Wie unterschiedlich die Interpretation eines erreichten Punktes doch sein kann. Die Fans der Mannschaft, die mit vier Punkten Abstand hinter uns steht, freuten sich, applaudierten und sangen. Tja, und dann gibt es immernoch uns. Sechs Spieltage vor dem Ende, ohne erkennbare Ambitionen, am misswilligen Zustand der drohenden Relegation oder Schlimmerem, noch die Kurve zu bekommen. Die Hoffnung schwindet allenortes, vom “Wir schaffen das gemeinsam” nicht die Spur. Verzweiflung, Lähmung, Gleichgültigkeit. Auf der naiven Suche nach einem Funken, der das Feuer neu entflammen kann, der aber vermutlich nicht kommen wird.

Viel Erde ist verbrannt. Das daraus fruchtbarer Boden entsteht, ist eine hinlänglich bekannte Tatsache. Aber wie soll man glauben, dass auf diesem Boden noch etwas wachsen soll? An die Zukunft bei diesem Verein will ich manchmal noch gar nicht denken. Es ist schwer genug, an die nächsten und auch letzten sechs Spiele der Saison zu denken. Lange hatte ich gedacht “Ach, die Saison ist noch lang”. Aber sie ist es nicht. Nicht mehr. Sechs Spiele hat der VfB noch Zeit, das Ruder herumzureißen und sich auf den 15. Rang zu schleppen. In Anbetracht der Tatsache, dass es nicht einmal gegen Nürnberg reicht, halte ich das für unwahrscheinlich. Und auch die Relegation an sich wird immer unwahrscheinlicher.

Die Art und Weise, wie es der VfB selbst gegen den Club vergeigt hat, hat mich dennoch überrascht. Ich hatte gedacht, sie hätten zumindest ansatzweise begriffen, worum es geht. Nach einem Remis gegen Hoffenheim und einer zumindest 44 Minuten lang recht ansehnlichen Darbietung in Frankfurt blieb zu hoffen, dass man Nürnberg deutlich in die Knie zwingt, um sich Luft im Abstiegskampf zu verschaffen. Stattdessen: Lethargie, Langsamkeit und Lustlosigkeit. Und schon wieder war sie da, die älteste aller Fußballweisheiten: wer zu dumm ist, vorne das Tor zu machen, bekommt es eben hinten. So einfach ist das. Jeder weiß das. Nur der VfB offensichtlich nicht. Noch einmal so wie gegen Hannover, das war der fromme Wunsch der Anhängerschaft. Zu viel verlangt, nehme ich an.

Auf der Suche nach dem Funken

Wenn der Funken schon nicht von der Mannschaft ausgeht, dann vielleicht von den Fans? So traf man sich am Cannstatter Bahnhof und lief gemeinsam laut singend zum Stadion, eine Karawane im Kleinformat, begleitet von zahlreichen Brustringträgern und Sympathisanten. Hoch oben auf der Brücke von der Schleyerhalle hatte ich gewartet, der beste Platz für die Fotos des Marsches. Man hatte sich eingesungen und war bis in die Haarspitzen motiviert, die Mannschaft zum idealerweise deutlichen Sieg zu schreien. Die Fans hatten ihren Part erledigt. Das Problem war nur: der Mannschaft war das egal. Mit einer erneut tollen Choreo begann unser Spiel, an dessen Ende doch sicher der VfB mindestens ein Tor mehr geschossen haben wird. Nicht einmal ich bin davon ausgegangen, dass es die Mannschaft nicht schafft. Und das will etwas heißen.

Aus so vielen Chancen in einem Spiel so wenig zu machen, das schafft auch nur unsere Mannschaft. Hochkarätige Möglichkeiten, von Anastasios Donis, Marc-Oliver Kempf, Nico Gonzalez und mehrmals Mario Gomez, keiner brachte den Ball ins Tor. Folgerichtig, dass Nürnberg dann stattdessen das Tor macht, wenn der VfB schon nicht will?! Ein verlängerter Kopfall und Costa Pereira frei vor dem Tor reichte aus, um die Hoffnungen auf das erlösende Führungstor zunichte zu machen. Rückstand noch vor der Pause. Gegen Nürnberg. Bei allem nötigen Respekt, wer gegen den direkten Konkurrenten, der bis vor einer Woche schon seit September nicht einen einzigen Sieg geholt hat, nicht gewinnen kann, der hat vermutlich nichts anderes als den direkten Abstieg verdient.

