein letztes Mal im Jahr 2012 den Treffpunkt der aktiven Fans, im Dunkeln waren nur schwerlich bekannte Gesichter auszumachen, bei dunklen Hosen und schwarzen Jacken aber auch verständlich.

Weihnachtliche Kopfbedeckung

In unseren Kreisen rumoren noch die Sorgen und die Enttäuschung wegen des viel diskutierten Sicherheitskonzepts des Deutschen Fußballbundes, der seit dem 12. Dezember in vereinsübergreifender Einigkeit und selten dagewesener Intensität kritisiert wird. Nach und nach fanden sich die Fans vor der Kurve ein, tranken noch ein Bier, schwätzten, lachten. Nach heute würden erst einmal 4 Wochen Winterpause sein, das schmeckt nur wenigen.

Durch die Drehkreuze hindurch direkt in die Arme der Helferlein, die jedem, der der Aktion wohlgesonnen war, eine Nikolausmütze mit Vorderaufdruck “VfB Stuttgart” in die Hand drückten. Kommt ja wie gerufen, trotz Temperaturen im Plusbereich fröstelte es mich an den Ohren, die vom weißen Filzrand überdeckt wurden. Noch ein LKW mit Ketchup, ein wenig gesundes Abendessen, doch bis es Salat mit Hähnchenbrust für schmales Geld am VfB-Imbissstand gibt, sei mir der Ernährungsfauxpas verziehen.

Ich verabschiedete mich von Felix und lief wie gewohnt die Treppenstufen hinunter, zu den anderen Leuten unseres Fanclubs, die ich vor dem Stadion bereits begrüßt hatte. Einer davon, Christoph, war heute nur zum Fußballschauen und Singen da, es muss merkwürdig gewesen sein. Er ist der Schwenker unserer Fanclubfahne, die aber heute wie alle anderen Fahnen und Doppelhalter im abgeschlossenen Raum geblieben war. Es ist unsere Art des Protestes in diesem Spiel, wir singen unsere Mannschaft nach vorne, verzichten aber auf Fahnenmaterial.

Zuschauer bei englischen Wochen: Wer bietet weniger?

Langsam zeichnete es sich ab, es würden wieder nicht sehr viele Zuschauer zusammen kommen. Der Gästeblock war mit 2.900 Kölnern gut gefüllt, während insgesamt nicht mehr als 27.500 Besucher sich für den VfB aufraffen konnten. Beschämend, kurz nach der Auslosung meinte ein alter Bekannter, bekennender FC-Fan, noch zu mir: “Ihr kriegt doch nichtmal 30.000 ins Stadion!”. Er hatte Recht. Ich finde es wirklich traurig, dass gerade die Spiele unter der Woche, gerade die Europa League Spiele lockten nur durchschnittlich 16.000 Zuschauer ins Neckarstadion.

Wo sonst in der Cannstatter Kurve etliche Fahnenstangen mehrere Meter in die Luft ragten, sah man nur zahlreiche Köpfe, viele davon mit den Nikolausmützen bedeckt. Ein merkwürdiges Gefühl, aber allenfalls besser, als zu schweigen. Heute singen und schreien wir unsere Jungs zum Sieg, auf dass wir allen 3 Wettbewerben überwintern, auch wenn die Dreifachbelastung in der Hinrunde ein Störfaktor war und es auch in der Rückrunde sein wird. Machen wir das Beste draus!

Es war angerichtet, los gings! In den nur selten eingesetzten schwarzen Trikots (3. Trikot, wenn man in den roten oder weißen Trikots nicht spielen kann, wurde bisher eingesetzt in Hamburg, Gladbach und Mainz) begann der VfB eine Partie, der ich wie kaum ein anderes mit dem Motto “Das Beste hoffen, das Schlimmste erwarten” entgegen blickte. Mein Herz schlug schnell, als der Ball sich in Bewegung setzte. Wer will schon nicht zum Pokalfinale nach Berlin? Auch auf meine auf halbem Weg gelegene Heimat würde ich mich freuen.

Volley zur Führung

Viel Ballbesitz, wenig Action. Ein zermürbendes, langeweiliges und ereignisarmes Spiel. Lange dauerte es, bis etwas passierte, schon 20 Minuten waren gespielt, bis der Geräuschpegel anstieg und sich die wenigen, die sich auf Haupt- und Gegentribüne erhoben hatten, schnell wieder setzten. Nur knapp entgingen die Domstädter dem vorzeitigen 1:0 des VfB. Diesmal hat es nicht gereicht, Thomas Kessler, der Kölner Ersatzkeeper konnte Vedad Ibisevics Kopfball gerade noch zur Ecke lenken. Weiter 0:0, zumindest fürs erste, wie sich 10 Minuten später herausstellen sollte.

Ständiger Unruheherd, selbst wenn mal nicht viel los ist auf dem Feld: unser Bosnier, der Knipser, die Lebensversicherung. Vedad Ibisevic schoss in dieser Hinrunde bereits 18 Tore (10 in der Bundesliga, 3 im DFB-Pokal, 5 in der Europa League) in 29 Spiele, kein Wunder also, dass man die Nummer 9, der erst seit Anfang diesen Jahres im Ländle ist (er hat unsere Herzen schnell erobert!), auf dem Zettel der stets potenziellen Torschützen hat. Um die Nummer 20, den Kapitän Christian Gentner, kümmerte sich keiner so richtig.

