Mit den Worten “Es dürften zwei Tickets für uns hinterlegt sein…” stellten wir uns an den Schalter des alten Stadions in Weinstadt-Benzach, nur wenige hundert Meter entfernt von dem Startpunkt so mancher Auswärtsfahrt. “Jaja, auf Sie beide habe ich schon gewartet” schmunzelte der ältere Herr und schob uns durch die Fensteröffnung zwei VIP-Pässe zu. Da hatte unser Kumpel Sammy, der selbst im Verein SG Weinstadt aktiv ist, ganze Arbeit geleistet. Artig bedankten wir uns und freuten uns auf einen tollen Tag beim Testspiel gegen Fürth. Dass uns die pralle Hitze des Julis zu schaffen machen würde, hätten wir dabei aber auch vorher bedenken können.
Gut anderthalb Monate war es her, dass in Wolfsburg der letzte Vorhang gefallen war und den VfB in die Niederrungen der zweiten Liga beförderte. Viel zu lange hatte man keine Mittel gefunden, aus einem anfänglich harmlos wirkenden Zeitraum verlorener Spiele wurde eine ernsthafte Krise, immer lauter wurden die Gedanken, dass in diesem Jahr der Abstieg unausweichlich war. Was hatte ich in den letzten Jahren nicht immer wieder davon gesprochen, dass es gerade dieses Mal schief gehen würde, irgendwas oder irgendwer hatte uns bisher immer retten können. Nicht so in jenem tristen Frühsommer 2016.
Weit über einen Monat ist es nun schon bereits her, das letzte Saisonspiel in Wolfsburg. In der bittersten aller Stunden war der VfB abgestiegen, was in den letzten Tagen der ersten Liga kaum jemand wahrhaftig zu überraschen vermochte. Und doch stelle ich mir bis heute jene ernüchternde Frage: wie konnte man es nur soweit kommen lassen? Unvergessen bleibt jene legendäre Siegesserie zu Beginn der Hinrunde, bei der niemand vermuten konnte, dass man trotz allem am 14. Mai absteigen würde. Dass ich auch in der schönsten Zeit der letzten Jahre den Zeigefinger hob und warnte, wie schnell es wieder vorbei sein kann, wollten die wenigsten glauben.
Wie schnell sich der Gästeblock wirklich geleert hat, habe ich nicht einmal mitbekommen. Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da, frierend ob des doch recht frischen Windes, der uns um die Nase wehte, mit Rückenschmerzen, Magengrummeln, dickem Kopf und der letztendlichen Gewissheit, dass jetzt alles vorbei ist. Vorbei ist sie, die Saison voller Tiefen und auch einigen Höhen. Vorbei ist sie, eine erneute Niederlage, die sich nahtlos in all das einreihte, dass ich seit acht Jahren in Wolfsburg hinnehmen musste. Vorbei ist sie, die wunderbare Zeit in der ersten Liga. Der VfB ist abgestiegen. Und zwar mit Ansage.
Eigentlich hatte ich gedacht, Tränen der Trauer würden über meine Wangen laufen. Eigentlich hatte ich gedacht, der VfB nutzt die letzte Chance, die er noch hat. Eigentlich hatte ich gedacht, das alles würde irgendwie anders laufen. Da waren keine bitteren Tränen, keine hemmungslose Aggression in mir, nur die große Fassungslosigkeit, wie uns das noch passieren konnte. Wieder einmal. Es scheint wirklich so zu sein, dass sich die Geschichte immer wiederholt, bis man es eines Tages doch richtig macht. Jahr für Jahr wachen wir auf wie Bull Murray an einem jeden Tag und stellen fest, dass es immer so weiter geht.
Kaum etwas hat in den letzten Wochen so polarisiert wie die Ansetzung unseres Auswärtsspiels. Eigentlich sollte ich heute Abend in Bremen sein, im Gästeblock, da, wo ich hingehöre, um meine Mannschaft im wohl wichtigsten Spiel der Saison zu unterstützen. Stattdessen bin ich in Stuttgart geblieben – wie viele andere meiner Freunde, Bekannte und Weggefährten auch. Sie alle sitzen in diesem Moment im Büro, zuhause auf der Couch, auf der Terasse oder dem Balkon, mit flauem Gefühl im Magen und dem Gedanken, man solle jetzt eigentlich in Bremen sein.
“Wie ich noch hoffen soll, ist mir schleierhaft. Wie der VfB es noch schaffen soll, ist mir schleierhaft. Wie die Fans wohl mit den nächsten Wochen umgehen, ist mir schleierhaft. Es sind noch drei Spiele und damit die rechnerische Möglichkeit von neun Punkten und dem direkten Klassenerhalt. Die Köpfe hängen schwer, während alle anderen mentalen und sportlichen Erfolg verbuchen, hadern wir mit uns selbst.” – Jene Worte stammen vom Auswärtsspiel auf Schalke, an genau diesem Spieltag vor genau einem Jahr. An dem Tag, als man genau am gleichen Punkt war, gefühlt bereits abgestiegen war und es viel schlimmer nicht mehr kommen konnte.
Viele Stunden sind vergangen, seit ich am späten Sonntagvormittag meine Augen öffnete. Mein größter Wunsch blieb unerfüllt: das alles wirklich nur geträumt zu haben. Gerädert stand ich auf, tapste ins Bad und direkt an den Rechner. Mit einem Kaffee vor mir starrte ich lange Zeit ein leeres Blatt auf dem Bildschirm an. Hier sollten in einigen Stunden ein paar Seiten stehen über das Erlebte, was es im Nachgang des Augsburgspiels aufzuarbeiten galt. Der Drang war groß, einfach nichts zu schreiben bis auf die Worte: “Hier gibt es heute keinen Spielbericht zu lesen, da der VfB sich weigerte, am Spiel teilzunehmen”, doch einfach ist das leider nicht.
Es ist nicht so, dass ich wirklich etwas anderes erwartet hatte. Ich habe genau das erwartet, was es am Ende war, eine weitere Niederlage gegen die Bayern. Und doch sind es jene Spiele, die am bittersten sind: jene, in denen du für einen Moment an der Sensation schnuppern kannst, das Gefühl fast schon riechen kannst, bevor dir ein einziger grausamer Schuss mitten ins Herz alle Hoffnungen nimmt. Eigentlich war es wie immer. Und dann aber doch irgendwie nicht. Was wäre es nur für eine Sensation gewesen, wenn der VfB die letzten notwendigen Punkte für den Klassenerhalt ausgerechnet bei denen holt, die man so gar nicht auf dem Zettel hatte? Es wäre schlichtweg zu schön gewesen, um wahr zu sein.
Wenn es etwas gibt, das mir den letzten Nerv raubt, dann ist es jenes Gefühl der Unruhe, das mich ergreift, wenn ich an das Saisonfinale unseres VfB Stuttgart denke. Geben sich die meisten noch erstaunlich gelassen, werden doch Stimmen lauter und lauter, die Mannschaft müsse sich wieder auf das besinnen, was sie noch bis vor einigen Wochen ausgezeichnet hat. Ich will mich nicht darauf warten müssen, dass es am Ende irgendwie reicht. Ich will nicht nach Wolfsburg fahren müssen mit dem Gedanken, es ginge doch noch einmal um Alles. Ich will mich nicht fragen müssen, welcher der liegen gelassenen Punkte nun wirklich unser Schicksal besiegelt hat.

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