Meistens habe ich immer genau gewusst, wie ich etwas sagen will. Und dann gibt es doch diese Tage, da bleibt einem jedes Wort im Halse stecken. Direkt vor uns liegt eine neue Spielzeit, die spannend und in vielen Facetten neu für uns sein wird. In den letzten Wochen hat sich viel geändert: ein neues Trainerteam, langjährige Spieler haben den Verein verlassen und Wolfgang Dietrich ist nach einer denkwürdigen Mitgliederversammlung zurückgetreten. Grund genug, sich auf die neue Spielzeit zu freuen, nicht wahr? Manches wird uns vertraut sein, die Gesichter, die wir im Stadion treffen, unser alter Dauerkartenplatz, das Kribbeln beim Blick in die Cannstatter Kurve. Doch es gibt Dinge, die sind nicht mehr wie vorher.
Es ist vorbei. Der letzte Tanz ist getanzt, die letzte Entscheidung gefallen, das letzte Lied gesungen. Der VfB ist abgestiegen. Wieder einmal. Was ist das für ein seltsames Gefühl? Erleichterung, da die Saison endlich vorüber ist? Frustration, da wir erneut den Gang in die zweite Liga antreten müssen? Enttäuschung, da uns das Wunder verwehrt geblieben ist? Genugtuung, da es nach dieser Spielzeit mehr als verdient gekommen ist? Verzweiflung, da niemand weiß, wie es weitergehen soll? Eine Mischung aus allem lag mir am Montagabend schwer im Magen, als Christian Dingert das Spiel abpfiff und damit Union Berlin zum Aufsteiger und wir zum Absteiger gekürt worden sind. Ein Gefühl, das mich die ganzen letzten Wochen nie wirklich losgelassen hat, und dass sich nun bewahrheitete. Es hat nicht gereicht.
Ich dachte eigentlich, ich hätte das alles hinter mir. Mit einer neu entdeckten Gelassenheit, um nicht zu sagen Teilnahmslosigkeit verfolgte ich die Spiele der letzten Wochen weitgehend mit einem Achselzucken und ertappte mich ein ums andere Mal bei der Aussage “Dann steigen sie eben ab, es ist verdient”. Und nun sitze ich dennoch hier, zwei Tage nach dem Hinspiel, zwei Tage vor dem Rückspiel und muss mir doch eingestehen, dass es mir doch nicht ganz so egal ist, wie ich gedacht hatte. Am Montag findet in der Alten Försterei der alles entscheidende Showdown statt. Union gegen VfB. Zweitligist gegen Erstligist. Gut gegen Böse, wenn man so will. Alle gegen uns. Natürlich tat uns der VfB nicht den Gefallen, zumindest im Hinspiel zu verdeutlichen, wer in der kommenden Saison in der ersten Liga spielen sollte. Im Gegenteil. Was bleibt, sind Zweifel. Und verdammt viele beschissene Gefühle.
Keine andere Frage beschäftigt mich und viele andere am Tag danach so sehr wie diese: Warum erst jetzt? Diese Jungs können rennen, kämpfen, Fußball spielen. Und sie können gewinnen. Sie haben die Qualität, alles aus sich rauszuholen, für den anderen mitzurennen und all die Leidenschaft zu zeigen, die wir als Cannstatter Kurve vorleben und im gleichen Maß von unseren Spielern erwarten. Warum nur können sie es erst dann abrufen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist? Warum nur war es nicht möglich, diese Leistung vorher zu zeigen, als es noch darum ging, das schlimmste abzuwenden? Warum nur musste es erst so weit kommen?
In riesigen Lettern standen diese Worte über die komplette Cannstatter Kurve geschrieben. Kurz, prägnant und unmissverständlich. Es war das erste, das die Spieler erblickt hatten, als sie zum Aufwärmen das Stadion betraten. Viel Erde war verbrannt worden, als sich die Mannschaft vor einer Woche dazu entschlossen hatte, sowohl dem bisherigen Trainer Markus Weinzierl als auch den geschätzt 5.000 VfB-Fans in Augsburg die Leistung zu verweigern. Der Graben zwischen Mannschaft und Fans, der bereits vorher groß gewesen war, schien unüberwindbar auseinanderzuklaffen. Besondere Situationen erfordern mitunter besondere Reaktionen. An diesem Tag müsse sich das Team von Interimstrainer Nico Willig, der von der U19 hochberufen wurde, den Support der Kurve erst einmal verdienen. Doch wie sollte das ganze funktionieren? Muss die Mannschaft erst Leistung bringen, um den Rückhalt der Kurve zu bekommen? Und kann die Mannschaft überhaupt erst Leistung bringen, wenn der Rückhalt der Kurve fehlt? Wir waren immer da, haben gesungen, geschrien…
Eiskalt kroch es in einem nach oben. Das Gefühl, dass die letzten Tage als Erstligist ein weiteres Mal gezählt sind. Und die Kälte, die sich durch die Betonstufen durch die Füße nach oben bahnte. Es dürften die schlimmsten Zeiten als VfB-Fan sein, seit, ja, seit dem Abstieg 2016. Die Protagonisten sind weitgehend andere, das hilflose Gefühl der Ohnmacht, an all dem nichts ändern zu können, ist dennoch das gleiche. Darüber etwas zu sagen, geschweige denn zu schreiben, fällt Woche für Woche immer schwerer. Und so sehr ich all die Jahre immer gehofft habe, nie einen Abstieg miterleben zu müssen, so sage ich jetzt das gleiche wie einst vor drei Jahren. Es wäre verdient.
