“Warum sollte es auch im verflixten siebten Jahr anders laufen?” bruddelte ich und knallte frustriert mein Bauchtäschle auf die Couch meiner Eltern. Auf dem Tisch klappte ich den Laptop auf und setzte meine Bildbearbeitung in den Abendstunden fort, nachdem wir aus Wolfsburg zurückgekehrt waren. Vor meinem inneren Auge erschienen noch einmal all jene Auswärtspartien bei den Wölfen, die dieses Spiel seit Jahren zu meinem ganz persönlichen Trauma gemacht haben. Eine Geschichte über einen jahrelangen Fluch, über unzählige Stiche ins Herz und über die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum es mich trotz alledem immernoch hierher zieht.

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Not getan hat es nicht. Chancenlos war der VfB nicht. Gnadenlos unterlegen waren sie nicht. Und dennoch: die Punkte holten sie nicht. Dass es dabei im Gegensatz zu manch anderen Spielen in der Vergangenheit sogar zwischenzeitlich ganz gut aussah, und dass man hier immerhin beim verdienten Tabellenzweiten spielte, hilft uns am Ende nicht sehr viel weiter. Ohne Punkte stehen wir nun da, und die Uhr tickt immer lauter und lauter. Die Zeit rennt uns davon. Ein Punktgewinn wäre allenfalls eine Überraschung gewesen. Aber keine, die undenkbar gewesen wäre.

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Was am Ende übrig bleibt, ist erneuter Frust. Nicht über die Tatsache, gegen den Zweiten verdientermaßen verloren zu haben, nicht über den Zwei-Tore-Unterschied und auch nicht über die liegen gelassenen Möglichkeiten, von denen es im ersten Durchgang mehr gab als in den letzten fünf Jahren. Nein. Es ist die Einstellung der Mannschaft nach dem zweiten Tor der Wölfe. Die Luft war raus. Warum man nicht alle Kräfte mobilisiert hat, um den Coup doch zu schaffen, vermag mir nicht einzuleuchten. Und ohne diesen Kampf verlierst du nicht nur ein Spiel, sondern sehr viel mehr.

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Von Träumen und Alpträumen

Ich ahne Böses. Auch wenn ich mich in dieser Hinsicht wiederhole. Zu den Optimisten kann ich mich nun wahrlich nicht zählen, auch wenn ich es mir manchmal anders wünschen würde – einen Schalter zum „positiv denken“ gibt es nicht. Es würde das Dasein als Fußballfan um einiges einfacher machen. Und wenn man schon nicht positiv an jedes Spiel herangeht, dann doch zumindest das hinnehmen, was man als Fan ohnehin in keinster Weise beeinflussen kann. Zu dumm nur, wenn man beides nicht wirklich kann.

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Wirklich gerechnet hatte ich mit einem Punktgewinn nicht. Wie könnte ich auch, nach allem, was ich hier in der Autostadt schon hinnehmen musste. Seit ich mein Herz an den VfB verlor, fuhr ich regelmäßig hin, holte mir eine Niederlage nach der anderen ab, schimpfte bereits „Nie wieder Wolfsburg!“, nur um das nächste Mal zum Zwecke einer 34er-Saison erneut im Block zu stehen. Und ja, um erneut zu verlieren. Etwas anderes habe ich in Wolfsburg ohnehin noch nie erleben dürfen.

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Wahrscheinlich hätte keiner einen Punktgewinn in Niedersachsen so sehr gefeiert wie ich. Vor gut zwei Monaten träumte ich noch davon, der VfB würde eine Serie starten und sich mit einem Auswärtssieg bei meinem verfluchten Alptraumgegner endgültig aus dem Abstiegskampf verabschieden. Einige Wochen waren seither ins Land gegangen, so ganz geklappt hat es nicht mit dem Starten einer Serie. Hier und da ein kleines Pünktchen und ein viel gefeierter Sieg gegen die Eintracht. Am Tabellenplatz hat sich seitdem nichts geändert. Tiefer fallen konnte man nicht mehr. Wer des Galgenhumors mächtig war, fand alleine darin den einzigen schwachen Trost.

