Alles tat mir furchtbar weh. Die Füße schmerzten, das Wasser staute sich in meinen Waden, um die Nieren war ich unterkühlt, der Hals kratzte und meine Stimme, die ich erst vor gefühlt wenigen Tagen zurück erlangte, drohte wieder wegzubrechen. Es war still geworden. Leise öffnete ich das Fenster, warf einen Blick nach draußen auf die nassen Pflastersteine als mir der kalte Wind ins Gesicht wehte. Ich schloss das Fenster wiegte, schaltete das Licht aus und atmete nochmal tief durch, bevor ich meine Augen schloss. Mein Puls hatte sich wieder beruhigt. Zwei Stunden zuvor war daran nicht zu denken.

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Wenn der VfB so weitermacht, erlebe ich den letzten womöglich entscheidenden Spieltag nicht mehr. Ich verende bereits vorher an einem Herzinfarkt, so oder so ähnlich lautet die Prognose nach den letzten Wochen. Der Twitterer Felix Christmann schrieb um kurz nach Zehn “Verein für Bluthochdruck” und sprach damit hunderten und tausenden aus der geschundenen Fan-Seele. Jeder verarbeitet diese Form des Bluthochdrucks anders. Einige treiben Sport, andere lenken sich mit Freunden und Familie ab, und dann bin da noch ich, die versucht, das alles in Worte zu verpacken.

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Niemanden von euch muss ich sagen, wieviel Kraft es kostet, dem VfB in den letzten Spielen zuzuschauen. Keiner von euch zweifelt an meinen Worten, wie nervenaufreibend die zurückliegenden Partien gewesen sind. Und jeder von euch weiß, wie groß die Sehnsucht nach überzeugenderen Ergebnissen ist. Schwebten wir noch bis vor zwei Monaten auf einer wahren Welle der Euphorie und hatten keinen Zweifel daran, mehr oder weniger mit Leichtigkeit bereits einige Wochen vor dem Ende als Aufsteiger festzustehen, stellten uns die letzten Wochen auf eine harte Probe. Eine, die einige von uns den Glauben verlieren ließ, es würde alles gut gehen.

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Keine Zeit für Schwächephasen

Auch ich gehörte dazu. In den letzten Monaten, in den letzten Wochen, in den letzten Tagen – und in Bielefeld, von der 15. bis zur 54. und von der 73. bis zur 89. Minute. Es gehört nicht viel dazu, sich nur im Ansatz vorzustellen, was mir durch den Kopf ging, als mein Blick unweigerlich auf die Anzeigetafel fiel, die gegenüber des Gästeblocks montiert war. Dass es ein Spaziergang wird, habe ich beileibe nicht erwartet, aber dass es so schwer werden würde, hatte ich nicht wahr haben wollen. Endlich mal wieder ein Spiel hoch und durchweg überzeugend gewinnen, mehr von der Sorte wie das Heimspiel gegen Fürth, weniger Krampf, mehr Euphorie, weniger Punktverlust und mehr von dem Willen, unbedingt aufsteigen zu wollen.

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Für mich hatte sich der Aufstieg schon mehrfach in dieser Spielzeit erledigt. Die Spiele werden weniger und der Druck immer höher, ich würde lügen wenn ich behaupten würde, es wäre leicht für mich. Zum ersten Mal seit Jahren hatte der Fußball zwischenzeitlich wieder Spaß gemacht, doch je näher es Richtung Saisonfinale geht, desto größer wird auch meine Angst vor dem vierten Platz, der uns am letzten Spieltag, womöglich noch aufgrund des Torverhältnisses zum Verhängnis werden könnte. Ich bin mir dessen bewusst, was alles noch schief gehen kann. Dabei würde mir der Glaube an das, was noch gut gehen kann, viel besser zu Gesicht stehen. Sicherlich auch im Sinne meines Blutdrucks.

