Mit weit ausgebreiteten Armen drehte er ab und hinterließ in der Cannstatter Kurve das Bildnis der Verwüstung. Küsschen, Küsschen! Küsschen für das leidgeprüfte Publikum, Küsschen für die Teamkameraden, die alles andere als eine souveräne Leistung darboten, Küsschen für alle, vielleicht sogar auch für Alexander Zorniger. Küsschen, Küsschen, lieber Timo Werner! Beinahe nichts ist schöner als der Moment der endgültigen Erlösung, zwischen nervöser Panik, in den letzten entscheidenden Konter zu laufen und jenem herrlichen Glücksgefühl, wenn du weißt: „Das Ding ist durch!“, ein Schuss ins Glück, mitten ins Herz.

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Fußball kann so schön sein. Oder auch hässlich. Manchmal sogar beides zur gleichen Zeit. Kaum jemand ging an diesem Abend nach Hause und dachte über ein attraktives Spiel nach, dass wir in unserem geliebten Neckarstadion bewundern durften. Zu oft gingen wir nach Hause, grübelten, plauderten und ärgerten uns über ein attraktives Spiel, das uns keine Punkte einbrachte. Zu oft kehrten wir mit leeren Händen heim, eine schwere Anfangsphase der Saison, die ihre Spuren hinterlassen hatte. Einige Wochen später spielt der VfB so schlecht wie noch nie in dieser Spielzeit – und doch so erfolgreich wie nie!

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Man könnte fast meinen, man befinde sich in einem falschen Film. So grotesk die Punktlosigkeit nach durchaus attraktiven Partien, so absurd nun die neuerliche Punktausbeute. Von einer Trendwende vermag hier noch niemand zu sprechen, zu unbeständig und zu unberechenbar, wann immer der VfB das Spielfeld betritt. Wir Fans sind dem schutzlos ausgeliefert, hoffen stets das Beste, geben stets das Beste, auch dann noch, wenn es uns bis zum Schluss unsere Nerven kostet.

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Von freien Tagen und selbst auferlegten Pflichten

Was bleibt, ist ein kleines wohliges Gefühl, zu wissen, dass sie es doch können, das Siegen unter schwierigsten Bedingungen, gegen einen „ekelhaften“ Gegner, mit unzähligen Ausfällen, fernab hoher spielerischer Qualität – es gab schon einfacherer Zeiten, die Flagge mit dem Wappen in die Luft zu halten, den Kopf oben zu lassen und egal was kommt, immer vom besten Falle auszugehen. Das war einmal.

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Sonntagsspiele verschaffen mir einerseits einen dringend notwendigen freien Tag am Wochenende, andererseits fordern sie meine Zeit an anderer Stelle wieder ein, wenn ich am Montagabend geradezu hier sitzen „muss“, um das niederzuschreiben, wie ich die 90 Minuten erlebt, gefühlt und gesehen habe. Was gäbe ich nur für ein bisschen mehr freie Zeit unter der Woche, denn am Wochenende habe ich sie zumeist nicht. Und ja, mir ist bewusst, dass ich mir dieses Schicksal selbst erwählt habe.

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Für manche ein ganz normaler, weitgehend entspannter Sonntag, für mich ein kleines Zeitfenster, mich den Dingen zu widmen, für die mir der Fußball am Wochenende kaum Zeit lässt. Mittags putze ich noch die Wohnung, räumte auch und bereitete ein paar Dinge für die kommende Arbeitswoche vor, bevor ich Mittags die letzten Sachen in meiner Kameratasche und meinem Bauchtäschle verstaute, die Tür hinter mir abschloss und mich alleine auf den Weg zum Stadion machte.

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Ein komisches Gefühl

Nur äußerst selten laufe ich diese Strecke alleine, Felix war bereits vorgelaufen zum Spiel der U19 gegen Ingolstadt, ein Wiedersehen würde es erst nach der Partie geben, von der ich vor einigen Tagen noch meinte, genau zu wissen, wie diese enden würde. Leverkusen hatte eine klaffende Wunde in meinem Herz hinterlassen, die nur das Pokalspiel in Jena notdürftig zusammentackern konnte. Nicht schön spielen, aber doch gewinnen können – es war etwas Neues, Aufregendes und Unbekanntes.