Wie unterschiedlich die Interpretation eines erreichten Punktes doch sein kann. Die Fans der Mannschaft, die mit vier Punkten Abstand hinter uns steht, freuten sich, applaudierten und sangen. Tja, und dann gibt es immernoch uns. Sechs Spieltage vor dem Ende, ohne erkennbare Ambitionen, am misswilligen Zustand der drohenden Relegation oder Schlimmerem, noch die Kurve zu bekommen. Die Hoffnung schwindet allenortes, vom “Wir schaffen das gemeinsam” nicht die Spur. Verzweiflung, Lähmung, Gleichgültigkeit. Auf der naiven Suche nach einem Funken, der das Feuer neu entflammen kann, der aber vermutlich nicht kommen wird.
Nichts halbes, nichts Ganzes. Dieses seltsame, unbestimmte und leicht unbehagliche Gefühl, nicht zu wissen, was man davon halten soll. War das jetzt gut, weil man zumindest einen Punkt gegen einen starken Gegner geholt hat? Oder war das jetzt ärgerlich, weil wir die Punkte so dringend brauchen und diese zwei Punkte am Ende vielleicht fehlen könnten? Ich weiß es auch nicht. Es hätte durchaus dümmer laufen können, wenn wir in der hektischen Schlussphase doch noch das Gegentor bekommen. Aber was wäre hier los gewesen, wenn das Glück am Ende auf unserer Seite gestanden hätte? So bleibt ein durchwachsenes Spiel, bei dem es schwer fällt, eine Tendenz für die nächsten Wochen abzuleiten. Nach der Länderspielpause muss der VfB nach Frankfurt. Gnade uns Gott.
Momente wie diese sind selten geworden. Wochenlang hatte die Tristesse den VfB im Würgegriff, ohne Anstalten zu machen, ihn wieder loszulassen. Unser trauriges Dasein am Tabellenende der Bundesliga wurde zur Gewohnheit, allwöchentliche Niederlagen unser täglich Brot und die Aussichten auf Besserung waren nur selten nüchterner als jetzt gerade. Das Abstiegsduell gegen den Konkurrenten aus Hannover konnte der VfB ja nur verlieren. Oder etwa doch nicht? Viel sprach nicht für einen Punktgewinn in diesem alles andere als prestigeträchtigen Kellerduell, ein übles 0:0, ein Hauen und Stochern, das so ziemlich Übelste, was man mit seinem Wochenende anstellen kann. Manchmal ist es ganz gut, keine Erwartungen zu haben. Von Zeit zu Zeit überrascht der VfB einen dann doch.
Das war wieder einmal dieser Tage. Ein Tag, an dem man sich bewusst wird, dass man nur eine winzig kleine Entscheidung davon entfernt war, auf der anderen Seite des Stadions zu stehen. So viel Argwohn und Abneigung dem “Verein” aus meiner Heimatstadt zurecht zuteil wird, so wird diese Partie niemals für mich ein gewöhnliches Spiel wie jedes andere sein. Doch wo sich normalerweise Aufregung und Anspannung mischt und ein ungutes Bauchgefühl hervorrufen, so hat die Tristesse der vergangenen Monate weiterhin Bestand. Nie war es schwerer, VfB-Fan zu sein. Und gleichzeitig war es nie leichter, sich auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist.
Nach sechs Wochen war ich zurück. Ganze 43 Tage waren vergangen, seit ich das letzte Mal im Stadion war. Man könnte meinen, ich habe mich geradezu danach verzehrt, endlich wieder da zu sein, dass ich es genossen habe, im Kreise meiner Leute zu stehen und meine Mannschaft nach vorne zu schreien. Die bittere Wahrheit sieht anders aus. Die letzten Wochen und Monate haben ihre Spuren hinterlassen. In den letzten zwölf Jahren als VfB-Fan habe ich dieses Gefühl nicht gekannt, diesen befremdlichen Moment, nicht einmal beim vermeintlichen Siegtor der eigenen Mannschaft so etwas wie Freude zu empfinden. Da war nichts. Nur Leere.
Ich hatte das alles schon hinter mir gelassen. Dieses Aufregen, dieses Ärgern, diesen Frust. Ich wollte nicht mehr, dass der VfB darüber bestimmt, wie meine Stimmung sein soll, nicht nur an einem Wochenende, sondern für die ganze Woche. Ich war es leid, mich von diesem Trauerspiel emotional beeinflussen lassen. Und so traf ich eine Entscheidung: Gelassener werden, selbst wenn der VfB auf dämlichste Art und Weise verliert. Das hat in den letzten Wochen ganz passabel funktioniert, ich konzentrierte mich auf die Arbeit und die schönen Dinge des Lebens. Und dann kam Schalke. Zu spüren, wie es einen dann doch beschäftigt, aufwühlt und ärgert, ist etwas, was ich vor Weihnachten eigentlich nicht mehr gebraucht hätte.
Eigentlich wollte ich darüber schreiben, wie es sich anfühlte, als das zweite Tor gefallen war. Wie ein breites Grinsen über meine Lippen huschte und ich langsam mit dem Kopf nickte. Wie es sich ein kleines Stück so anfühlte, als hätte sich ein Kreis geschlossen, der vor fast einem Jahr mit seiner Rückkehr begonnen hatte. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, Mario Gomez wäre nie eine ganz besondere Personalie für mich gewesen. So viele Jahre, so viele Emotionen, so viele Geschichten. Trotz der größer gewordenen emotionalen Distanz zum Verein, ein ungelogen schöner Augenblick. Und doch ist er auf einmal bedeutungslos.