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Verlieren verboten. Diese Marschrichtung gilt seit spätestens einigen Wochen, als der VfB in Fürth nicht nur die Punkte liegen ließ sondern zum ersten Mal bei den hartgesottenen Optimisten Zweifel gesät hatte, am Ende wirklich auch aufzusteigen. Keine Ideen, kein Wille, keine Leidenschaft, nichts von alledem, was man braucht, um ins Oberhaus zurückzukehren. Einst hatte mich das überaus frustriert, darauf folgten einige Unentschieden, die mich fast noch mehr frustrierten. Was blieb, war das Ziel, und genauso auch die Angst davor, es knapp zu verpassen.

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Über Leipzig nach Bielefeld

Schon vor vielen Wochen begannen die Vorbereitungen für Bielefeld. Nicht, dies besonders viel Vorbereitung gebraucht hätte, vielmehr das Osterwochenende als Ganzes, das Felix und ich bei meiner Familie in Leipzig verbrachten, kombiniert mit dem Geburtstag meiner Mutter. Entspannte Tage und schöne Unternehmungen, fernab des Zweitligaalltags, an den wir uns fast schon gewöhnt haben, und doch nicht erst gewöhnen wollen. Was geradewegs als Abenteuer begann, entwickelte sich zu einem festen Plan. Doch wie fast jeder Plan hat auch dieser seine Lücken, dabei können wir uns diese gar nicht leisten.

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Nach der gesamten Ostertour steckten uns 1.330 Kilometer in den Knochen. Den geringsten Anteil daran hatte fürwahr die Fahrt quer rüber vom Osten nach Ostwestfalen. Nach gut drei Stunden Fahrt erreichten wir die Stadt, die es eigentlich gar nicht gibt und suchten zunächst unsere Herberge auf, die uns für die Nacht nach dem Spiel ein Quartier sein sollte, wer wollte schon gerne nachts um elf bei unberechenbaren Witterungsverhältnissen durch die Nacht nach Hause fahren? Wir nicht, das klärten wir bereits frühzeitig, mieteten uns am Südrand der Altstadt in ein nettes Hotel ein und entspannten uns noch einige Zeit.

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Dass der Ernst wieder begonnen hatte, wurde mir erst klar, als ich die Speicherkarte in meine Kamera steckte und mein Trikot überstreifte. Auf zum ersten von sechs Endspielen. Gefühlt hatte die Saison dabei doch gerade erst begonnen, viel zu schnell verging die Zeit und viel zu oft vergesse ich, dass jeder Schmerz vergänglich ist. Hält man sich vor Augen, dass Felix und ich schon unzählige gemeinsame Auswärtsspiele hinter uns gebracht haben, dass ich persönlich in den letzten Zügen meiner dritten 34er-Saison bin und ich mit dieser einzigartigen Fanszene schon mehr durchlebt, erlebt und gelitten habe, als ich mir je zu träumen gewagt hätte… dann wird ein einzelnes Spiel auf einmal klein und unbedeutend, sei es auch noch so groß empfunden worden.

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Das Leben, das wir wählten

Bisher kannte ich Bielefeld nur aus Erzählungen. Schon vor meiner Zeit als Brustringträgerin kannte ich die Bielefeld-Verschwörung, und von den Auswärtsspielen auf der Bielefelder Alm, nicht zu vergessen das 2:3 aus der Meistersaison, das alles kannte ich nur über viele Freunde und Bekannte. Vieles habe ich in dieser Saison zum ersten Mal erleben dürfen, auf ein zweites Mal würde ich bei der einen oder anderen lehrreichen Erfahrung zu gerne verzichten. Nicht alles war schrecklich in dieser Spielzeit, doch ich kann nicht einfach sagen, an einem nasskalten Montagabend in Bielefeld zu spielen gehörte zu den heiß ersehnten Highlights. Hinfahren, Gewinnen, Heimfahren – klingt einfach, gestaltete sich aber sehr viel schwerer als gedacht.