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Immer vom schlimmsten Falle ausgehen, dann ist die Enttäuschung am Ende vielleicht nicht ganz so groß – nur so schütze ich mich vor zu hohen Erwartungen, die einfach schon zu oft enttäuscht wurden. Doch das flaue Gefühl, das mir sonst an jedem Spieltag schwer im Magen liegt, es kam nicht. Ein gutes Vorzeichen oder nur ein umso schlechteres Omen? Ich wusste es nicht. Mit Anspannung betrat ich das Stadion, huschte durch die Eingangskontrollen, schlurfte die Treppe hinauf und trottete ganz langsam zu meinem angestammten Platz.

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Viele Blaue konnte ich vernehmen, unheimlich viele Gästefans hatten sich auf den Weg gemacht, der Gästeblock war voll – so etwas kennen wir sonst nur von Dortmund, Gladbach und den Bayern, letztere machen in schlechten Zeiten auch gut zwei Drittel des Stadions aus. Eine weite Anreise hatten sie zumindest nicht, nach knapp 180 Kilometern standen sie nun im anderen Eck des Stadions und würden sich gewiss Gehör verschaffen.

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Ungewöhnlicher Besuch

Nach einem trüben Tagesbeginn setzte sich die Sonne durch und tauchte das Neckarstadion in einen schönen Sonnenuntergang, ein perfektes Bild für die vielen Fotos, die uns Fotografen noch bevorstehen würden. Doch was bringen uns gute Fotos, wenn wir am Ende des Tages ein weiteres Mal mit hängenden Köpfen heimkehren, wo wir doch wissen, dass wir die nächsten Wochen vermutlich ohne jegliche Punkte bis in die Winterpause überstehen müssten? Gedankenverloren schaute ich umher und genoss die letzte Ruhe vor dem Sturm.

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Der Lieblingsordner unseres Blocks 33 war nach langer Abstinenz wieder da, begrüßte gefühlt alle mit Handschlag und berichtete, was er beobachtet hatte: ein entenähnliches Getier (Aufklärung dank Martin von Twitter: eine Bekassine) sei ins Stadion geflattert und habe sich direkt auf dem Elfmeterpunkt vor der Cannstatter Kurve niedergelassen. Ein böses Omen? Warum erzählt man mir sowas, wo ich doch so empfänglich bin für Aberglauben und abstruse Schicksalsgeschichten?

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Meine liebgewonnene Nebensteherin Nina sah das ganz pragmatisch: „das Vieh abknallen und für Weihnachten in die Gefriertruhe legen“. Doch wer das Vieh schon verkauft, bevor er es erlegt hat, muss sich für unangenehme Überraschungen bereit machen – genauso wie beim VfB. Den Optimismus vieler, der VfB würde schon gewinnen, konnte ich nicht teilen, man müsse nur nachfragen bei so manchem Bundesligisten, der gegen Darmstadt Punkte eingebüßt hat.

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Alles nur Aberglaube?

Solange sie am Ende die Punkte holen, es wäre es uns fast egal, wie unerträglich dieses Spiel auch anzuschauen wäre. Wie recht ich mit meinem Gedanken haben sollte, wusste ich noch nicht, als die Mannschaft zum Aufwärmen das Feld betrat, angestachelt von einer Cannstatter Kurve, die nach dem knappen, aber erleichternden ersten Heimsieg gegen Ingolstadt Blut geleckt hatte und sich nach mehr sehnte. Viel viel mehr. Darmstadt war bisher in der Bundesliga auswärts ungeschlagen. Das war Ingolstadt aber auch.

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Es war angerichtet für die erste Partie des Sonntags, die vorletzte, um den elften Spieltag komplett zu machen. Serey Dié und Christian Gentner waren wieder in der Startelf, besonders ersterer wurde in Leverkusen schmerzlich vermisst, noch immer verfolgt mich der Gedanke daran, wie es hätte laufen können, wenn der Ivorer auf dem Feld gestanden hätte. Zurückdrehen konnten wir die Uhr nicht, und wenn wir es könnten, vielleicht würde ich sie gar noch weiter zurückdrehen.

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Nach der Platzwahl wechselten sie die Seiten, die Gäste würden in der zweiten Halbzeit in Richtung Cannstatter Kurve spielen. „Sorry, Aberglaube!“ sagte Darmstadts Kapitän Aytac Sulu ins Ohr des wieder genesenen Christian Gentner. Und was ist mit meinem Aberglauben? Die Worte des Ordners von wegen „böses Omen“ kamen mir wieder in den Sinn: was wäre, wenn am Ende des Spiels…? Nein. Nein. Einfach nein. Wir brauchen die drei Punkte, viel auszurechnen brauchen wir uns am kommenden Spieltag nicht, wenn uns der alljährliche Weg nach München führt.

