Manches kommt nach vielen Jahren einfach nicht mehr überraschend. Der VfB vermasselt alljährlich seinen Saisonstart, punktet wenig bis gar nicht und im Herbst fallen mit den Blättern auch die Trainer. Eine mindestens genauso verlässliche Voraussage wie die Tatsache, dass meine Mama zum Besuch des Töchterleins alles auf Lager hat, von dem ich mal sagte, ich würde es gerne trinken oder essen. Oder wie die Tatsache, dass der Heimatbesuch zwar stets wunderbar ist, aber die Heimreise ohne Punkte angetreten wird.

Nur knapp 1.700 VfB-Fans waren angekündigt für diese Partie, in der Realität waren es vermutlich sehr viel weniger. Wirklich verwundern konnte es mich nicht, hat man doch bereits letztes Jahr deutlich klargemacht, dass nichts über Tradition geht. Es gibt dankbarere Anstoßzeiten als einem Mittwochabend Ende September. Viele verzichteten auf das zweifelhafte Privileg, gegen einen Kommerzklub unter der Woche im Stadion zu sein, und so wurden auf sämtlichen Kanälen noch Karten für die Partie angeboten.

Für uns ging es bereits am Dienstagabend in meine Heimatstadt. Zum ersten Mal seit vielen Tagen ausschlafen, ein tolles Frühstück, erstmal die elterlichen IT-Probleme versorgen – wer kennt es nicht? – und schließlich ein Shopping-Bummel mit Mama. Das Spiel, das am Abend stattfinden sollte, war so unfassbar weit weg, und doch so real in jedem Moment, als mir jemand im RB-Trikot entgegen kam. Eine weitere Begegnung mit meiner Vergangenheit und meiner alternativen Gegenwart, die nur eine Entscheidung entfernt gewesen war.

Kein Spiel wie jedes andere

Jeden meiner Handgriffe habe ich schon unzählige Male zuvor gemacht. Das Prüfen der Tickets im Stadiongeldbeutel, das Prüfen der Speicherkarten und Batterien in den Kameras, das Überstreifen des Trikots und zu guter Letzt noch ein letzter Check, ob auch das Telefon, der Schlüssel und die Tempos dabei sind. Gleich würden wir aufbrechen, wie schon oft beim elterlichen Besuch. Und doch war es so anders. Das Treppenhaus hinab, den schlaglöchrigen Fußweg zur Straßenbahnhaltestelle und hinein in die Linie 7, die mich bis vor gut acht Jahren noch ins Büro gebracht hat. Heute sollte sie mich zum Stadion bringen, einem Ort, in einer Stadt, die mir so vertraut und gleichzeitig so fremd ist.

Als ich meiner Heimat 2010 den Rücken kehrte und ins heilige Ländle übersiedelte, gab es sie noch nicht, diese Menschen mit ihren rot-weißen Schals, die so tun, als hätten sie jahrzehntelang nichts anderes gemacht. Es heißt immer, die Region dürstete viele Jahre lang nach hochklassigem Fußball – und das ist wahr. Dass die allerwenigsten von ihnen nicht hinterfragt haben, wofür sie da einstehen, ihren Schal schwenken und die Lieder singen, zusammengeklaut aus vielen Jahren deutscher Fußballfankultur. Und doch ist mir bewusst, dass ich auch auf deren Seite hätte landen können, wäre ich 2009 nicht schon im Besitz der VfB-Dauerkarte gewesen.

Da stand ich nun, vor der Festwiese des alten Zentralstadions, an dessen Flutlichtmasten aus meiner Kindheit ich mich noch gut erinnern kann. Sie lugten hinter dem Wald hervor, wann immer ich mich mit meiner Mama auf den Weg zur Kleinmesse machte (eine Art Wasen, nur sehr viel kleiner, ohne Bierzelte und dafür drei Mal im Jahr), auf der anderen Seite des Elsterbeckens. Es sollte nicht das letzte Vertraute sein, das mir an diesem Mittwochabend begegnen sollte.