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Ostern in der Heimat

Das lange Osterwochenende stand vor der Tür. Allen Stauwarnungen zum Trotz wagten fuhren wir am Karfreitag zu meinen Eltern in meine Heimatstadt Leipzig. Zwei Fliegen sollten mit einer Klappe geschlagen werden: zum ersten Mal seit Januar meine Familie wiedersehen, und natürlich die Verkürzung des Anfahrtswegs nach Wolfsburg von 530 Kilometern auf erträgliche 200 Kilometer. Beinahe wie in alten Zeiten, als der Fluch noch kein Fluch war sondern nur eine Aneinanderreihung unglücklich gelaufener Auswärtsspiele.

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Mehr als zwei Stunden brauchten wir nicht, sogar eine Pause mit einem ausgedehnten Mittagessen war noch drin, bevor wir als eine der ersten die Autostadt erreichten. Es war ruhig vor dem 30.000 Zuschauer fassenden Stadion am Allersee. Wir waren früh dran, kurze Zeit später erreichten mehrere Busse die heutige Spielstätte. Mehr als 1.500 Schlachtenbummler sollten es nicht werden, ein fast schon bedauerlich kleiner Schnitt für ein Samstagsspiel am langen Osterwochenende. Doch genau dieses sollte der Grund sein, die meisten besuchten ihre Familien – das taten wir ja immerhin auch.

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Auf der Hinfahrt hatte ich noch entspannt lächeln können, das Grinsen vergang mir schnell, als ich vorm Stadion stand. Da waren sie wieder, die Erinnerungen an all die Gegentore in den vergangenen sieben Jahren. 18 Gegentore in acht Spielen in sieben Jahren. 18 Stiche ins Herz. 18 Mal der Rama Lama Ding Dong Song von den Edsels aus dem Jahre 1957. Auf der anderen Seite gerade einmal zwei Tore, die der VfB erzielt hatte. Martin Lanig und Timo Werner. In sieben Jahren hatten sie nicht mehr zustande bringen können.

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Zurück beim Angstgegner

Schlechter könnte die Bilanz kaum sein. Kein Wunder, dass diese Partie für mich zum alljährlichen Trauma geworden ist. Nur einmal setzte ich aus, im Jahre 2010, auch diese Partie hatte der VfB mit 2:0 verloren. An mir liegt es also nicht. Umso besser liest sich die Bilanz zumindest bis zu jenem sonnigen Samstag im Mai 2008, denn davor stand in den vorangegangenen sieben Jahren nur ein Heimsieg für die Wölfe zu Buche. Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – so heißt es doch, oder etwa nicht? Ich kenne meine Statistik. Ich kenne Wolfsburg. Und ich kenne vor allem das Gefühl, hier nichts als Unheil erlebt zu haben.

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Ein paar nette Begegnungen und Gespräche vor dem Spiel konnten meine Angst vor der bevorstehenden Partie nicht mindern. Nun stand ich wieder hier. Im Gegensatz zu den letzten Partien war es hier zumindest nicht wieder dermaßen frisch, dass man selbst mit mehreren Lagen Kleidung immernoch am ganzen Leib vor Kälte zitterte, doch unter wirklich frühlingshafte Temperaturen versteht man für gewöhnlich trotzdem etwas anderes. Ich suchte mir meinen Platz in der obersten Reihe des Blocks 33, mit gutem Blick über die eigenwillige Aufteilung des Gästestehblocks.

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Das Zeitpolster bis zum Anpfiff war geschrumpft, schon bald sollte es losgehen mit dem Spiel, von dem man nicht ernsthaft viel erwarten durfte außer einer Abreibung. Und dennoch vermochte ich nicht wirklich einschätzen zu können, inwieweit das 3:1 gegen Frankfurt ungeahnte Kräfte freigesetzt hat, die nun endlich für die Leidenschaft zweckdienlich sind, die die Mannschaft häufig hatte vermissen lassen. Der VfB ist und bleibt eine Wundertüte. Eine mit zu vielen bösen Überraschungen und ohne die Spur von Konstanz.

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Auf Augenhöhe

Nahezu die identische Aufstellung im Vergleich zur letzten Partie, lediglich Filip Kostic kam für Timo Werner in die Startaufstellung. Wirklich angsteinflößend ist kein Name unserer Mannschaft. Auf der Gegenseite drehte sich mir bereits der Magen um, denke ich alleine an Bas Dost, Kevin De Bruyne und Ricardo Rodriguez. Und wenn sie dann noch den Luxus haben, einen André Schürrle von der Bank einwechseln zu können, dann weißt du, wie schwer es für dich werden würde.