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Rettendes Abseits

Der Ball rollte, die Fahnen wehten und der Boden unter unseren Füßen vibrierte, nach wenigen Sekunden fehlten Martin Harnik nur wenige Zentimeter zum frühen 1:0, es wäre hier zum Tollhaus geworden. Die Stimmgewalt der Cannstatter Kurve in allen Ehren, doch wer hätte gedacht, dass es ausgerechnet die Darmstädter wären, die hier optisch und akustisch durchaus etwas entgegen zu setzen hatten.

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Zehn Minuten waren vergangen und der VfB verursachte mehr Freistöße, als mir lieb gewesen war – Darmstadt gilt als Beherrscher der ruhenden Bälle, während wir… naja, lassen wir das. Konstantin Rausch stand bereit, er hat in diesem Stadion schon einmal gegen seinen Ex-Klub getroffen. Der erste Ball konnte geklärt werden, doch da kam der ehemalige Stuttgarter aus dem Rückraum angerannt, kam zu Fall, Schiedsrichter Robert Hartmann entschied auf Vorteil und so sahen wir mit an, wie Przemyslaw Tyton aus seinem Strafraum rannte und Aytac Sulu abräumte.

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Ein Pfiff und ein Fingerzeig auf den Punkt ließ unsere Herzen in die Hosen rutschen. Im Gästeblock und auf der Unterürkheimer Kurve brannte Jubel auf, das konnte doch wirklich nicht wahr sein. Dass darauf laute Pfiffe folgten, irritierte und erleichterte zugleich: doch kein Elfmeter, da zuvor auf Abseits entschieden und das Foul unseres manchmal geistig umnachteten Keeper damit nichtig wurde. Auf diese kurze Schrecksekunde hätte ich zu gerne verzichtet, schließlich war die sportliche Situation am Neckar ohnehin schon angespannt genug.

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Knapp bemessen

Viel Hektik, viele Fouls, viele Freistöße – alles, aber kein Spielfluss. Die Unruhe machte sich spürbar auch im Block breit. Ob das hier wirklich gut geht? Noch einmal knapp zehn Minuten später blieb Martin Harnik im Strafraum verletzt liegen und musste behandelt werden, die Lilien eilten ihrem Ruf wahrlich voraus als Künstler des dreckigen und destruktiven Spiels. Steh auf, Martin, steh bitte wieder auf! Gerhard Wörn und Heiko Striegel eilten herbei, nach kurzer Zeit stand er wieder – nur um sich zehn Minuten später dann doch auswechseln zu lassen.

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Für den lädierten Österreicher kam Alexandru Maxim, der sich jedoch bei seiner Einwechslung offenbar den Zorn seines Coaches zugezogen hatte, zu langsam sei es ihm gegangen, wovon man aber im Stadion selbst nicht wirklich mitbekommen hatte. Am Arm des Rumänen befand sich ein Trauerflor, den man zunächst nicht zuzuordnen wusste: in der Nacht zuvor waren bei einem Brand in einer Diskothek in Bukarest 29 Menschen ums Leben gekommen.

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So wie Martin Harnik nach wenigen Sekunden ein paar wenige Zentimeter zum 1:0 fehlten, sie fehlten nun bei Daniel Didavi, dessen Flanke von Emiliano Insua nur knapp seinen Kopf verfehlte und für neuerliches Raunen in der Kurve sorgte. Nicht verzagen, weitermachen, immer weiter, bis es endlich dann doch einmal klappt. Vorne warteten wir und hinten zitterten wir. Przemyslaw Tyton hätte zwei Mal vom Platz fliegen können, doch hielt er uns auch mit einigen Paraden im Spiel und bestätigte seine tolle Leistung gegen Ingolstadt.

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Der VfB und seine direkten Freistoßtore

Eines stand fest, sie müssten unbedingt ein oder besser zwei Tore machen, den Darmstädtern reichen der bisherigen Bundesliga-Erfahrung nach nur wenige gute Szenen zum Torerfolg und sind damit das komplette Gegenteil des VfB. Wer hätte das noch vor dieser Spielzeit gedacht, als wir uns noch hoffnungsvoll einstimmten und dachten, alles würde gut werden, als wir noch nicht wussten, wie grausam das schöne Spiel des VfB sein kann.