Es hatte gewissermaßen etwas Beklemmendes. Wo sich normalerweise die Cannstatter Kurve die Seele aus dem Hals schreit, herrschte gespenstische Stille. Ein harmloses Grundrauschen entstand, 52.739 Zuschauer waren ins Neckarstadion gekommen und schwiegen. Es war so still, dass man die Anweisungen unseres Torwarts hatte hören können. Uns gegenüber war der Gästeblock im Unterrang gut gefüllt, auch dort bewegte sich nichts. Kein Schreien. Kein Hüpfen. Kein Singen. Kein Klatschen. In großen Lettern hatten beide Fanlager die selben Worte auf ein großes Transparent gemalt, das zu beiden Seiten gleichermaßen lesbar war: “Vereine ihr habt es in der Hand – Alle Montagsspiele abschaffen!” Eine sonst so seltene Einigkeit deutscher Fanszenen, vereint im Kampf um das selbe Ziel. Eine gute Sache – auch wenn das nicht jeder im Stadion verstehen wollte.
Meine bessere Hälfte hat bisweilen einen seltsamen Sinn für Humor. Vor uns lag noch ein gutes Stück A6, die Sonne ging gerade auf und er legte ein ganz besonderes Lied auf. Aus den Lautsprechern dröhnte “Schade, Scheiße, wie kann das passieren? Wie konnten wir gegen so was verlieren?” Auf dem Weg nach Nürnberg, wo alles andere als ein Sieg einem vorzeitigen Abstieg gefühlt gleichgekommen wäre, fand ich das nur bedingt lustig. Eine gewisse Anspannung konnte ich nicht verbergen, ohne Zweifel war diese Partie enorm wichtig, um sich noch ein Stück Resthoffnung für diese Saison bewahren zu können. Siegen oder Fliegen. Kämpfen oder Gehen. Tod oder Gladiolen. Wie auch immer man es zu nennen vermochte – es stand viel auf dem Spiel.
Die Botschaft war kurz, aber sie war eindeutig. In einem ohrenbetäubenden Lärm schallte es ihnen entgegen: “Kämpfen oder gehen”. Danach kehrten sie uns den Rücken, nur um dafür noch lautere Pfiffe zu bekommen. Betrachtet man die aktuelle Situation genauer, könnten einem glatt die Tränen kommen. Der VfB liegt in Trümmern und wir müssen dabei zusehen. Aus der anfänglichen Attitüde, der VfB würde ohnehin immer die ersten Spiele versemmeln, bevor er einigermaßen in die Spur kommt, wurde allmählich die finstere Gewissheit, dass es vielleicht nicht zu mehr reichen könnte, als das, was gerade vor uns liegt. Frustration. Ratlosigkeit. Verzweiflung.
Auf einmal gingen die Lichter aus. Hunderte Fans liefen noch in Richtung Unterführung zum Technikmuseum auf der anderen Seite der A6, als der Stromversorgungswagen mehr oder weniger versehentlich für den Weg die Lampen ausknipste. Irgendwie ironisch, nicht wahr? Mittendrin zwischen mehreren Hoffenheim-Fans, die lachten, schwärmten und einen eher unbeholfenen Derbysieger-Gesang anstimmten. Es gibt wahrlich schönere Momente als diesen. An solchen Tagen ist es nur schwer, Trost zu finden und den Kopf oben zu lassen. Es gab eine Zeit, da hätte mich ein solches Spiel brechen können. Aber das will ich nicht mehr. Zu emotionslos bin ich in dieser Hinsicht geworden und reihe mich ein in eine wachsende Anzahl von Fans, denen es genauso geht.
Jadon Sancho in der 3. Minute. Marco Reus in der 23. Minute. Francisco Alcácer in der 25. Minute. Und Maximilian Philipp in der 85. Minute. Mein wenig motiviertes Ich will mir damit an diesem kühlen Montagabend sagen, dass ich es damit auch gut sein lassen könnte. Wer braucht hier einen umfangreichen Spielbericht, der die Bandbreite meiner Emotionen wiedergibt und in einem Archiv aufgenommen wird, bei dem es Freude bereitet, es auch fünf Jahre später noch zu lesen? Warum sollte ich weit ausholen über etwas, das in – verhältnismäßig – wenigen Worten ebenso Platz findet? Ich tue mich schwer, Dinge auf einmal anders zu machen, als ich es all die Jahre gewohnt war. Aber ist es nicht wirklich an der Zeit, den Dingen den Raum zu geben, den sie verdienen? Auch, wenn das nur ein kleiner Raum ist? Ein Selbstversuch in lediglich anderthalb Seiten.
Bunt. Schrill. Dramatisch. Emotional. Dieses Spiel war alles außer langweilig. Dass wir am Tag danach darüber schmunzeln können, haben wir einer gehörigen Portion Glück zu verdanken. Schon in der vergangenen Rückrunde hatten wir bisweilen erstaunt feststellen müssen, dass Siege manchmal dreckig und unverdient geholt werden müssen, am Ende fragt niemand danach, wie die Punkte zustande gekommen sind. Auch heute fragen wir uns, wie das eigentlich gehen konnte – unterlegen gegen eine Mannschaft, die mit einem Mann weniger spielte. Es ist so viel Absurdes passiert, man sollte meinen, diese Zeilen schreiben sich einfacher als die letzten Male. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht.