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Nicht immer standen die Wölfe zum Zeitpunkt dieser Begegnung im oberen Bereich der Tabelle. Wenn dem mal nicht so war, erwies der VfB stets seine Samariterqualitäten. Der Unparteiische Tobias Welz gab die Partie frei, die Stimmung war gut bei den mitgereisten Fans in Unter- und Oberrang. Sie hätte ein schnelles Ende finden können, wäre Luiz Gustavo nach sechs Minuten einen Schritt schneller gewesen, das Spiel wäre schon frühzeitig in falsche Bahnen gelenkt worden, ohne je Hoffnung aufkeimen lassen zu können. Es kam dann doch ein wenig anders.

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Drei Ecken in zehn Minuten. Für den VfB. Was war denn hier los? Hier spielten die Jungs tatsächlich richtig gut mit, hielten dagegen, rannten, kämpften, bissen – als gäbe es keinen Fluch, den es nun endlich einmal zu besiegen gilt. Innerhalb kurzer Zeit mehrere richtig gute Möglichkeiten. Und wie immer würden wir erst im Nachgang damit hadern, dass sie diese nicht genutzt haben. Wie immer, es heißt ja nicht umsonst, dass die Tore hinten bekommst, wenn du sie vorne nicht machst. Welche Ironie.

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Warum nur, Filip…?

Mir wurde schwarz vor Augen. Das konnte doch nicht wahr sein. Hände wurden über den Köpfen zusammenschlagen, ein lautes Raunen ging durch die Reihen. Insgeheim wusste ich, was es bedeuten würde. Völlig freistehend, ohne die Spur eines Gegenspielers, vergab Filip Kostic vor Diego Benaglio, der noch mit den Fingerspitzen dranwar. Die beste Chance des bisherigen Spiels, leichtfertig hergegeben. Wollte er ihn tunneln? Dachte er, ein Wolfsburger wäre hinter ihm? Wie hätte das Spiel wohl laufen können? Wir werden es nie erfahren.

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Es dauerte einige Sekunden, bis sich der Gästeblock aus der kurzen Schockstarre befreien konnte. Es hätte doch das 0:1 sein können, sollen, müssen. Wie befreiend ein Tor sein kann, haben wir vor zwei Wochen vor heimischer Kulisse erleben dürfen. So viele Chancen, wie sich der VfB schon jetzt erspielt hatte, gab es in den letzten Jahren nicht. Doch was bedeutet schon diese Statistik, wenn sie sie nicht nutzen.

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Sie kämpften, das musste ich ihnen anerkennen, und wenn es einen Grund gab, nach all der Schmach an einen positiven Ausgang in Wolfsburg zu glauben, so war es der bisher couragierte Auftritt. Und doch trieb es mir jedes Mal den Angstschweiß auf die Stirn, wenn die Wolfsburger im Ballbesitz waren und in Richtung Sven Ulreich kamen. Manchmal bedarf es nicht viel, einen guten Beginn mit einem einzigen schlampigen Patzer zunichte zu machen.

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Spiel mir das Lied vom Tod

Die letzten fünf Minuten vor der Pause waren angebrochen. Gerade noch erfreute man sich am bisherigen Spielverlauf, überraschend erfreulich spielte man hier bisher gut mit, sie erspielten sich ihre Möglichkeiten, keine Selbstverständlichkeit beim Duell Zweiter gegen Achtzehnten. Den Pfiff sehnte ich herbei. Gemeint war der Halbzeitpfiff. Bekommen haben wir einen anderen. Tobias Welz zögerte keine Sekunde. Im Strafraum stand er und streckte den rechten Arm aus. Die Wolfsburger Fans, sofern man diese so bezeichnen kann, jubelte. Meine Laune sank schon jetzt ins Bodenlose.

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Kann man, muss man aber nicht. Florian Klein wollte den Ball noch vor der Torauslinie klären, um zu verhindern, dass es noch einmal zu einer Flanke in den Strafraum kommt. Der Ball war eigentlich schon weg. Das wusste auch Daniel Caligiuri und ließ sich gekonnt fallen. Eine dumme Aktion des Österreichers, aber eine ebenso dumme von Tobias Welz. Allenfalls „Kann man, muss man aber nicht“ – im Zweifel anscheinend für den, der in der Tabelle weiter oben steht, so scheint es mir.

