Und dann stehst du auf einmal da und hast keine Ahnung, was da gerade um dich herum passiert. Ging es nicht vor fast zwei Stunden lediglich darum, sich nicht ganz so heftig vom Gegner verprügeln zu lassen und danach aufgrund des bereits vollbrachten Klassenerhalts entspannt wieder heimzufahren? Wer hätte uns denn auf das vorbereiten können, was wir am Samstagabend erlebt haben? Die Niederlage in Leverkusen war einkalkuliert, wie schon seit vielen Jahren, es war lediglich eine Frage der Höhe. Für uns ging es um nichts mehr, außer einer besseren Endplatzierung – für Bayer ging es aber um die Champions League Qualifikation. Also was genau ist da eigentlich passiert?

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Einige Tage danach habe ich noch immer nicht ganz nachvollziehen können, wie viele Dinge an diesem Samstag zusammenlaufen mussten, um den gut 3.000 mitgereisten Fans einen euphorischen Abend zu ermöglichen. Alles sprach doch gegen uns, oder nicht? Gute Erinnerungen an Auswärtsspiele in Leverkusen habe ich nicht, allenfalls ein 2:2 vor etwas mehr als sechs Jahren darf noch einigermaßen als Erfolgserlebnis verbucht werden. Ansonsten weist die Auswärtsstatistik einige finstere Abschnitte auf, das schlimmste Erlebnis in jüngerer Vergangenheit war ohne jeden Zweifel das letzte Aufeinandertreffen vor zwei einhalb Jahren. Trotz 2:0- und 3:1-Führung verlor der VfB am Ende mit 3:4. Warum sollte es ausgerechnet besser laufen, wenn es für den Gastgeber noch um so viel geht?

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Ich hatte den Plan, mich nicht aufzuregen, wenn der VfB schlecht spielen und/oder verlieren würde. Zunächst müde belächelt, ging der Plan dennoch auf, allerdings nicht, wenn man sich die entspannte Haltung auf alles andere bezieht. Nach einer problemlosen Anfahrt mit meinem Kumpel Timo und meiner besseren Hälfte Felix, erreichten wir Leverkusen um die Mittagszeit, gingen in Laufweite zum Stadion noch amerikanisch essen und schauten uns die Schlusskonferenz der zweiten Liga und die erste Halbzeit der ersten Liga an. Über den VfB musste ich mich nicht aufregen. Über den nicht totzukriegenden HSV allerdings schon.

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Ein Blick in die andere Richtung? Nein Danke!

Ein ganzes Lokal voller VfB-Fans unweit der BayArena Leverkusen, ein eher ungewohnter Anblick. Die Betreiber des erst vor gut einem Jahr eröffneten Lokals “Arizona”, das ich bisher nur in Köln – ebenfalls unweit des Stadions – kannte, werden vermutlich auf regelmäßige Gästefans gewöhnt sein. Jeder von ihnen saß ganz entspannt da, aß, trank, und schaute auf den Fernseher an der Wand. Kollektives Raunen, als der HSV den Elfmeter gegen Wolfsburg verwandelte, flehentliches Entsetzen, als das zweite Tor folgte. Offenbar war ich nicht die einzige an diesem Ort, die davon gewissermaßen genervt war. Dass wir dies schon bald als zweitrangig erachten würden, hat ja kein Mensch ahnen können.

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Nach einigen Jahren Viel- und Allesfahrerei gibt es abgesehen von der zweiten Liga in der vergangenen Saison und so manchem exotischen Aufsteiger keine Stadien mehr, die neu für einen sind. Auch Leverkusen reiht sich ein in eine lange Liste von Stadion, in denen man schon mindestens fünf Mal zu Besuch war. Am Samstag war ich zum siebten Mal in Leverkusen, aber es war das erste Mal, dass das Ergebnis keinen Einfluss auf das sportliche Schicksal einer Saison hatte. Übereifrige Zungen würden jetzt aber nur zu gern behaupten, nach dem Absichern des Klassenerhalts ist nun noch ein ganz anderes Thema für den VfB machbar geworden. Aber es ist keines, von dem ich in dieser Saison etwas hören will.