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Nur noch wenige Minuten bis zur Pause. Ein erwartet zähes und unattraktives Spiel nahm seinen Lauf, bis der Unparteiische einen Freistoß für den VfB pfiff, ein ruhender Ball wie gemalt für Daniel Didavi. 1870 Tage. 267 Wochen. Über 5 Jahre. So lange warten wir auch das erste direkte Freistoßtor seit Zdravko Kuzmanovic, es war das fünfte von sieben Toren im Heimspiel gegen Gladbach. Es war das letzte Mal, dass wir es wagten, zu singen „Der VfB ist wieder da“.

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Das Netz wackelte, auf der Untertürkheimer Kurve sah ich vereinzelt die Leute aufspringen, doch schnell kehrte Ernüchterung ein: nicht mehr als das Außennetz, dabei hatte er von dieser Sorte mehrere Treffer in der Vorbereitung erzielt, warum nur jetzt nicht? Sie drückten sich wieder ohne Rücksicht auf Verluste an mir vorbei, all jene, die in der Pause die Imbissstände oder die Toiletten aufsuchen wollten. Wir konnten alle nur hoffen, dass das wenigstens das eine gewinnbringende Tor doch noch fällt – vor der Untertürkheimer Kurve scheinen sie ohnehin etwas lieber zu treffen.

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Eigenwillige Spielinterpretation

Das von den vielen Zweikämpfen, Fouls und Freistößen zerrupfte Grün wurde ein wenig in Ordnung gebracht, der Rasen noch einmal bewässert, und da sah ich es mit eigenen Augen, das gefiederte Vieh, auf der anderen Spielhälfte lief es seelenruhig über das Feld. Die Mannschaften kamen unter Applaus zurück und die Bekassine ward nie wieder gesehen. Die zweite Halbzeit hatte begonnen und wir kämpften nicht nur gegen dreckig einsteigende Darmstädter, sondern auch gegen den Referee, der bei der Beurteilung von Fouls fortan eine recht eigensinnige Interpretation an den Tag legte.

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Im Gegensatz zu den kartenlosen Gästen zückte Robert Hartmann eine Karte nach der anderen, unter anderem für Serey Dié, der seine Sperre und seine kleine Verletzung gerade erst hinter sich gebracht hatte. Es war die vierte Karte für den Ivorer, gegen Bayern wäre er noch spielberechtigt, doch fraglich, ob das vor dem realistischeren Duell gegen Augsburg eine kluge Idee wäre, die fünfte Gelbe zu riskieren.

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Alle Wut richtete sich nun gegen den Mann in Gelb, der sich gar die Zeit nahm, Alex Zorniger am Spielfeldrand zurechtzuweisen – hätte er sich mal lieber Zeit genommen, die Zweikämpfe vernünftig zu beurteilen, das Spiel drohte zu entgleiten. Dass unser Keeper nach seinen zwei Aussetzern in der ersten Hälfte noch immer auf dem Feld stand, glich einem Wunder, doch er machte es wieder wett mit erneuten Paraden, von denen wir gerne schon ein paar mehr vor einigen Wochen gesehen hätten.

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Mit dem Kopf ans Gebälk

Etwas mehr als eine Stunde war gespielt, die Unruhe wurde größer. Immer größer die Furcht vor dem späten Knock-Out, die Angst vor den nächsten schweren Wochen. Nur schwer konnten sich unsere Jungs vom Druck der Darmstädter befreien, wirklich souverän sah das ganz und gar nicht aus. Welch gefährlicher Stand doch ein 0:0 ist, wir wissen selbst, wie anfällig die Mannschaft bei Kontern und ruhenden Bällen ist, Darmstadt war bisher bekannt für beides.

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Dong! Das Gebälk wackelte, als Timo Werner mit dem Kopf nur das Aluminium traf, es wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen, auch hier fehlte nur ein kleines Stück zum Glück. Bitte nicht schon wieder. Wir hatten schon zu viele Spiele, in denen wir hochkarätige Möglichkeiten nicht ausgenutzt haben und der Gegner am Ende die drei Punkte mitgenommen hatte. Jetzt macht doch diesen Ball rein, verdammte Scheiße! Die Zeit rannte davon.

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Konzentriert schaute er drein, als er zum Freistoß kurz nach Timo Werners Lattenkracher antrat, der kleine blonde Rumäne mit der Nummer 44, der eines seiner schwächeren Spiele zeigte. Sie versuchten alles wegzuholzen, immer wieder wechselte der Ball die Richtung, bis er schließlich nach rechts kam, wo sich Christian Gentner davon gestohlen hatte. Die Kurve erhob sich von ihren Plätzen, als hätten sie es bereits geahnt.