Manches kommt nach vielen Jahren einfach nicht mehr überraschend. Der VfB vermasselt alljährlich seinen Saisonstart, punktet wenig bis gar nicht und im Herbst fallen mit den Blättern auch die Trainer. Eine mindestens genauso verlässliche Voraussage wie die Tatsache, dass meine Mama zum Besuch des Töchterleins alles auf Lager hat, von dem ich mal sagte, ich würde es gerne trinken oder essen. Oder wie die Tatsache, dass der Heimatbesuch zwar stets wunderbar ist, aber die Heimreise ohne Punkte angetreten wird.
Es sieht finster aus. Mit einer Tasse Tee in der Hand schiebe ich die Gardine in unserem Wohnzimmer zur Seite, und sehe, dass da draußen gefühlt die Welt untergeht. Extrem starker Regen, der den Trottwar schon zu einem reißenden Fluss gemacht hat, Blätter, Zweige und kleinere Äste liegen auf der Straße, panische Menschen rennen die Straße entlang, um sich in Sicherheit zu bringen. Was für eine wunderbare Inspiration für einen – wenn auch sehr kurzen – Spielbericht zur Partie gegen Düsseldorf. Willkommen in den stürmischen Zeiten. Mal wieder.
Ganz genau hatte ich es vor Augen. Wenige Sekunden würde die Nachspielzeit noch laufen, da schiebt Nils Petersen die Kugel über die Linie, nachdem man den Ball einfach nicht wegbekam. Das Schwarzwaldstadion eskaliert, der SC gewinnt mit 4:3 nach 90+4 Minuten. Ich hatte es kommen sehen. Ich bin froh, dass es nicht eingetreten ist. Aber bin ich auch froh, dass man zumindest mit einem Punkt wieder heimfahren konnte? Nein, auch das nicht. Ein seltsames Gefühl, dass es einem so schwer macht, darüber zu schreiben.
Drei Spiele. Null Punkte. Sechs Gegentore. Der Saisonauftakt des VfB Stuttgart hat schon einmal wahrlich rosiger ausgesehen – und das trotz erfahrungsgemäß schlechterer Hinrunde. Statt der großen, viel beschworenen Euphorie ist die graue Tristesse in Bad Cannstatt eingekehrt. Ein überdurchschnittlich guter Kader (zumindest für unsere Verhältnisse), ein loyales und leidenschaftliches Umfeld und die Gewissheit, dass man zu größerem imstande ist als Abstiegskampf. Nur drei Wochen später ist nichts mehr davon übrig. Stattdessen Frust, Enttäuschung und das Gefühl, dass es interne Unstimmigkeiten gibt und der Trainer nicht zu wissen scheint, was er mit diesem Team anstellen soll. Früher war alles besser. In der Rückrunde.
Eigentlich hätte ich innerlich kochen müssen. Eigentlich hätte ich mich auf der gesamten Zugfahrt über die Unfähigkeit dieser Mannschaft ärgern müssen. Eigentlich hätte ich schon jetzt den Verlauf der kompletten Saison zur Gänze abschreiben sollen. Stattdessen saß ich entspannt auf meinem Sitzplatz im Regionalzug, schaute den an meinem Auge vorbeirauschenden Einfamilienhäusern und Wäldern nach und ließ einen Gedanken zu, von dessen Exitenz ich noch vor einigen Monaten nichts wissen wollte: Das Gefühl, dass der Tag doch im Grunde gar nicht so schlecht war. Eigentlich. Und das trotz der Niederlage.
Ihr habt es vielleicht schon mitbekommen: mein Blog präsentiert sich heute in einem neuen Gewand. Das hat natürlich nicht nur optische Gründe, vielmehr war es die neue Gesetzgebung rund um die neue Datenschutzgrundverordnung (kurz DSGVO), die mich gezwungen hat, aktiv zu werden. Neben einer sicheren Verschlüsselung der Seite, die ich bislang vor mir hergeschoben hatte, gibt es auch nun notwendige Ergänzungen wie einen Cookie-Hinweis. Ich freue mich auf Feedback, lasst es mich bitte wissen, wenn es irgendwo noch hakt.
Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, diese Zeilen zu beginnen. Über 24 Stunden sind schon seit dem Abpfiff der Partie vergangen, so richtig fassen kann ich es noch immer nicht. Lange saß ich ungläubig vor diesem digitalen Blatt Papier, formulierte die ersten Sätze und lösche sie wieder. Nichts von alledem, was gestern passiert ist, lässt sich rational erklären und ebenso trocken niederschreiben. Alles, was ich in dieser Saison wollte, war der Klassenerhalt, idealerweise ein paar Wochen vor Schluss. Bekommen habe ich den Klassenhalt einige Wochen vor Schluss, und wenn es ganz dumm läuft, muss der VfB auch noch international spielen. Das ist zu viel, um es greifen zu können.
Es ist noch gar nicht so lange her, da sprach ich von meinem VfB als verunsicherten Aufsteiger, der mit harten Gegebenheiten im Oberhaus überfordert ist. Woche für Woche bruddelte ich vor mich hin, man würde mit dieser Leistung ohnehin direkt wieder absteigen, da man es nicht schafft, sich die nötigen Punkte zur rechten Zeit zu holen. Einige Wochen sind nun vergangen, lediglich ein einziges Bundesligaspiel ist in der Saison 2017/2018 noch übrig und mit einem zufriedenen Lächeln sitze ich nun hier bei einer Tasse Kaffee. Keiner von uns hatte das so je kommen sehen.