Die Schals wedelten in der Kurve wie zu jedem Eckball, ein Hauch frischer Luft, gefolgt von einem kleinen Schwall kalten Bieres. Ibrahima Traoré schlug die Ecke, dessen Abnehmer unerwartet schön den Ball ins Netz zirkelte, ein herrliches Tor, welche Erleichterung. Fäuste wurden geballt und in den Himmel gestreckt, ein Aufruf der Freude und der Hoffnung, dass auch dieses Spiel ein gutes Ende nimmt.

Auch der Ellenbogen gehört zum Arm

Nach einem Flugkopfball von Shinji Okazaki hätte es sogar schon 2:0 stehen können. Es war nicht die Creme de la Creme, was wir hier geboten bekamen, aber wir machten das beste daraus. Man hüpfte, sang und klatschte im Rahmen seiner Möglichkeiten, auch fehlten in der Cannstatter Kurve so manche Leute, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ein lustiges Bild, wenn sich zahlreiche Nikolausmützen in Bewegung setzen, die Abwesenheit sämtlicher Fahnen und Schwenker machten das Bild noch amüsanter, als es ohnehin schon war.

Seit 5 Minuten war der VfB in Führung, Köln kroch nur so dahin, sie fanden schon von Anfang an nicht ins Spiel hinein. Wenn es nach mir ginge, hätte es auch genauso bleiben dürfen. Es passte ins Bild angeschlagener Kölner, dass deren Mittelfeldspieler Jonas Hector im Strafraum den Ball nur noch mit dem Ellbogen wegzulenken versuchte, der ja bekanntermaßen “Handspiel” genannt wird und entsprechend geahndet werden muss. Handelfmeter!

Kollektive Freude um mich herum, doch vorsichtig, noch ist der Ball nicht im Tor. Doch die Chance war da. Wieder die Nummer 9. Langer Anlauf, schnell, kräftig, platziert. Hinein ins Netz kurz unter der Latte, viel Platz zwischen Glück und Pech war da nicht mehr. Ibrahima Traoré rannte zu ihm, tätschelte ihm liebevoll den Kopf. Allerbeste Laune natürlich in der Cannstatter Kurve, die nach so einigen herben Rückschlägen im Neckarstadion ein akzeptables, wenn auch kein begeisterndes Spiel zu Gesicht bekam.

Vermeintlich sicher in die Pause

Es war eine harte Hinrunde, die Anstrengung steckt vielen von uns in den Knochen, auch die Stimmung in der Kurve konnte an diesem Abend nicht zum Besten gegeben werden, trotz des 2:0-Halbzeitstandes. Dank des ruhigen und besonnenen Eingreifens unseres Keepers blieb es dabei. Ich verließ meinen angestammten Platz im rechten Bereich des 33ers und wanderte herüber bis zu dem Zaun, welcher, so bin ich fest überzeugt, ein Grund dafür ist, warum es schwer ist, rechts davon Stimmung aufkommen zu lassen.

Freundlich wurde ich begrüßt von neuen Bekannten, aber der Kumpel, den ich darum bat, in der Pause zum Zaun zu kommen, ließ mich jedoch alleine dort stehen. Es sei ihm verziehen, er hatte genug Probleme mit sich herum zu tragen, ein verrenkter Rücken sollte ihn aber eigentlich ans Bett fesseln. Gute Besserung wünsch ich dir! Neue Sichtweisen und ein verhältnismäßiger freier Blick, einziger Störfaktor meine geringe Körpergröße.

Als VfB-Fan muss man manchmal unheimlich dankbar sein für jede gute Minuten, die die Mannschaft zu Stande bringt. Gegessen war das hier noch lange nicht, gegen Hannover kassierten wir hier vor gut einem Monat noch 4 Gegentore. Irgendwie habe ich geahnt, dass wir auf der Hut sein müssen. Holger Stanislawski, der lange Zeit auf St. Pauli war, ist der aktuelle Trainer der Kölner, wir alle kennen seinen Heißsporn und seine Fähigkeiten, eine Mannschaft zu motivieren, wo sie sich selbst nicht motivieren können. Er fand anscheinend die richtigen Worte. Leider.

Von wackligen Beinen und mutigen Kölnern

Innerhalb weniger Minuten hatte der FC zwei dicke Chancen, es hätte, wenns dumm gelaufen wäre, schon 2:2 stehen können. Ich wurde unruhig, dachte an die Statistik und das, was noch passieren könnte. Personell geht der VfB am Stock, hat die Winterpause dringend nötig und kann wegen der ganzen verletzten und gesperrten Spieler nur mit dem spielen, was man zur Verfügung hat, also jeder, der noch einigermaßen gerade aus laufen kann. Ein letztes Mal zusammenreißen, Jungs! Ihr habt es ja bald geschafft.