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Eigentor? Ist uns schnuppe!

Beinahe in Zeitlupe flog der Ball über Freund und Feind in Richtung Tor, bis er sich ganz schnell senkte. Getränkt vom Bier meiner Hinterleute war es Gewissheit: Tor. Tor? Tooooooor! Wir feierten unseren Kapitän, der sein 300. Bundesligaspiel bestritt, als Torschützen, doch offiziell wurde es gewertet als Eigentor von György Garics, der noch mit dem Kopf dran gewesen war, von alleine wäre der Ball wieder herausgesprungen.

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Ob der bereitstehende Timo Werner ihn dann noch im Tor untergebracht hätte, vermag ich nicht zu beantworten. Endlich! Endlich! Endlich! Der Bann schien gebrochen, doch Vorsicht war geboten: über 20 Minuten mussten wir noch überstehen. 20 Minuten? Da war doch neulich erst was. Bis 20 Minuten vor Schluss führte der VfB auch mit zwei Toren Unterschied in Leverkusen, bevor das bittere Unheil seinen Lauf nahm.

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So laut die Darmstädter Fans eine beeindruckende Darbietung zeigten, so schnell waren sie jetzt auch verstummt, es wurde laut in der Cannstatter Kurve. Sekunden später reichten ein, zwei kurze Pässe, um unsere Abwehr auszuhebeln, Marcel Heller alleine vor Przemyslaw Tyton. Bitte nicht schon wieder. Ein weiteres Mal feierten wir ihn, wieder hatte er sich allem entgegen geworfen.

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Tyton, der Titan

Schnappatmung vor 55.200 Zuschauern, sie verteidigten wieder viel zu hoch und gaben Räume frei für die Angriffe der Gäste, die ihre Chance witterten. Die Roten zitterten, die Blauen hofften, die Schlussviertelstunde hatte angebrochen. So oft auf ihn geschimpft wurde, heute rettete er uns im wahrsten Sinne des Wortes den Allerwertesten, mal tauchte er blitzschnell ab, mal zeigte er Wahnsinnsreflexe aus kürzester Distanz, mal lenkte er den Ball gerade noch am Tor vorbei – Chapeau, Przemyslaw Tyton!

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Zum ersten Mal erntete er erstmals im VfB-Trikot verdiente Sprechchöre: „Tyton, Tyton, Tyton!“ schallte es aus der Kurve. Wie sein Vorname richtig ausgesprochen wird, weiß ich allerdings bis heute nicht. Wenige Minuten noch, die Spannung war schlicht nicht auszuhalten. Jeder Punkt ist wichtig, manch andere Bundesligisten hätten selbst einen einzigen Punkt gegen die Lilien mit Kusshand genommen. Doch musste das jetzt wirklich sein?

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Die Kurve zitterte, das Stadion zitterte dem Ende entgegen, an dessen Ende bestenfalls durch die lächerlich schlechten Lautsprecher „Paradise City“ ertönt. Meine Knie schlotterten, ich wollte nur noch, dass es vorbei ist. Verzweifelt schrie ich, „Passt auf!“, ein einziger Moment und es wäre wieder nichts geworden mit den drei Punkten. So sehr die Zeit vor dem 1:0 davon rannte, so lang und zäh vergingen die letzten Spielminuten, eine gefühlte Ewigkeit quälte uns die Frage, ob es am Ende reichen würde.

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Gefühle, wo man schwer beschreiben kann

Drei Minuten Nachspielzeit. Noch immer war es nicht vorbei. Tick. Tack. Tick. Tack. Überall um mich herum gestikulierten sie wild, schrien laut „Pfeif ab!“, tief in uns steckte der Verdacht, der VfB würde es – ein weiteres Mal – doch noch irgendwie ruinieren. Ein letztes Mal gab die Kurve alles, noch einmal alle Kräfte mobilisieren, noch einmal so laut schreien, wie man nur irgendwie kann. Wir brauchten die drei Punkte so verdammt dringend, nun war man schon so nah dran.

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Wenige Sekunden noch. Ein letzter langer Ball der Gäste, Toni Sunjic bolzte zurück zum Mittelkreis, nur weg vom Tor. Zittern, bangen, hoffen, der Pfiff wollte einfach nicht ertönen. Gehört haben wir den Pfiff auch einen Augenblick später nicht, der tosende Jubel und das brachiale Abfallen sämtlicher Steine, die von unseren Herzen abfielen, übertönte den Schlusspfiff.