Und dann stehst du auf einmal da und hast keine Ahnung, was da gerade um dich herum passiert. Ging es nicht vor fast zwei Stunden lediglich darum, sich nicht ganz so heftig vom Gegner verprügeln zu lassen und danach aufgrund des bereits vollbrachten Klassenerhalts entspannt wieder heimzufahren? Wer hätte uns denn auf das vorbereiten können, was wir am Samstagabend erlebt haben? Die Niederlage in Leverkusen war einkalkuliert, wie schon seit vielen Jahren, es war lediglich eine Frage der Höhe. Für uns ging es um nichts mehr, außer einer besseren Endplatzierung – für Bayer ging es aber um die Champions League Qualifikation. Also was genau ist da eigentlich passiert?
Ich bin nicht leicht zufriedenzustellen. Ein höchstwahrscheinlicher, 99-prozentiger und fast perfekter Klassenerhalt reicht mir einfach nicht – bei so etwas nehme ich es genau. Solange noch eine rechnerische Restwahrscheinlichkeit bleibt, noch zum Relegationsplatz durchgereicht zu werden, bleibt der Zeigefinger oben und die Anspannung groß. Was habe ich mir nicht wieder alles anhören dürfen, aber sind meine begründeten Zweifel wirklich so abwegig? In den letzten Wochen hat die Mannschaft vieles vermissen lassen, vor allem den Willen, wirklich alles für den rechnerischen Klassenerhalt zu geben. Erst als Berkay Özcan zum 2:0 traf, war der Spuk für mich vorbei, der für so viele andere in den letzten Wochen überhaupt kein Thema mehr war.
Als Tayfun Korkut vor 74 Tagen als neuer Trainer des VfB vorgestellt wurde, fiel ich vom Glauben ab. Nichts, aber auch gar nichts wollte ich diesem Verein in dieser Spielzeit noch zutrauen, zu enttäuscht war ich von den Geschehnissen des späten Januars 2018. Hätte man mir zu diesem Zeitpunkt gesagt, der VfB würde vier Spieltage vor Schluss 39 Zähler auf dem Konto halten, ich hätte nach einem Stift gefragt und mich erkundigt, wo ich denn bitte unterschreiben darf. Nichts hatte ich erwartet, nur dass sie sich so lange zusammenreißen, bis rechnerisch nichts mehr schief gehen kann. Nun sitze ich hier, bei frühsommerlichen Außentemperaturen und mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
Gebruddelt wird immer. Ganz egal, ob der VfB nun gut gespielt hat oder nicht, ob er nur einfach oder dreifach (oder auch gar nicht) gepunktet hat, ob er nun glücklich oder souverän agierte – etwas zu meckern gibt es immer. Entgegen anderslautender Meinungen, geht es mir aber nicht alleine ums Ergebnis, oder anders gesagt, es geht mir gar nicht ums Ergebnis. Sehr wohl geht es mir aber um die Art und Weise, wie dieses erzielt wurde. Was am Ende übrig bleibt ist Unzufriedenheit und Frustration. Nicht nur verpasste man das Erreichen der 40-Punkte-Marke, vielmehr schaffte man es als gefühlt einziger Club in den jüngsten Wochen nicht, gegen die Hamburger zu gewinnen.
Als ich um 22:32 Uhr einen simplen Tweet absetzte, in dem nichts anderes stand als “Geil.”, waren meine Follower sehr verwirrt. Kein Einziger wollte mir abkaufen, dass ich das selbst geschrieben hatte und binnen weniger Minuten reichten die Verschwörungstheorien von einem gekaperten Smartphone bis hin zu besorgniserregend hohem Fieber. Hat man sich einmal den Ruf der ewigen Pessimistin erarbeitet, wird man ihn nicht so schnell wieder los. Noch immer hängt mir die Erinnerung an 2016 nach, auch wenn diese Szenarien spürbar an Brisanz verloren haben. Ein weiteres Mal reichten uns die Ergebnisse der Konkurrenz sowie der eigene Sieg, um erneut zu klettern. Platz Acht steht am Ende des 27. Spieltags zu Buche. Nicht unbedingt das, was ich vor einigen Wochen erwartet hatte.
Es hätte auch anders laufen können. Die Gäste aus meiner alten Heimat hätten in der Nachspielzeit noch das Siegtor machen können. Mario Gomez hätte per Kopf zum womöglich entscheidenden 1:0 treffen können. Wir hätten auf den achten Platz vorrutschen können. Es hätte Elfmeter für den VfB geben können. Ich hätte aber auch stattdessen ein langeweiliges Leben in Leipzig führen können. Wären da nicht die Momente und Entscheidungen gewesen, die mich genau an diesen Punkt gebracht haben. Viel ist passiert seit ich vor fast zwölf Jahren begann, mich für Fußball zu interessieren. So viele Leute, die seitdem mein Leben begleitet haben und noch begleiten. Und dann gibt es noch die Freundschaften, die während schon viel länger als all das.
“Ich habe mir das irgendwie anders vorgestellt” murmelte ich mit betretener Mine in Richtung meines Kumpels Thibault. „Ja, ich auch“ seufzte der junge Belgier aus Gent, dem ich nach seinem ersten Heimspiel gegen Wolfsburg nun zu seinem ersten Auswärtsspiel verhelfen durfte. Eine gute halbe Stunde war das Spiel alt, mein Schädel dröhnte und der VfB lag auswärts beim Tabellenletzten zurück. Es gab schon bessere Momente in dieser Spielzeit. Eine Niederlage konnte man sich in Köln nicht leisten, das wusste jeder der weit über 5.000 VfB-Fans, die sich aus Nah und Fern auf den Weg gemacht hatten. Dass das Grauen der ersten halben Stunde doch noch mit drei Punkten belohnt wurde, hat vermutlich keiner von uns allen so recht verstanden. Und wirklich wohl ist mir mit dieser unerwartet entspannten Tabellenkonstellation auch nicht.