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Die großen Metalltore zwischen den unzähligen Schrebergärten an der Melanchtonstraße waren noch verschlossen, als wir die Bahn verlassen hatten und die letzten Meter durchs Wohngebiet zurückgelegt hatten. „Sind wir hier überhaupt richtig?“ fragte ich Felix, der es eigentlich hätte wissen müssen, doch sein letztes Spiel hier war gut zehn Jahre her, wie sollte er da noch wissen, wo er gelaufen oder gefahren ist? Hinter den Dächern der Häuserzeilen lugte schließlich das Dach hervor, zwischen Sonnenschein und dicken Regenwolken erreichten wir unsere heutige Spielstätte. Ich war freiwillig hier. Und ich hätte es nicht einmal anders gewollt.

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Als die Ultras gut hundert Meter weiter um die Ecke bogen, nahm ich meinen Platz im zugigen Gästeblock ein. Von den Unruhen, die draußen die Gemüter erhitzten, bekam ich erst später von Erzählungen mit, und weil ich mich wunderte, dass sie alle eine gute halbe Stunde später noch nicht durch die Kontrollen waren. Am Tag darauf kursierte schließlich ein Video, dass die Brutalität der Polizei offenbarte, raue Mengen Pfefferspray auf Augenhöhe und der Einsatz von Schlagstöcken. Ich weiß nicht, was passiert ist, ich war nicht dabei – aber notwendig erschienen mir diese Maßnahmen beileibe nicht.

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Eng, enger, Aufstiegskampf

Von all dem habe ich nichts mitbekommen, als ich meinen Platz neben dem unpraktischen Metallzaun einnahm, der die Stehplätze von den Sitzplätzen trennte. Die Kälte zog durch die Betonstufen durch den Körper nach oben und ich stellte frustriert fest, dass Winterjacke und Stiefel vielleicht doch noch irgendwie in unser Auto gepasst hätten, was mir im Bielefelder Gästeblock allerdings herzlich wenig nützte. Schmunzelnd sagte ich noch, dass mich hoffentlich zumindest das Spiel erwärmen würde. Ich hatte ja gar keine Ahnung.

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Endlich mal wieder hoch zu gewinnen, das wäre es doch. Und ich meine das noch nicht einmal arrogant oder abwertend der Arminia gegenüber, viel simpler, es geht nur um die Tordifferenz. Mit 54 Punkten und einer Tordifferenz von +17 führte der VfB die Tabelle an, gefolgt von den punktgleichen Braunschweigern mit einer Tordifferenz von +15, danach kommen Hannover, Union und Dresden mit einer Tordifferenz zwischen 14 und 10.

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Eng geht es zu auf den ersten paar Plätzen, da können schon ein, zwei Tore entscheidend sein. Ein beängstigender Gedanke. Nicht weniger beängstigend, was sich mir darbot, als sich die vielen Fähnchen von der 10-Jahres-Choreo des Fanclubs DKS Gundelsheim wieder gelegt hatten. Man konnte nur ahnen, dass es schwierig werden würde, dass der VfB in den ersten Minuten aber so gar nichts auf die Reihe bekam, trübte die anfänglich gute Stimmung schon ein wenig. An solchen Tagen bist du den Geschehnissen ausgeliefert und stöhnst nur noch „Ausgerechnet“.

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Ausgerechnet

Ausgerechnet er. Christoph Hemlein, der von 2011 bis 2013 das Trikot des VfB trug, über die Amateure in der dritten Liga aber nie hinaus gekommen ist. Unvergessen bleibt dennoch sein Tor gegen den KSC, das er vor gut 20.000 Zuschauern im Neckarstadion schoss, wenige Tage vor dem Bundesliga-Auftakt in Felix’ und meine erste 34-Saison 2012/2013. Ausgerechnet er. Ein kleiner Hackentrick auf der linken Außenbahn hatte ausgereicht, die Abwehr war kurz nicht sortiert und völlig frei kam er zum Kopfball. Viel zu halten gab es da für Mitch Langerak nicht. Und der Jubel der Arminen ließ mein Blut in den Adern gefrieren.

