Träum ich oder wach ich? Der VfB führte gerade zur Halbzeit mit 4:0 gegen Manchester City, die mit ihren besten Leuten auf dem Platz standen. Was klingt wie ein Traum längst vergangener Tage des internationalen Geschäfts, war in Wahrheit das letzte Testspiel vor dem Saisonauftakt in einer Woche in Kiel. Vier zu Null. Mehrmals in Folge fast abgestiegen, nun watschte man hier den englischen Vizemeister nach allen Regeln der Kunst ab. Nur nicht überbewerten. Gar nicht so leicht, wenn man so viel Spaß hatte wie schon lange nicht mehr.
Eine Saison des Horrors liegt hinter uns, voller Schrammen, Frust und Enttäuschungen. Auch nächste Saison dürfen wir ein weiteres Mal erstklassig spielen, wofür wir ohne jeden Zweifel dankbar sein müssen. Lange hatte es nicht so ausgesehen, als würden es doch noch gut gehen. Was mit dem Ausscheiden in der ersten Pokalrunde begann, spitzte sich zu in einer unnachahmlich spannenden, kräftezehrenden und unheimlich anstrengenden Saison. Heute schreibe ich diese Zeilen mit dem Gefühl der Erleichterung. Wir haben es überstanden. Tränen würden fließen, egal wie es enden würde – dessen war ich mir sicher. Einige Wochen ist das Saisonende nun her, ich wurde bestätigt in meiner Annahme, dass die Emotionen Überhand nehmen würde. Sei es aufgrund des drohenden Abstiegs, den man große Teile der Spielzeit bereits hatte kommen sehen, sei es aufgrund des letztendlichen Klassenerhalts, sei es aufgrund der denkbar schlechtesten Konstellation in der Relegation. Mit Daniel Ginczeks Tor zum 2:1 in…
Fassungslos stand ich da. Wenige Sekunden, bevor Manuel Gräfe die Partie beenden konnte, riss es uns den Boden unter den Füßen weg. Noch einmal Freistoß für den HSV, das 1:1 würde uns nicht reichen, das wussten wir. Raffael van der Vaart trat an, bange Blicke in der Cannstatter Kurve, der Angstschweiß saß uns auf der Stirn. Da flog er, der Ball, direkt auf den Kopf von Gojko Kacar, der nur noch einnicken musste. Daniel Schwaab war den einen Schritt zu spät, Sven Ulreich war ohne Chance. Bruno Labbadia kannte kein Halten mehr und rannte zur Eckfahne, wo der Torschütze zum 1:2 unter einer Jubeltraube von Hamburgern begraben wurde.
Man möchte meinen, an solchen Tagen fällt das Schreiben so viel leichter. Das stimmt nicht so ganz, der Sonntagnachmittag ist bereits vorangeschritten, hinter mir scheint die Sonne durchs Fenster, fast so, als würde sie für meine aktuelle Stimmungslage stehen. Vergangene Woche regnete es unablässig, als ich jene bitteren Zeilen niederschreiben musste am Tag nach dem gefühlten Abstieg auf Schalke. Wie nah Ernüchterung und Wahnsinn beieinander liegen, beweist uns der VfB immer wieder aufs Neue – ob wir das nun wollen oder nicht.
“Unfassbar” – Das wohl am häufigsten benutzte Wort der letzten 24 Stunden. Unfassbar, wie man nach einer 2:0-Halbzeitführung eine Partie so aus der Hand geben kannst. Unfassbar, wie man einen absolut harmlosen Gegner so bereitwillig wieder aufbauen kann. Unfassbar, dass man sich eine denkbar gute Ausgangsposition für die nächsten Wochen selbst wieder zunichte machen kann. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich ein Spiel das letzte Mal so frustriert, gewurmt und aufgeregt hat, wie dieses. Wo sind sie, die letzten Optimisten?
Mit Tränen in den Augen lagen wir uns in den Armen, laut schreiend und mit zitternden Knien. Noch besser kann man ein Spiel nicht erfinden. Führung, Ausgleich, Führung, Platzverweis, Ausgleich kurz vor Schluss und das Siegtor in der Nachspielzeit. Es ist der Stoff, aus dem die verrücktesten Geschichten entstehen. Eine solche hat der VfB am Sonntag Nachmittag geschrieben. Keine solche, die uns den sicheren Klassenerhalt bescheren wird. Aber ohne jeden Zweifel eine solche, die in Erinnerung bleiben wird. Eine Geschichte über den Wagemut eines Tabellenletzten, die Verzweiflung der Treuesten und einen goldenen Pass ins Glück.
Was ist das da in meinem Gesicht, und warum fühlt es sich so gut an? Tiefe Grübchen in meinen Wangen zeugen von jenen Moment, auf den ich so lange hatte warten müssen. Welch ungewohntes Gefühl, am Sonntag Vormittag am Rechner zu sitzen und nicht erneut um Worte ringen zu müssen, die wie der Abgesang eines Vereines klingen, dem der bittere Gang in die zweite Liga bevor steht. Vermag sich zwar am Tabellenplatz zunächst nichts geändert haben, doch diesmal ist alles anders. Etwas, was wir schon lange verloren geglaubt haben, ist an den Neckar zurückgekehrt: die Hoffnung der Gescholtenen.
Von nichts und niemanden wollte und konnte ich mich trösten lassen. Als die meisten der leidgeprüften Fans der Cannstatter Kurve bereits in die Nacht entschwunden waren, verblieben wir noch lange Zeit vor den Toren des Stadions. Am Samstag wollte ich am liebsten über jenen umgestoßenen Bock berichten, der das Saisonende noch einigermaßen erträglich gemacht hätte. Was ich denn nun darüber schreibe sollte, hatte ich verzweifelt gefragt. Fanbetreuer Christian Schmidt hatte mir gesagt, ich solle nur einen Satz schreiben: „Dieses Spiel bewerte ich erst am Ende der Saison“.
Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Der Kloß in meinem Hals wird größer. Jedes Mal, wenn ich das Bild sehe, wie der große junge Blonde in den Armen eines Fans versinkt, vermögen auch mir die Tränen zu kommen. Es war die eine Szene, die von der Partie gegen Dortmund die emotionalste war. Eine spontane Geste des liebevollen Trosts, in einer Zeit, in der Frust und Verzweiflung unsere Emotionen beherrschen.
Ratlosigkeit. Enttäuschung. Verzweiflung. Ich bin es ja fast schon gewohnt, am Tag nach bitteren Niederlagen dann doch noch ein paar Worte zu finden und meine Sicht der Dinge niederzuschreiben. Es gab Zeiten, da war es durchaus einfacher, sich Sonntags an die Tastatur zu setzen und Seite für Seite den Worten freien Lauf zu lassen. Die Jahre im Abstiegskampf haben mich mürbe gemacht. Ist es nicht seltsam, dass mir bereits Stunden oder gar Tage vor einem Spiel der Gedanke durch den Kopf schießt, wie unerträglich zäh am nächsten Tag das Berichten einer weiteren Niederlage werden würde? Wo ist nur der Glaube geblieben, an das Beste in der Mannschaft zu appellieren?
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