Eigentlich ist das mit dem Fußball gar nicht so schwer. Weniger quatschen, mehr Leidenschaft zeigen. Weniger schwadronieren, mehr Tore machen. Weniger heiße Luft, mehr Punkte. Klingt eigentlich gar nicht so kompliziert, nicht wahr? Doch das eigentlich Schwierige ist es, das Zutrauen in diese Mannschaft, in diesen Verein wiederzufinden. So viel ist kaputt gegangen, der Weg nach unten unaufhaltsam. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, mit so etwas ähnlichem wie einer neu gewonnenen Gelassenheit eine emotionale Distanz aufzubauen, weil sich diese Mannschaft offenbar nicht bemühen will. Nun sitze ich wieder hier, am Tag danach, und der VfB hat in den letzten vier Spielen zehn Punkte geholt. Eigentlich ein Grund zur Freude. Wenn da nur nicht diese finsteren Erinnerungen wären. Feels like 2016.
183 Tage waren vergangen, seit die laufende Bundesliga-Saison begonnen hatte. 736 Tage waren vergangen, seit der VfB sein letztes Auswärtsspiel in der Bundesliga gewonnen hatte. 2140 Tage waren vergangen, seit der VfB zum letzten Mal in Augsburg gewonnen hatte. Acht Bundesliga-Auswärtsspiele habe ich diese Saison bereits gesehen, bei den beiden Punktgewinnen in Hannover und Wolfsburg war ich nicht vor Ort. Viele von euch können sich vielleicht nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. 6.730 Auswärts-Kilometer 2017/2018, die Pokalspiele noch nicht einmal mit eingerechnet, stets geprägt von Frust, Enttäuschung und Wut.
Es gibt Tage, da will ich in den Dingen mehr sehen, als sie eigentlich sind. Dann sehe ich in einem einzigen Spiel den Moment des Umbruchs, den Funken der Hoffnung, das verheißungsvolle Zeichen einer besseren Zukunft – oder auch das bittere Ende einer erfolgreichen Phase, das Vorüberziehen von Möglichkeiten, das Versagen im wichtigsten Augenblick. Es gibt aber auch Tage, da will ich nicht mehr sehen als das, was es eigentlich ist: eine Momentaufnahme. Drei Punkte. Nicht mehr, nicht weniger.
Ich sitze hier, um meinen Spielbericht zur Niederlage gegen Schalke zu schreiben. Wir alle wissen aber, dass es um weitaus mehr geht als der erwartbare Punktverlust eines inviduell bestens besetztem Team der Top 3 der Bundesliga. Die richtigen Worte für die zurückliegenden drei Tage zu finden, fällt dabei alles andere als leicht. Gerade eben bist du noch Tabellenzwölfter mit der Hoffnung, sich weiter zu stabilisieren und dem Abstiegskampf zu entfleuchen, und dann geht auf einmal alles schief. Tage später sitzt der Schock noch in den Knochen, der bei der Verarbeitung der Geschehnisse nicht sehr förderlich ist. Das Protokoll eines lähmenden Chaos-Wochenende.
“Du schon wieder?!” – auf mich wartete eine lachende, herzliche Begrüßung. Da war ich schon wieder, mit regennasser Jacke und genau der gleichen Kameraausrüstung wie beim letzten Mal. Gerade einmal einen Monat und einen Tag war es her, da stand ich bereits an gleicher Stelle: vor den Toren des Mainzer Stadions, umgeben von einem Kartoffelacker. Mit schlechtem Wetter, mit einem unguten Bauchgefühl und nicht den Hauch von Motivation, überhaupt da zu sein. Nicht zu Unrecht, wie ich erneut feststellen musste.
Ein gemütlicher, fauler Sonntag im Januar, der Heizkörper hinter mir blubbert vor sich hin, vor mir steht eine längst kalt gewordene Tasse Kaffee. Mein Kopf ist schwer von all den Gedanken darin. Der VfB hat gewonnen, es sollte einfach sein, diese Zeilen zu schreiben. Aber das ist es nicht. Hier und jetzt ist es gar sehr viel schwerer, die richtigen Worte zu finden. Es geht nicht um 90 Minuten, die es zu beschreiben gilt, um ein zähes Spiel mit einem glücklichen Sieg. Es geht um die Verarbeitung unverarbeiteter Emotionen, die so viele Jahre schon als vergessen gegolten hatten.
Wir schreiben den 23. Dezember 2017. In den Supermärkten und Geschäften ist heute das Chaos ausgebrochen und kurz vor Weihnachten wird man wohl kaum weiter vom Zustand der Besinnlichkeit entfernt sein als bei den letzten Einkäufen am heutigen Tag. Das war schon immer so und wird wohl auch immer so bleiben. Genauso, wie es beim VfB seit jeher Tradition ist, dass an Weihnachten der Baum brennt – entweder als kleine Flamme wie letztes Jahr, oder auch etwas stärker, so wie in diesem Jahr. Hinter uns liegen bewegte Tage, an das Pokal-Aus in Mainz denkt so gut wie keiner mehr. Außer mir jedenfalls.