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Ich will nicht sagen, dass sie es nicht versucht haben. Aber es funktionierte nicht, egal was sie auch versuchten. Gegen die Abwehr Bielefelds schien kein Kraut zu wachsen und beflügelt vom Führungstor wuchsen die Gastgeber über sich hinaus, wie im Grunde ein jeder Zweitligist, wenn er gegen uns spielen muss. Und so fluchte, stöhnte und bruddelte ich mich durch die erste Halbzeit, immer wieder mit den Worten, man könne so den Aufstieg vergessen und dass alles andere als ein Sieg in Bielefeld indiskutabel wäre, genauso wie jeder liegen gelassene Punkt indiskutabel ist. Wie sollte das denn noch gut gehen? Ich wusste es nicht. Niemand wusste es.

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Halbzeitpause. Es hatte noch weiter abgekühlt und ich bereute zutiefst, dass meine Thermo-Strumpfhose im Wäschekorb in unserer Wohnung gelegen hatte. Genau jetzt hätte ich sie gut brauchen können, ausnahmsweise war ich diejenige, die das Aprilwetter unterschätzt hatte. Auch das Spiel wärmte mich nicht, im Gegenteil, es ließ mich im Glauben zurück, dass sich der VfB selbst um den Aufstieg bringen würde, indem er in den wirklich entscheidenden Momenten nicht zur Stelle ist. Meine einzige Hoffnung lag auf der Halbzeitansprache von Hannes Wolf, welche hoffentlich von Erfolg gekrönt sein würde.

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Aus vierzig Metern ins Glück

Gedankenversunken stand ich an dem Metallzaun, vergrub die linke Hand in der Jackentasche und steckte mit der rechten Hand die Kamera durch den Zaun. In der zweiten Halbzeit würden die Tore für den VfB auf der anderen Seite fallen, wenngleich ich mir nicht vorstellen konnte, wie der VfB denn ein Tor schießen will, geschweige denn, das Spiel noch gewinnen will. Dass sie mich schon so oft in jedweder Hinsicht überrascht haben, hätte mir Warnung und Hoffnung zugleich sein müssen – denn noch was das Spiel nicht vorbei.

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Manchmal entscheiden wenige Sekunden, ob ich den einzigartigen Moment eines Tores aufs Bild bekomme oder nur ein schemenhaftes Gebilde aus Streifen und Unschärfe. Ich war noch nicht bereit, als Ebenezer Ofori zu Simon Terodde durchsteckte, doch das war mir egal, solange er nur den Ausgleich macht. Arminen-Torhüter Daniel Davari lief raus, in bester Tyton-Manier und nahm unserem Top-Torjäger den Ball ab. Was folgte, werde ich vermutlich lange nicht vergessen können, wie so manch andere Szene in dieser abenteuerlichen Spielzeit.

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„Was macht der denn da?“ wird sich jeder gefragt haben, als er dieser kuriosen Szene seine Aufmerksamkeit schenkte, hatte er nun einen roten oder einen blauen Schal um den Hals geschlungen. Auf links kam Alexandru Maxim heran geeilt, der bisher ein gutes Spiel machte und das neu erlangte Vertrauen unbedingt beweisen wollte. Den Ball zu stoppen, der ihm da von Daniel Davari geradezu vor die Füße gelegt wurde, hatte der Rumäne nicht nötig. Vierzig Meter. „Ach was, der geht doch drüber“. Der Rest war Geschrei.