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Schon jetzt wähnte ich die Partie verloren, wie die anderen sieben davor auch. Ricardo Rodriguez trat an, einer der sichersten Elfmeterschützen der Liga, gegen den wohl schlechtesten Elfmetertorwart der Liga. Kurz vor der Pause in Rückstand, obwohl man so gut mitgespielt hatte und der Unterschied von 16 Tabellenplätzen nur selten zum Vorschein kam. Und schon wieder Rama Lama Ding Dong, zum 19. Mal. Die Köpfe sanken zu Boden, wohin ich auch schaute, sie waren alle verstummt im Gästeblock.

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Das dritte VfB-Tor in sieben Jahren

Doch sie kamen noch einmal mit dem Ball in Richtung Gästeblock, ein schneller Konter brachte den Ball zum schnellen Filip Kostic, der noch gegen Frankfurt mit einem unnachahmlichen Sprint das 3:1 vorbereitet hatte. Naldo war bei ihm, schirmte ihn ab, die Flanke kam trotzdem, fast schon zu spät, um damit noch etwas brauchbares anfangen zu können. Am zweiten Pfosten löste sich Martin Harnik von seinem Gegenspieler und nickte schließlich ein. Da konnte selbst der überragende Diego Benaglio nichts daran ändern, dass es nun wir waren, die jubelten, keine drei Minuten später.

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Es war das dritte Tor innerhalb von sieben Jahren, die Ansage „Tor für die Gäste“ ging im ohrenbetäubenden Getöse unserer Reihen unter. Der erste Ausgleich, den der VfB in meinem Beisein hier erzielt hat. Ich hatte ja gesagt, dass kaum jemand einen Punktgewinn so sehr feiern würde wie ich. Kurz darauf war Halbzeit, an mir strömten zahlreiche Freunde und Bekannte vorbei, alle zeigten die Jubelfaust und plädierten auf „minimum Unentschieden“. Ich war mir indes noch nicht so wirklich sicher. Dafür habe ich schon zu viel am Allersee erlebt.

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Wirklich viel kam von den Wolfsburger Zuschauern bei uns am Gästeblock nicht an, doch was ist schon zu erwarten bei einer noch jungen Fankultur eines Werksclubs. Zwei Tage später sitze ich nun hier, schaue mir das Spiel in voller Länge noch einmal an und stelle fest, wieviele Melodien sie mittlerweile geklaut haben, darunter auch „Oh VfB, hier im Stadion“ aus unseren Reihen. Wie peinlich. Der Ball rollte wieder und noch war die Hoffnung dank Martin Harniks schnellem Ausgleich nicht verloren.

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Unter Druck

Sie müssten nur so weitermachen wie bisher und darauf hoffen, dass die Gastgeber den Druck nicht erhöhen, schoss mir durch den Kopf. Dann ginge vielleicht etwas, gemessen am ersten Durchgang kein Ding der Unmöglichkeit. So hoffnungsvoll war ich schon seit langer Zeit nicht mehr. Das galt auch für die mitgereisten Fans, die ihre Stimme für den Verein erhoben hatten, von der ersten bis zur letzten Reihe. Wir können heute noch nicht sagen, was am 34. Spieltag sein wird, doch an uns sollte es am Ende nicht liegen.

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Für den gelb-rot-gefährdeten Serey Dié kam Oriol Romeu ins Spiel, dessen Jahr auf Leihbasis im Sommer zu Ende gehen wird und er nach Chelsea zurückkehrt. Es machte durchaus Sinn, den Ivorer vom Feld zu nehmen, bevor wir die Partie zu zehnt zu Ende bringen müssen, auch das hatte es hier in diesem Stadion schon gegeben, doch waren es einst weit tragischere Umstände. Der, den wir damals mit gebrochenem Arm verloren hatten, trägt seit 2011 das Trikot der Wolfsburger. Im Nachgang betrachtet hatte ihm der Wechsel Recht gegeben.

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Auch die Gastgeber wechselten, für Daniel Caligiuri kam André Schürrle. Was sich in den ersten Minuten der zweiten Halbzeit angedeutet hatte, setzte sich hier nun offensichtlich fort: die Wolfsburger erhöhten den Druck. Viel entgegenzusetzen hatte der VfB in Sachen Auswechslungen nicht, sowohl Vedad Ibisevic als auch Timo Werner stehen seit kurz oder lang völlig neben sich und treffen das Tor selbst dann nicht, wenn sie völlig frei davor stehen. Die Wölfe drückten und die ersten Ermüdungserscheinungen des VfB machten sich bemerkbar, die intensive erste Halbzeit hatte ihre Spuren hinterlassen.