Im Zeichen des Wiedersehens

Kurze Zeit später gesellte sich mein alter Kumpel Dennis hinzu, den ich seit gut zehn Jahren kenne, seines Zeichens gebürtiger Bremer, schon ewig in Leipzig und noch länger stolzer Werder-Fan. In Zeichen der Not ist jedes Mittel recht, um den VfB gegen Red Bulls Marketingkonstrukt zu unterstützen, spielte die Farbe des Herzens keine Rolle. So lange kennen wir uns schon – und doch waren wir das erste Mal gemeinsam im Stadion, nach über zehn Jahren. Sachen gibt’s.

Bei einem in Leipzig lebenden Bremer sollte es nicht bleiben. Hinzu kamen Nicole aus Bottrop, Moritz aus Dresden, Sebastian aus Cottbus, Eric aus Magdeburg sowie Nico und Jörg aus dem sächsischen Wurzen und deren Kumpel aus Leipzig, dessen Name den Weg in mein Gedächtnis leider nicht gefunden hat. Allesamt VfB-Fans, und einer war es zumindest für ein Spiel lang. Die meisten kenne ich seit vielen Jahren und es bedeutete mir viel, heute mit ihnen hier zu sein.

Und während ich damit zu tun hatte, allen irgendwie gerecht zu werden, bereitete sich auch die aktive Fanszene auf das nicht ganz alltägliche Spiel vor. Der Oberrang des Gästebereichs wurde gesperrt, es wurde kuschliger im offiziellen Sitzplatzbereich in dem Stadion, das einst 100.000 Zuschauer fassen konnte. Ein bundesweiter Aktionstag im Zeichen des Protests stand an, für fangerechte Anstoßzeiten, die Erhaltung von 50+1 sowie die Abschaffung des Videobeweises. Mit 20 Minuten Schweigen sollte die Partie beginnen. Dass sich die Leipziger an dem Protest nicht beteiligten, konnte man schon ahnen. Warum sollte man auch gegen das sein, was den eigenen „Verein“ ausmacht?

Ihr werdet von uns hören – oder auch nicht

Auf den Sitzschalen hatten wir es uns bequem gemacht und beobachteten, wie sich das Stadion füllte – sofern man von „füllen“ sprechen konnte. Viele leere Bereiche, die Tribünen des Stadions vielleicht allenfalls zur Hälfte oder zwei Dritteln gefüllt. Sind die Ansprüche in Leipzig etwa zu hoch geworden oder ist die späte Anstoßzeit einfach nichts für das familientaugliche Klatschpappenerlebnis? Dass auch der Gästeblock nicht voll war, machte es allerdings auch nicht besser. Aber wer fährt unter der Woche schon gerne knapp 500 Kilometer zu einem Fußballspiel? Ich mache das. Damals wie heute.

Dass die in den ersten Reihen ausgelegten weißen und roten Folien (oder waren es simple Regenponchos?) eine kritische Aussage bilden würden, hatte ich mir schon beinahe gedacht – „Anti RB“ war darauf zu lesen, wenn man nur weit genug davon entfernt war. Und während der Ball bereits rollte, verharrte man die ersten 20 Minuten ganz still im Block. Kein organisierter Support, kein Singen, kein Klatschen. Stille. Zumindest in unseren Reihen.

Nach 20 Minuten konnte auch für die mitgereisten Fans der Support beginnen, lautstark, leidenschaftlich und energisch, wie man die Cannstatter Kurve kennt. Ein Tag wie gemacht, um endlich die Wende zu schaffen, sollte man meinen. Die Realität sieht nur leider anders aus. Zwar ließ man sich nicht überrollen im ersten Durchgang, aber ohne Durchschlagskraft nach vorne geriet die Partie des fünften Bundesligaspieltags weitgehend zu einem uninspirierten Ballgeschiebe. Früher oder später würde das schief gehen. Und das tat es auch.