Als vor 47 Tagen der Rückfallzieher von Sebastian Haller im Tor landete, war ich mir sicher, uns könne in dieser Spielzeit unmöglich etwas passieren, das schlimmer sein konnte. In der 93. Minute hätte man mit einem Punkt nach Hause fahren können, bis man binnen von Sekunden ohne einen Punkt dastand und sich fragen musste, warum so etwas einem immer selbst passieren muss. Nichts würde schlimmer kommen können als jener Nachmittag in Frankfurt. Doch ich hatte mich geirrt.
Was mache ich eigentlich hier? Warum bin ich nicht im kuschlig warmen Bettchen geblieben? Vor meiner Tastatur steht meine VfB-Tasse und ich nehme einen großen Schluck Kaffee, es ist kurz vor 7 Uhr morgens und in einigen Stunden wird unsere Mannschaft auf den FC Bayern treffen, dabei vermutlich trotz bester Leistung knapp verlieren und das obligatorische Lob des gegnerischen Trainers erhalten. Kaufen können wir uns davon nichts. Nach einer harten Woche im Büro hätte ich an diesem frühen Morgen ohne Zweifel etwas Besseres zu tun, als auf ein Spiel zurückzublicken, das wie so viele andere Auswärtsspiele meinen Frust geschürt hat. Und trotzdem sitze ich hier, wohlwissend, dass ich mich in 24 Stunden nicht wesentlich anders fühlen werde.
Es ist nicht so, dass wir eine solche Situation nicht schon einmal erlebt hätten. Als wir im Frühjahr 2016 nach einigen Siegen in Folge plötzlich keine Punkte mehr holten, hielt man mich für verrückt, das Wort Abstieg in den Mund zu nehmen. Oder als wir im Winter 2016/2017 in der zweiten Liga den einen oder anderen Punkt liegen ließen, hielt man mich für paranoid, das Wort Nichtaufstieg anzusprechen. Wann immer es beim VfB nicht so gut lief, wurde ich teilweise hart dafür angegangen, wenn ich anmerkte, dass es nicht rund läuft.
“Wer nicht in der Lage ist, aus seinen Fehlern zu lernen, wird sich eines Tages umschauen und feststellen, dass es dieses Mal keine drei Dümmere geben wird – dann ist man nämlich selbst der Dumme”. Etwas ähnliches sagte ich vor gut anderthalb Jahren, als der VfB, mal wieder in allergrößter Abstiegsnot, auf bestem Wege war, endgültig den Faden zu verlieren. Ein paar wenige Wochen später war der VfB der Dumme und stieg zum ersten Mal seit den Siebzigern ab. Noch steht der VfB besser da, als ich es vor der Saison vermutet hatte, und natürlich würde ich viel lieber davon schreiben als neuerliche Abstiegsszenarien in pechschwarzer Farbe an die Wand zu malen, aber ist es nicht so, dass sich unser Herzensverein abermals ziemlich dumm angestellt hat?
Von allen Dingen, die ich mir an diesem Tag ausgemalt hatte, war dies so ziemlich das Unwahrscheinlichste. Lachend und schreiend lagen wir uns in den Armen, ohne es vermutlich richtig begreifen zu können. Ein Heimsieg gegen Borussia Dortmund. Sieben Jahre, neun Monate, zwei Wochen und drei Tage. Seit man zum letzten Mal die Dortmunder vor heimischer Kulisse bezwingen konnte, ist viel Wasser den Neckar hinuntergeflossen. Spieler und Trainer sind gekommen und gegangen, die Liebe zum Verein ist geblieben, genau wie die sture Überzeugung, dass der VfB nur selten zu wahrhaft großen Heldentaten imstande ist.
Es gibt Tage, an denen liebe ich das, was ich tue. Dann sitze ich am Tag danach, oder auch zwei Tage am Rechner, lächle wissend vor mich hin, schlürfe dazu einen Kaffee und bringe etwas zu digitalem Papier, was gemeinhin “Spielbericht” genannt wird, mit den harten Fakten einer Bundesligapartie jedoch nur wenig gemein hat. Ich lebe für die Emotionen, die der Fußball, der VfB und vor allem mein Umfeld in mein Leben gebracht haben und bin stolz und dankbar, die Möglichkeit und die Fähigkeit zu haben, diese Dinge anderen mitteilen zu dürfen. Und dann gibt es die Tage, an denen stelle ich die Frage, warum ich das eigentlich tue. Das Schreiben. Der Fußball. Die Leidenschaft.
So ganz traute ich dem Braten nicht. Dabei hätte ich eigentlich allen Grund gehabt, fröhlich zu sein, denn schließlich führte der VfB mit 2:0 und hatte einen Mann mehr auf dem Feld. Da konnte doch wirklich nichts mehr schief gehen, oder? Und dann erinnerte ich mich an das Auswärtsspiel in Frankfurt. Im Hier und Jetzt konnte mich die komfortable Führung nicht beruhigen, denn auf dem Feld kam vom VfB lange Zeit gar nichts mehr. Dass der Gedanke in mir wieder hochkam, man könnte ja doch noch durch einen blöden Patzer und einen Elfmeter den sicheren Sieg aus der Hand geben, dagegen konnte ich nicht das geringste machen. Denn sind wir mal ehrlich: dafür kennen wir unseren Verein zu gut.