Mit einem folgerichtigen Pfeifkonzert schickte man die Mannschaft in die Kabine. Ich stelle mir schon nicht einmal mehr die Frage, wie hilfreich das denn sein kann. Völlig egal, wie sehr wir sie auch wieder aufrichten und motivieren wollten, die Antwort war die Mannschaft stets schuldig. Warum man nicht ebenso viel Leidenschaft empfinden kann, wie wir Fans, ist unseresgleichen ein Rätsel. Nicht die allerbesten Voraussetzungen für den zweiten Durchgang. Wir haben hier schon Spiele gesehen, da drehte das Team nach dem Seitenwechsel auf und holte noch die Punkte. Aber nicht heute. Es wurde eher schlimmer als besser. Minute um Minute verstrich ungenutzt. Da muss erst ein 18-jähriger Türke kommen, der erst seit ein paar wenigen Monaten in Stuttgart ist und noch nicht einmal die Sprache richtig kann.

Ernüchterung allenthalben

Die Freude von Ozan Kabak war nur dezent, fast schon als hätte er bei einem 3:1 kurz vor Schluss noch für etwas Ergebniskosmetik gesorgt. Vielleicht wusste er ja schon, dass er sich gar nicht richtig freuen kann? Als ich mir das verschüttete Bier von der Kamera wischte, wurde es still um mich herum und machte Platz für ein grummelndes Raunen. Alle Augen waren auf rank Willenborg gerichtet und den Pulk Nürnberger, der ihn umgab. Eine gefühlte Ewigkeit verharrte er, mit dem Finger am Ohr. Schließlich blendete man auf der Anzeigetafel den Anlass ein, das Tor wurde wegen Abseits überprüft, das Ergebnis aber leer gelassen. Mit jeder Sekunde wurden die 58.757 Zuschauer ungehaltener, eine Zerreißprobe fürs Gemüt und der Tod jeglicher Emotionen beim Fußball. Kein Abseits. Aber die Pfiffe über den Videobeweis hallten dennoch nach.

Selbst der Vorschreier haderte mit der Situation. Woche für Woche die gleiche Scheiße, Woche für Woche die gleichen Worte, Woche für Woche die gleichen Enttäuschungen. Eine kurze Ansprache, die aber mitten ins Herz ging. Noch einmal bündelte die Kurve all ihre Kraft, in der Hoffnung, der Ball möge vor der Cannstatter Kurve doch noch einmal irgendwie seinen Weg ins Ziel finden. Und dann war sie da, die eine Chance, auf die wir gewartet hatten, die wir herbeigesehnt hatten. Direkt auf den Fuß von Mario Gomez. Gut gesehen habe ich die Szene nicht, zu schnell haben sich die Fans vor mir aufgebaut und ihre Hälse in den Himmel gestreckt, doch gemessen an der Lautstärke des Raunens, war es ziemlich knapp. Statt eines einzigen lauten Siegesschreis der das Dach des Neckarstadions hätte wegfliegen lassen, verstummte die Hoffnung auf den Sieg.

Vier Minuten Nachspielzeit, wobei davon mindestens drei Minuten für die Prüfung des Ausgleichstreffers verwendet wurde, verstehen muss man es natürlich nicht. Ob der VfB in einer längeren Nachspielzeit noch einmal den Ball hätte über die Linie drücken können, ist fraglich. So blieben nur in sich zusammenfallende Spieler beim Abpfiff. Fassungslose Ernüchterung auf den Rängen und auf dem Rasen gleichermaßen. Wer soll dieser Mannschaft noch das Siegen beibringen? Die verbleibenden Gegner in dieser Saison heißen Leverkusen, Augsburg, Gladbach, Berlin, Wolfsburg und Schalke. Gegen jeden müsste man eigentlich gewinnen. Aber woher soll der Glaube kommen? Leid tat es mir wohl am meisten für meinen belgischen Freund Thibault. Hunderte Kilometer, mal wieder für nichts. Das ist nicht das Leben, das wir wollten, als wir unser Herz an den VfB verschenkt haben.

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