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Drei Minuten zwischen Himmel und Hölle

Das konnte ich einfach nicht glauben. Das laute Getöse um mich herum und die überraschten Gesichter ließ mich ein Stück weit ratlos zurück. Bevor ich meinen Freunden Ingrid und Gerd in die Arme gesprungen war, schüttelte ich den Kopf und flüsterte lautlos: „Das gibt’s ja gar nicht!“ Der VfB war zurück im Spiel. Und wie! Gerade erst hatte ich mich mit dem Gedanken beschäftigen müssen, hier nicht zwangsläufig als Verlierer vom Platz zu gehen, offenbarte sich bereits eine ganz neue Situation.

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Emiliano Insua und Simon Terodde. Kein ganz ungewöhnliches Gespann, im Gegenteil. Keiner legte so oft für unseren Neuzugang aus Bochum vor wie der Argentinier, doch ob man dies wirklich als Assist verzeichnen kann, überlassen wir den erfahrenen Statistikern. Wie er das gemacht hat, habe ich auch nach der fünften Wiederholung nicht ganz fassen können, einen Haken, den zweiten Haken, den dritten Haken, der Gästeblock schrie bereits im Kollektiv „Schieeeeeß“, bevor er dem letzten Haken der Verzweiflung nahe schien. Noch immer war Simon Terodde am Ball. Alleine gegen Daniel Davari. Ein Lupfer. Ein Tor. Ein Traum.

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Flatsch! Von hinten kippte mir ein Schluck Bier ins Genick, aber das war mir vollkommen egal. Binnen drei Minuten drehte der VfB ein schon früh verloren geglaubtes Spiel und brachte damit meine lange geschwundenen Hoffnungen zurück. Dass es noch lange nicht vorbei war, wussten insgeheim alle der gut über 2.000 mitgereisten VfB-Fans aus nah und fern, doch ließen wir die Mannschaft das nicht spüren. Wieder wurde geschrien, gehüpft und gesungen, ein weiteres Mal auf dem Weg zum Aufstieg. Weiter, immer weiter!

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Vielleicht doch nicht gut genug

Nur nicht die Nerven verlieren, das war die Devise dieses nasskalten Abends. Wer weiß, wie sich das Spiel noch entwickelt hätte, wenn die Fingerspitzen von Mitch Langerak nicht mehr am Ball gewesen wären, scharf getreten von Christoph Hemlein direkt an der Strafraumkante. Tief durchatmen, nur nicht durchdrehen, atmen, Mädchen, atme! Viele von denen, die dieser Partie nicht beiwohnen konnten (oder wollten), saßen jetzt in diesem Augenblick vor den Fernsehern und fieberten mit. Noch war der VfB auf der Siegerstraße – und war nur kurze Zeit später erneut geschlagen.

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Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ein Weltklasse-Reflex hielt uns gerade eben noch in der Spur, doch Glück und Leid liegen in 90 Minuten ganz oft ziemlich nah beieinander. Arminia hatte Blut geleckt, doch noch einmal zurückzukommen, eine Phase, die der VfB über Minuten hinweg nicht richtig in den Griff bekam und die bittere Pille nach 73. Minuten dann doch schlucken musste, vor den entsetzten Augen seiner euphorischen Anhänger. Reinhold Yabo nutzte den Abklatscher unseres Keepers, ausgerechnet ein ehemaliger Karlsruher.

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Gut 20 Minuten hatte der VfB noch Zeit, doch wieder fehlte es mir an der Zuversicht. Ein 2:2 wäre definitiv zu wenig für uns, nicht nachdem Hannover das Derby gegen Braunschweig gewonnen hatte und uns damit wieder zwischenzeitlich von der Tabellenspitze verdrängt hatte. Mein guter Kumpel Dennis aus Bremen neigt in solchen Momenten oft zu der Aussage, der Drops sei noch nicht gelutscht, nur am Vertrauen mangelte es mir ganz persönlich, für den ganzen Gästeblock vermag ich jedoch nicht zu sprechen.