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Der Anfang vom Ende

Die neuen Offensivkräfte der Hausherren machten sich bemerkbar und drückten den VfB immer mehr in die eigene Hälfte zurück. Lange dauerte es nicht und Oriol Romeu, gerade erst ins Spiel gekommen, sah die gelbe Karte. Da hätte man auch Serey Dié auf dem Feld belassen können, denn das minderte so keinesfalls das Risiko der raschen Dezimierung. Er hatte Kevin De Bruyne gefoult, Tobias Welz gab den folgerichtigen Freistoß.

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Ricardo Rodriguez stand bereit, um den Freistoß auszuführen. Sofort hatte ich ein ungutes Gefühl, aber in Wolfsburg habe ich das ja bekanntlich eigentlich immer. Mein Blick ging zu den Abwehrspielern und den Wolfsburgern, gespickt mit jeder Menge potenziell gefährlichen Kopfballschützen. Mit Effet zog er den ruhenden Ball aufs Tor, unberührt von Freud und Feind segelte der schließlich in aller Seelenruhe ins Netz. Guten Morgen, Sven Ulreich.

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Es fällt ja noch nicht einmal mehr auf, dass der komplette letzte Absatz keinesfalls neu geschrieben wurde, sondern bereits vor 477 Tagen auf meiner heimischen Tastatur entstand. Schon am 14. Dezember 2013 gab es ein ganz ähnliches Tor. Gleicher Torschütze, gleiche Technik, und nicht zuletzt die gleiche Unfähigkeit eines Sven Ulreich, einen Ball über eine Entfernung von 40 Metern halten zu können, ob er nun von Naldo irritiert wurde oder nicht.

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(Noch nicht) Zu spät

Auch, wenn wir es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, damit war der Wille der Mannschaft gebrochen. Und diese Tatsache ärgert mich nun auch Tage später wesentlich mehr als die Niederlage selbst. Sie hatten nun endgültig gut Lachen, die „Anderen“, wie viel zu häufig in den letzten Jahren. Schnell war ich verstummt, nicht in der Verfassung, das zu verkraften, was ich hier ein weiteres Mal durchleben musste. Immer wieder das Gleiche hier in Niedersachsen, ich bin müde, und ich bin es so leid, dass es der VfB nicht fertig bringt, hin und wieder durchaus schlagbaren Wölfen etwas entgegenzusetzen.

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Gute 25 Minuten hatte der VfB noch Zeit, erneut auszugleichen. Zu gerne erinnere ich mich in solchen Momenten an jenes denkwürdige Heimspiel gegen Leverkusen in der Hinrunde, als die ersten Zuschauer in der Halbzeitpause das Stadion verließen und nicht mehr sehen konnten, wie der VfB einen Drei-Tore-Rückstand noch zum Remis umwandelte. Der letzte Hoffnungsschimmer, wann immer es darum geht, noch einen letzten Funken Glauben in sich zu bewahren – das funktioniert mal mehr, mal weniger gut.

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Nichts wollte mehr so recht funktionieren, auch beim bemühten Martin Harnik nicht. Für ihn kam Timo Werner, in der Hoffnung, der Knoten platzt. Der Unterschied zwischen dem Tabellenzweiten und dem Tabellenletzten wurde minütlich deutlicher. Die Kräfte ließen nach und die individuelle Qualität – so schwer es mir auch fällt, das zuzugeben – wurde offensichtlicher. Sie wussten nun, was zu tun ist, sie waren dem 3:1 bald näher als wir dem erneuten Ausgleich.

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Ernüchternde Erkenntnisse

Auf ausnahmslos jeder Position sind sie besser besetzt als die Unseren. Während bei Sven Ulreich jeder Abschlag beim Gegner oder gleich ganz im Aus landet, getreu dem Motto „Hoch und weit, und vorne hilft der liebe Gott“, macht es scheinbar jeder andere Bundesligatorwart besser beim Aufbauspiel. Diego Benaglio drosch die Kugel weit nach vorne, im Bestreben, damit den lediglich von Oriol Romeu und Alexandru Maxim gedeckten Kevin De Bruyne zu erreichen, was ihm auch gelang.