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Eigentlich ganz gemütlich, wenn man keine Angst mehr vor dem Abstieg haben muss. Die letzten drei Spieltage vollkommen entspannt erleben zu dürfen ist etwas, bei dem man sich durchaus bei Tayfun Korkut bedanken darf. Die Jahre des Abstiegskampfs haben einen mürbe gemacht, umso schöner, wenn man aus dem Schlamassel heraus ist. So konnte sich auch keine extreme Anspannung vor dem Spiel aufbauen, da stand ich einfach nur da, schlürfte an meiner Cola und sah dabei zu, wie sich der Block mehr und mehr füllte. Erst kurz vor dem Anpfiff erreichten auch die Ultras den Gästeblock und es konnte losgehen mit einer vermeintlich belanglosen Partie, an dessen Ende Leverkusen vermutlich zwei bis drei Tore mehr erzielt haben wird als der VfB.

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Die Nerven bewahrt

Hinterher musste ich dann selber darüber lachen. Zwei Minuten rollte der Ball an der Bismarckstraße, da gab Tobias Welz einen Freistoß für uns. Ich lehnte mich vor und sagte “Der sollte jetzt besser drin sein, näher ans Tor kommen wir heute vermutlich nicht”, dicht gefolgt von einem knapp am Ball vorbeirauschenden Timo Baumgartl und einem am langen Pfosten bereitstehenden Christian Gentner. “Ooooh” raunte der Gästeblock und ich musste lachen, wäre der Ball drin gewesen, ich hätte mich vermutlich kaum mehr eingekriegt. In den folgenden Minuten nahm die Partie dann erwarteten Verlauf, als unter dem lauten Getöse des Gästeblocks die Hausherren immer stärker wurden – und nach einer Viertelstunde der Videobeweis zu einem Handelfmeter für Leverkusen führte. Jep, alles wie immer in dieser Stadt.

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Man machte sich nicht einmal die Mühe, Ron-Robert Zieler zu ermutigen, den Strafstoß zu halten, so teilnahmslos und etwas genervt war man, dass das Spiel schon so früh für die Werkself zu deren Gunsten kippen würde. Mit verschränkten Armen schaute ich zu, wie Lucas Alario zum Punkt schritt. Kein Zweifel, er würde ihn versenken und sein Team auf die Siegerstraße führen. Das hat nichts mit meiner “Das Glas ist immer halbleer”-Einstellung zu tun, sondern einfach mit gesundem Menschenverstand, einer realistischen Einschätzung der beiden Teams und nicht zuletzt meiner Erfahrung aus den vergangenen sechs Spielen. Ich schaute dem Ball hinterher, wie er in Richtung Tor zischte. Leverkusen hatte Bock auf den Führungstreffer. Ron-Robert Zieler aber nicht.

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Ich weiß nur noch, wie ich allen um den Hals gefallen war, als hätte der VfB ein Tor gemacht. Einen gehaltenen Elfmeter sieht man nicht alle Tage, und dieser hier würde noch ganz, ganz wichtig werden. Die Grundvoraussetzungen für eine exzellente Stimmung im Gästeblock waren damit spätestens erfüllt. Die brauchten wir auch, denn einmal vermochte einen das Spiel nicht wirklich mitzureißen, zum anderen weil von den Fans der Werkself so gut wie gar nichts kam – nicht, dass mich das sonderlich gewundert hätte. Mit einem fast schon schmeichelhaften 0:0 ging es in die Pause. Der VfB machte das bisher zwar ordentlich, aber sobald die Werkself die Schlagzahl erhöhen würde, sei Ende im Gelände, soviel war sicher. Dachte ich jedenfalls.

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Am Arsch geleckt!

Gegen Ende der ersten Halbzeit waren viele bereits auf dem Weg zu den Imbissständen und Toiletten, während in unseren Reihen ein Lied angestimmt wurde, was uns nicht nur durch die Halbzeitpause, sondern auch durch die zweite Halbzeit bis weit in die Rückfahrt begleiten würde. Wer auch Tage später keinen Ohrwurm davon hat, der möge uns am Arsch lecken, ich meine, den ersten Stein werfen. “Leeeeeverkuuuuuuseeeeeeeen, leckt uns doch alle am Arsch”, mit jeder Runde lauter, euphorischer, kräftiger, von der ersten Reihe des Stehblocks bis zur letzten Reihe des Sitzblocks. Der Gästeblock hatte dieses wenig anspruchsvolle Lied die komplette Halbzeitpause durchgesungen, so etwas hatte ich bisher noch nicht erlebt.