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Eine Lebensversicherung mit der Nummer Neun

Gnadenlos tickte die Uhr herunter. Immer wieder angepeitscht von unseresgleichen, aber die Zeit rannte der Mannschaft davon. Zu lange hatten sie geschlafen, in der ersten Halbzeit und viel zu oft in den vergangenen Wochen. Noch war es aber nicht vorbei, weder in diesem Spiel, noch in dieser Saison. Schon jetzt war ich mit meinen Nerven komplett durch, hätte die Arminia hier noch das Tor gemacht, es wäre aus gewesen mit den Aufstiegshoffnungen.

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Ich kann euch nicht sagen, was den inzwischen eingewechselten Daniel Ginczek durch den Kopf ging, als er in der 89. Minute den Pass nach vorne spielte, beinahe in die Füße der Bielefelder Abwehr. Ich kann euch nicht verraten, was Simon Terodde dachte, als er einen Schritt voraus auf Daniel Davari zurannte. Aber eines kann ich euch sagen: solche Momente vergisst du nicht. Meinen Kopf presste ich zwischen zwei Metallstäbe und nahm in Kauf, meine Brille zu ruinieren, nur um besser sehen zu können. Da sah ich ihn, den blonden Riesen, ich sah den Lupfer und dann sah ich nichts mehr. Dass ich die Kamera laufen ließ, realisierte ich nicht einmal mehr.

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Sekunden später umklammerte ich die beiden Metallstäbe fest mit den Händen, rüttelte unablässig daran und schrie laut heraus, als ob es um mein Leben ginge. Die Bürde von 90 anstrengenden Minuten fiel ab, als sich der dritte Ball hinter Daniel Davari im Netz einfand. Jemandem Unbefangenes kann man es kaum erklären, was man empfindet, wenn man in der 89. Minute bei einem Monatsspiel in Bielefeld das Siegtor macht. Man kann es nur fühlen.

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Nur noch fünf

Drei Minuten Nachspielzeit. Vor mir wurden sämtliche Schals gezückt, ob im Stehblock oder im benachbarten Sitzplatzbereich. Die Gefahr war nicht gebannt, nicht doch noch ein ganz krummes Ding zu kassieren, das hinderte den mitgereisten Anhang aber herzlich wenig, unser Aufstiegslied zu singen. Mit Freuden sang ich es mit, doch sang ich es vor schon mit weitaus mehr Überzeugung. Mein Blick war aufs Spielfeld gerichtet, als Harm Osmers, ein in Hannover lebender Badener, die Partie beendete. Zum ersten Mal seit Wochen blieb der Unparteiische unauffällig, während wir die einige oder andere bittere Fehlentscheidung in den vergangenen Partien schlucken mussten.

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Hannes Wolf wusste ganz genau, wo er hinwollte. Ich beobachtete ihn, wie er von strammen Schrittes auf den Platz marschierte, ich hatte keinerlei Zweifel daran, was er tun wollte. Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen umarmte er Simon Terodde und Daniel Ginczek, die beide zusammen eine zwei Mal verloren geglaubte Partie gerade noch zum Guten wenden konnte. Es fühlte sich gut an, gewonnen zu haben, aber wir werden uns, und auch er ihnen, viele Fragen stellen müssen. Die wichtigste davon wird sein, wie wir uns davor bewahren können, uns mit der Abwehr den Aufstieg zu versauen.

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Langsam leerte sich der unbequeme Gästeblock, nach oben und nach unten entschwanden die Weiß-Roten in die Nacht. Für uns ist es zur Gewohnheit geworden, der Anblick leerer Sitzschalen und zugemüllter Betonstufen, als letzte verließen wir den Block, mit einem Lächeln aber vor allem mit einem von der Anstrengung gezeichnetem Gesicht. Nach Schönspielerei fragt schon lange keiner mehr. Fünf harte Spiele liegen noch vor uns, keines davon wird leicht sein. Fünf lange Wochen zwischen Hoffnung und Angst, bis zum Tag X, an dem alles entschieden wird. Fünf nervenaufreibende Male, in denen wir gemeinsam alles tun werden, damit es reicht. Es muss reichen.

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