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Bange Blicke im Gästeblock direkt vor unserer Nase. Ein kurzer Pass in die Mitte und der noch frische André Schürrle brauchte das Ostergeschenk, das der VfB hier in der zweiten Halbzeit so bereitwillig machte, nur noch einzutüten. Welch dillentantischer Klärungsversuch, welch peinliche Aktion, welch sehenswertes Tor, sehr zu unserem Leidwesen. Keine Viertelstunde mehr zu spielen, doch die Luft war bereits nach dem 2:1 raus.

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Wer weiß, ob mit etwas mehr Herzblut und mehr Willen das 3:1 gefallen wäre. Oder ob gar das 3:2 noch hätte fallen können. Es gibt Geschichten, die kann man nicht besser erfinden. Doch sollte es heute eben nicht sein. Der Gästeblock hatte sein letztes Lied gesungen. Stille kehrte ein, daran konnte auch das 4:0 der Leverkusener gegen Hamburg nichts ändern, welches über die Anzeigetafel kundgetan wurde.

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Totenstille

Natürlich war Wolfsburg letztendlich besser. Natürlich haben sie verdient gewonnen. Natürlich stehen zurecht so weit oben und gelten zumindest noch theoretisch als der letzte gefährliche Konkurrent für die Bayern. Aber akzeptieren konnte und wollte ich das hier nicht, während mir ein kalter Wind um die Nase wehte. Die ausgegebenen Fahne wurden zusammengerollt und nach vorne durchgegeben. Die mitgereisten Fans waren geblieben, jedoch schweigend. Wie die Mannschaft auf dem Feld fügten wir uns dem Schicksal, dass es vorbei war.

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Es gehört zu den schlimmsten Momenten als Fan eines Traditionsvereins, schweigend im Wolfsburger Gästeblock zu stehen und sich die Fangesänge der Heimkurve anhören zu müssen, die man schlicht und ergreifend einfach nicht ernst nehmen kann. Doch waren es sie, die hier nun feierten. Nicht wir, der einst so stolze Traditionsverein aus Württemberg. Was ist nur mit dem Deutschen Fußball passiert?

Für die letzten Minuten brachte Huub Stevens Moritz Leitner, dem das sportliche Schicksal des Vereins vollends egal ist. Seine Chance, seine zwei Jahre auf Leihbasis zu nutzen, hatte er vertan, ein völlig missratenes Minusgeschäft für beide Seiten. Zwei Minuten gab es obendrauf, bevor eine weitere letztendlich enttäuschende Partie endete und uns erneut mit hängenden Köpfen zurückließ. Zu bedauerlich, dass ein Spiel zwei Halbzeiten hat.

Mehr von allem

Beinahe klaglos nahmen es die meisten der mitgereisten Stuttgarter hin. Als die Mannschaft den Gästeblock erreichte, sahen sie nicht mehr als eine große Gleichgültigkeit. Kaum Pfiffe, kaum Applaus, kaum Reaktionen der zum Großteil 530 Kilometer weit gereisten Fans für eine Partie, die nur bis zum Pausenpfiff auf Augenhöhe war und danach mehr und mehr der individuellen Klasse Tribut zollen musste. Gerechnet hat wohl kaum jemand mit einer Überraschung.

Sie drehten uns rasch wieder den Rücken zu und schlappten vom Feld. Lange schaute ich ihnen nach und wusste, wieviele andere auch: Es war doch möglich gewesen. Vielleicht. Unter gewissen Umständen. Mit noch mehr Kampf. Mit noch mehr Leidenschaft. Mit noch mehr. Mehr von all dem, was man im Abstiegskampf braucht, zumindest im zweiten Durchgang. Ich mache den Jungs keinen Vorwurf, dass sie am Ende gegen starke Wolfsburger unter die Räder gekommen sind. Doch nach dem 2:1 hätte mehr kommen müssen. Das weiß die Mannschaft hoffentlich selber.

Zu einem Schulterzucken war ich nicht im Stande. Ich hatte nichts erwartet und wurde am Ende doch enttäuscht. Als die Busse vom Parkplatz fuhren und wir unseren Bekannten ein letztes Mal hinterhergewunken hatten, machten wir uns auch auf den Weg, auf die zweistündige Rückfahrt nach Leipzig, wo ich am elterlichen Couchtisch meine Bilder bearbeitete. Das achte Spiel in sieben Jahren. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

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