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Es ist fast unmöglich, zu beschreiben, wenn man diesem Moment nicht selbst beiwohnen konnte. Dieses Zittern und die Angst, den Ausgleich durch einen einzigen Konter zu kassieren, dieser besorgte Blick zur Anzeigetafel, von der man doch eigentlich schon genau weiß, dass sie die Nachspielzeit nicht separat herunterlaufen lässt, dieser flehentliche Wunsch nach dem sofortigen Abpfiff, der Erlösung, des Jubels, der Erleichterung. Und mit einem einzigen Schuss ist es vorbei, wenngleich es diesen nicht einmal mehr unbedingt gebraucht hätte.

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Nichts für schwache Nerven

Warum nur muss dieser Verein nur immer so verdammt anstrengend sein? Man könnte fast meinen, der Abstiegskampf der vergangenen Spielzeit habe uns genug Nerven abverlangt, doch geht es nun geradeso weiter. Nicht mehr als eine entspannte Saison ohne die größten aller Ängste, ein bescheidenes Ziel für einen Verein, der sich erst selbst wieder finden muss, oder gar ganz neu erfinden muss. Es hat bereits Umbrüche gegeben und sie wird es weiterhin geben auf der langen Reise zurück zum kontinuierlichen Erfolg. Doch bis es soweit ist, nehmen wir auch einen dreckigen Sieg mit – es hat ihn einfach mal gebraucht.

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Gut und gerne hätten ihnen nun die Pfiffe entgegen schlagen können, viel hatte wahrlich nicht gefehlt, um ein weiteres Heimspiel in einen weiteren Alptraum zu verwandeln. Nun standen wir hier, erhobenen Hauptes, erleichterten Blickes und mit der Jubelfaust in der Luft. Ein hartes Stück Arbeit, das hier hinter der Mannschaft und unserer Kurve lag.

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Zu viel Glas ist schon zerbrochen, es wird noch einige Zeit dauern, bis Mannschaft und Fans wirklich wieder eine Einheit sind. Aber wir arbeiten daran. Wirklich glücklich konnte man nicht sein, zufrieden allerdings schon. Erschöpft und erleichtert zugleich schnaufte ich die Stufen hinauf, überall war Bier verschüttet worden, zerrissene Stadionhefte und jede Menge Unrat häufte sich auf den Betonstufen der Kurve, als wir uns auf den Weg nach draußen machten.

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Wir haben keine Chance – nutzen wir sie!

Um ein Haar wäre ich von langjährigen Wegbegleitern nicht erkannt worden. Was war das in meinem Gesicht? Es war das Lächeln der Erleichterung. Umarmungen der Freude fühlen sich doch so viel besser an als jene des Trostes. Ein gewonnenes Spiel, drei Punkte, nicht mehr, aber auch nicht weniger, doch lieber so in eine neue Woche starten als sich zu grämen, sich zu ärgern und davon auszugehen, dass zu viel mehr die Mannschaft nicht im Stande ist. Manchmal kommt es eben doch anders, als man es selbst erwartet hat.

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Ohne jeden Zweifel, uns steht in München eine Herkulesaufgabe bevor. Viel auszurechnen braucht man sich nicht, zumindest nicht, wenn man noch klaren Verstandes ist. Tief stehen sei das Mittel, um der bajuwarischen Übermacht beizukommen, hieß es nach deren erstem Punktverlust beim 0:0 gegen die Frankfurter. Dass das keine Option für Alexander Zorniger ist, hat er bereits kund getan. Verlieren werden wir vielleicht trotzdem – aber so ein 5:5, ich hätte nichts dagegen.

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Sie hatte nun also doch kein Unglück gebracht, die Bekassine, die sich vor Beginn beider Halbzeiten jeweils auf dem Rasen niedergelassen hatte. In Deutschland gilt diese Vogelart übrigens als vom Aussterben bedroht und war in jenem Jahr der Vogel des Jahres, als wir beim Pokalfinale wie auch in wenigen Tagen auf die Bayern trafen. Dann ohne den Doppeltorschützen Martin Harnik, für den entgegen vorschneller Behauptungen die Hinrunde für ihn gelaufen ist. Die Bekassine wird übrigens auch „Meckervogel“ genannt. Über so viel Ironie kann man wirklich schmunzeln.

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