Wie zu erwarten war

Echte Angriffsbemühungen unternahm der VfB nicht, und so kam es, wie es kommen musste: statt mit einem vernünftigen 0:0 in die Halbzeitpause zu gehen, ließ man die Gastgeber einfach gewähren. Sekunden vor dem Pausenpfiff kam ein Eckball ins Halbfeld zurück zum ehemaligen Leverkusener Kevin Kampl, eiskalt abgezogen, geklärt, aber nicht festgehalten. Willi Orban staubte ab und die „Fans“, die wir am meisten verachten, sprangen auf und jubelten. Das hätte es jetzt nicht wirklich gebraucht.

Für die überschaubare Menge, die sich an diesem Tag auf den Weg gemacht hat, war die Stimmung recht ordentlich. Nur dass der VfB mal wieder so gar keine Bemühungen anstellt, die mitgereisten Fans für die Strapazen zu belohnen, drückte aufs Gemüt. Stellte man sich in den ersten Minuten noch gar nicht so blöd an, flatterten bei der Defensive mit zunehmenden Spielverlauf mehr und mehr die Nerven. Nach vorne ging nichts mehr, hinten brannte es lichterloh und es war von vornherein klar, dass sie sehr viel mehr brauchen würden, um hier noch zu punkten.

Nicht einmal das zurückgenommene 2:0 via Videobeweis konnte die Mannschaft dazu veranlassen, jetzt noch einmal Gas zu geben. Stattdessen weiterhin eine selten gesehene Behäbigkeit, keine Bewegung, kein Offensivdrang, keine Motivation, keine Kraft. Zur Erinnerung: der VfB hatte am Freitagabend gespielt, Leipzig erst am Sonntagabend. Wie erklärt man sich also, dass diese wesentlich spritziger, schneller und ideenreicher waren als unsere? Kann es nicht sein, dass gehörig etwas schief gelaufen ist in der Saisonvorbereitung und im täglichen Alltagstraining?

Ernüchterung allenthalben

Statt dem Ausgleich war eher noch das zweite und dritte Tor der Gastgeber zu erwarten, beim VfB lief heute so gar nichts zusammen und man lag auch nur deswegen „nur“ 1:0 hinten, weil entweder Ron-Robert Zieler noch die Hände dran hatte oder der Pfosten im Weg stand. Dass zehn Minuten vor dem Ende der gerade erst eingewechselte Jean-Kévin Augustin den Deckel draufmachte, konnte niemanden der 32.187 Zuschauer so wirklich überraschen. Das heißt aber nicht, dass es nicht doch sehr bitter ist. Die Punkte hätten wir dringend gebrauchen können, ohne jede Frage, aber gegen wen will diese Mannschaft denn noch gewinnen? Etwa gegen Bremen, die mit einem Sieg bei uns Tabellenführer werden können?

Die Mannschaft stellte sich, blieb ein paar lange Sekunden ratlos vor dem Gästeblock stehen und personifizierte damit das Bild, das der VfB seit Wochen abgibt: statisch, ideenlos und hilflos. Es dürfte nicht schwer sein, sich auf den VfB als nächsten Gegner vorzubereiten, sehr variabel ist unser Spiel schließlich nicht. Alles ist leicht zu durchschauen und wenn man das erst einmal weiß, fehlt das Können, den Gegner dann doch zu überraschen. Tayfun Korkut weiß das vielleicht auch. Er weiß, dass er punkten muss. Aber wie soll er das hinbekommen?

Der Block leerte sich schnell, nur allzu verständlich, wenn man erzählt bekommt, dass die Busse für frühestens halb sechs morgens in Stuttgart zurückerwartet werden. Wer weiß, wieviele von ihnen direkt ins Geschäft müssen, nachdem man wieder einen sinnlosen Urlaubstag vergeudet hatte. Wir verließen als Letzte den Gästeblock, sammelten die letzten Pfandbecher ein und machten uns auf den Weg. Inmitten von all den Lemmingen, die dem Kunstprodukt hinterhergelaufen sind, stiegen wir schließlich aus der Bahn aus – dort, wo ich einst zuhause war. Erst am nächsten Tag fuhren wir wieder heim und stellten uns die selbe Frage wie Campino, der durch die Lautsprecher kam: „Wo sind diese Tage, an denen wir glaubten, wir hätten nichts zu verlieren?“

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