Ganze 20 Minuten rannten wir irgendwie nur hinterher und waren Zuschauer dabei, wie der FC immer mutiger wurde. Mir wurde ein wenig schlecht, konnte ich nicht aufhören, daran zu denken, wenn Köln hier ein Tor schießen würde. Wäre Vedad Ibisevics toller Schlenzer nicht am Pfosten vorbei sondern ins Netz gegangen, wäre mir wesentlich wohler gewesen, auch wenn es dem Spielverlauf nicht so ganz entsprochen hätte.

Tief durchatmen, berappeln, weiter machen, noch ein oder zwei Tore schießen, dann wären wir sicher. Stattdessen wieder die Kölner, die noch nicht aufgegeben haben, Mato Jajalo traf nur die Latte am Eck, das war verdammt knapp, das war uns allen bewusst. Um mich herum bange Blicke, Furcht, Besorgnis. Und dennoch: Hoffnung. Hoffnung, dass es am Ende trotzdem reicht, auch ohne Verlängerung.

Auf den Zahnfleisch ins Ziel gerettet

Der VfB pfeifte auf dem letzten Loch, sie konnten teilweise nur noch hinterhertraben. Leider übertrug sich das fast 1:1 auf die Kurve, die nicht ihren besten Tag hatte, die notorische Unterbesetzung des Stadions in englischen Wochen ist einer der Gründe, warum es hier teilweise so gehemmt zuging, kann ich nicht sagen. Kein Vorwurf an die Vorsänger, die immer ihr Bestes geben, aber auch dann eine aussichtslose Position haben, wenn der Drang zum Mitmachen niedrig ist.

Noch knapp 10 Minuten, der VfB im Angriff. Irgendwie die Kugel vom eigenen Kasten weghalten, bestenfalls noch irgendwie selbst ein Tor machen, um einfach auf Nummer sicher zu gehen. Ein abgewehrter Angriff schlug schlagartig in einen Konter um, Gotoku Sakai ging nicht energisch genug auf den Mann und ließ gewähren, der Ball kam zu Christian Clemens, der nur noch vorm chancenlosen Sven Ulreich einschießen brauchte. Nur noch 2:1. Oh Gott, meine Nerven. Die 2.900 mitgereisten Kölner freuten sich, nicht zu Unrecht.

Du liebe Zeit, meine Nerven spielten jetzt völlig verrückt. Mit dem Anschlusstreffer hatten die Kölner noch einmal richtig Blut geleckt, liefen Sturm, während unsere Brustringträger nur noch zusehen und hinterherlaufen konnten. Anschauungsunterricht aus nächster Nähe, wie eine tolle Moral auszusehen hat. Über das 2:2 hätten wir uns wenige Minuten vor Schluss nicht beschweren dürfen, diesmal stand unser Ulle richtig. Die Hände nahezu betend gefaltet wartete ich sehnsüchtig auf den Abpfiff. Er besiegelte nach 92 Minuten unser Überwintern in einem von 3 Wettbewerben.

Eine musikalische Einlage zum Schmunzeln

Es war geschafft, die Erleichterung war allen anzusehen. Schön wars nicht, doch die Jungs haben es gerade noch so über die Ziellinie geschafft, mit hinkendem Fuß, mit gebrochenem Arm und klaffenden Wunden \” im übertragenen Sinn. Der Blick ging zur Anzeigetafel, als die Mannschaft uns mit einem kleinen Weihnachtsvideo erfreuen wollte. Das ist ihnen gut gelungen, besonders Martin Harnik gewann Sympathien zurück, als er sich selbstironisch auf die Schippe nahm und uns Fans versöhnte nach dem gezeigten Vogel gegen Molde.

[youtube ANo6ODIRb7c]

Das Video war zu Ende, wohlwollendes Klatschen von allen Seiten, die Mannschaft kam in die Kurve gelaufen und klatschte ab. Ich stand ohnehin schon sehr weit vorne, wollte die Gelegenheit ergreifen und streckte meinen Arm durch die Beine des auf die Brüstung gekletterten Vordermanns. Mein Arm war definitiv zu kurv, wie meine gesamte Statur. Nur wenige klatschten mich ab. Das nehm ich jetzt aber schon persönlich! Felix kam mich abholen, schon bald traten wir die Heimreise an, wünschten unseren Freunden und Bekannten noch frohe Weihnachten.

Und nun? Winterpause. Vier Wochen ohne Fußball, was für Viele ein Alptraum ist, ist für mich eine recht angenehme Zeit der Entspannung und des “Andere-Sachen-Erledigens”. Daheim bearbeitete ich meine Bilder, lud sie hoch und war angesichts das Kalenders erschrocken: noch 5 Tage bis Weihnachten \” und ich habe noch nicht alles beisammen. Zum Zeitpunkt dieser Zeilen sind es nur noch wenige Stunden bis zum 24. Dezember. Ich schreibe diesen Bericht spät, da mich die Vorbereitungen auf ein schönes Fest auf Trab gehalten haben. In diesem Sinne: frohe Weihnachten euch allen!

Gefällt mir (Noch keine Bewertungen)
Loading...