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Sah die erste Spielhälfte mit viel Fantasie noch weitgehend ausgeglichen aus, wendete sich das Blatt im zweiten Durchgang. Immer wieder rannte der Gastgeber an, fand aber stets in Ron-Robert Zieler seinen Meister oder schoss mehr oder weniger knapp am Gehäuse vorbei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mit der Brechstange das Tor erzwingen. Und wenn sie es nicht selbst schaffen, würde der VfB wie so oft natürlich gerne unterstützen, so wie nach 67 Minuten, als unser Keeper nach einem Rückpass nach vorne spielte, direkt vor die Füße von Karim Bellarabi, der in vier der letzten fünf Spiele gegeneinander jeweils ein Tor gemacht hatte. Einfacher war es vermutlich nie, die Bude zu machen, aber auch hier stand unser Keeper wie eine Eins. Eine unfassbare Leistung von Ron-Robert Zieler. Und wir hatten nicht einmal Zeit, ihn minutenlang dafür zu feiern.

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Ein paar Sekunden tief durchschnaufen, mehr wurde uns nicht zugestanden, bevor es weiterging. Kurze Zeit später war es der Ballgewinn von Santi Ascacibar, der unsere Aufmerksamkeit erlangt hatte, dessen Weitergabe auf Mario Gomez und dessen Steilpass auf Daniel Ginczek. Erwartet hatten wir von diesem Spiel nichts, aber wenn wir schonmal hier sind…?! Der Kroate Tin Jedvaj war schneller und blockte die Möglichkeit, direkt zum Tor zu schießen, aber schließlich waren Daniel Ginczeks Mitspieler geistesgegenwärtig mitgelaufen. Die Flanke von Dennis Aogo hatte ich im ersten Moment nicht wirklich verstanden, da eine Fahne den mitgelaufenen Christian Gentner verdeckt hatte. Und dann eskalierte auf einmal alles. Auf einmal war der Ball im Tor. Was zum…? Bevor ich realisieren konnte, was hier gerade passiert ist, stand ich mitten in einer Bierdusche und sah alles um micht herum laut schreiend wild um mich herumspringen. Das sind diese Tage.

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Ungeplant, unverhofft, unfassbar

Das gibts doch eigentlich gar nicht. Der VfB führte absolut überraschend bei der Werkself und keiner konnte so wirklich sagen, warum. Der VfB nicht. Die Gastgeber nicht. Die 30.210 Zuschauer im Stadion nicht. Trotz all der Freude, ein kleines bisschen war da auch die Erinnerung an unser Spiel im Oktober 2015, als man in Führung lag und bitter verloren hatte. Aber selbst wenn, für den VfB würde sich am Klassenerhalt nichts mehr änder und alles, was nun kam, war ein Bonus. Wieviel ist wirklich dran, wenn man sagt, mit einem befreiten Kopf spielt es sich leichter? Die beste Saisonleistung hat man hier nicht gezeigt (am ehesten noch Ron-Robert Zieler!) und dennoch war man drauf und dran, hier Punkte aus Leverkusen zu entführen. Vorbei war das Spiel allerdings noch nicht. Stefan Kießling wurde eingewechselt. Oh oh.

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Niemand sonst schießt so gerne Tore gegen den VfB wie Stefan Kießling. Seine letzten Tage sind gezählt, am Ende der Saison beendet er seine aktive Fußballkarriere, aber für eine Viertelstunde sollte es in dieser Partie noch reichen. Es hätte perfekt ins Bild des “normalen VfB” gepasst, wenn er seine Riesenchance sechs Minuten vor Schluss auch genutzt hätte, eben weil es immer so ist. Gefolgt von einem weiteren Kontertor wäre es schlussendlich doch das Spiel geworden, das erwartet worden war. Aber es kam nichts mehr. Kein Gegentor. Kein erneuter Elfmeter. Kein Konter. Sollte der VfB hier etwa das beinahe Unmögliche schaffen?

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Tick. Tack. Tick. Tack. Den Gastgebern lief die Zeit weg und wir flehten den Abpfiff herbei. Drei Minuten Nachspielzeit, wir haben zu viel erlebt, um jetzt schon zu feiern. Erst wenige Sekunden vor Schluss traute sich der Gästeblock, ein zaghaftes “Sieg!” anzustimmen und um ca. 20:25 Uhr war es dann endlich soweit: hoch die Hände, Auswärtssieg! Und was für einer! Lange feierte man noch mit der Mannschaft, bevor es in Richtung Heimat gehen konnte. Die unerwarteten Siege sind mitunter die schönsten, das wissen wir nicht erst seit dem Heimsieg gegen Dortmund in der Hinrunde. Hängen bleibt ein Wahnsinnsspiel unseres Keepers, ein überraschender Sieg, dass der HSV nervt… und: “Leeeeeverkuuuuuuseeeeeeeen, leckt uns doch alle am Arsch”.

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