Ich weiß, ich weiß, der Pokal hat seine eigenen Regeln. Aber wäre es nun wirklich zu viel verlangt gewesen, wenigstens ein Mal ein vollkommen ungefährdetes, entspanntes Spiel sehen zu dürfen? Ohne den Hauch einer Anspannung, hoch, verdient und vor allem souverän. Wenn nicht jetzt gegen Kaiserslautern, gegen wen denn dann? Die nächsten Wochen werden mit Sicherheit nicht einfacher, doch was, wenn aus dem tollen Plan, sich im Pokalspiel Selbstvertrauen zu holen, so gar nichts wird? Verlieren war verboten.
Lange war das Spiel schon vorbei und noch immer prasselten die Regentropfen nieder. Es ist kalt geworden, von den sommerlichen Temperaturen des Nachmittags war nicht mehr viel zu spüren. Bis zum Ende blieb es dabei: das komischste Auswärtsspiel der Saison, vielleicht sogar der letzten Jahre, es lag nun hinter mir. Noch vor zehn Jahren hatte meine Lebensplanung ganz anders ausgesehen, mit einem durchschnittlichen Job, einer netten Altbauwohnung in einem gehobenen Wohnviertel, eine Familie. Dann kam der VfB und änderte alles, was bisher da war und verschaffte mir ein Leben, das so ganz anders war als ich es gedacht hatte.
Wer sich für ein solches Leben entscheidet, hat für sich selbst bewusst oder unbewusst eine ganz klare Entscheidung getroffen: man lässt sich bis an sein Lebensende, darauf ein, dass einem der letzte Nerv geraubt wird, dass man sich aufregen wird und nur noch wenig Schlaf bekommen. All der Ärger scheint vergeben in den glücklichen Momenten, wenn der Schmerz vergessen wird, man über beide Ohren lacht, unheimlich glücklich ist und man ganz genau weiß, warum man sich so entschieden hat. Das hier ist keine Geschichte vom Abenteuer Familie, es ist eine Geschichte über das Leben als Fußballfan. Über den schmalen Grenzgang zwischen Freud und Leid und über jene Momente, die über jeden Zweifel erhaben sind.
Am Tag darauf fühlt es sich noch genauso irreal an wie gestern. Die Füße sind wieder trocken, die Schmerzen in den Beinen sind gewichen, weit mehr als 24 Stunden wird das Spiel her sein, wenn ich die letzten Zeilen dieses Spielberichts zu Papier gebracht habe. Doch der Schock sitzt tief, es wird noch einige Tage dauern, bis nicht mehr alle Gedanken um den einen Moment kreisen, der dem VfB wenige Sekunden vor Schluss einen weiteren Tiefschlag versetzte. Nichts ist schlimmer als das grausame Geräusch kollektiven Jubels, wenn der Gegner den späten Siegtreffer macht und alle Mitspieler, Auswechselspieler, Trainer und Betreuer auf den Platz stürmen. Der VfB ist angekommen in der Bundesliga – und macht genau da weiter, wo er 2016 aufgehört hat.
Ich hätte es mir einfach machen können. Eine stabile Abwehr, kein Gegentor, im Jahr 2017 noch ohne Heimniederlage, Hannes Wolf wird der berüchtigten Augsburg-Statistik nicht zum Opfer fallen und für einen Aufsteiger sind es nun sieben Punkte aus sechs Spielen, eine passable Ausbeute. Eigentlich sollte ich zufrieden sein, denn bekanntlich ist alles besser als eine Niederlage. Zufrieden bin ich nicht – im Gegenteil. Warum sollte ich gut finden, wenn man das Tor nicht mehr zu treffen vermag? Warum sollte ich toll finden, dass der Knoten von Simon Terodde noch nicht geplatzt ist? Warum sollte ich mich freuen über einen Punktverlust?
“Da hat sich der Urlaub ja wieder richtig gelohnt” – kennen wir nicht alle diesen Spruch, geäußert von Kollegen und Vorgesetzten mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht? Es gibt wohl kaum etwas, das nerviger ist, wenn man nach einer langen Auswärtsfahrt wieder heimkommt, die einen ein bis zwei Urlaubstage gekostet hat. Jeder, der mehr oder weniger oft auswärts fährt kennt diesen Drang, derjenigen Person sofort die Meinung zu geigen. Häufig belassen wir es dabei, zucken mit den Schultern und tun so, als könne das alles passieren, als ob es nicht weiter schlimm sei. Streng genommen ist es das auch nicht. Aber spurlos geht das nicht an uns vorbei. An mir jedenfalls nicht.
“Da ist was Schlimmes passiert” – ich lehnte mich hinüber zu meinen Freunden, sprach mit zitternder Stimme jene Worte aus und musste mit ansehen, wie er krampfhaft nach Luft rang. Weit über 48 Stunden sind vergangen und noch immer stehe ich unter Schock. Es hätte alles so wunderbar sein können, nass triefend bis auf die Unterwäsche den Heimsieg bejubeln, von einem argentinischen Kampfzwerg schwärmen und ein rundum tolles Wochenende genießen. Am Ende bleibt nur der Moment, der uns allen, weit über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus, den Atem stocken ließ.
Ich hatte meine ganz eigene Vorstellung davon, wie das alles laufen würde. Der VfB würde in der Offensive einfach nicht zu Potte kommen und am Ende besorgt Alexandru Maxim, der nach Mainz abgewanderte Liebling der Fans, den Rest: ein wunderschöner, ins Eck gezwirbelter Freistoß kurz vor dem Ende. Ich sah es fast so deutlich, wie ich den Freistoß in Hannover schon im Tor gesehen hatte, der uns direkt zum Aufsteiger gemacht hätte. Wir blieben verschont von jener grausamen Vorstellung und unter der drückenden Hitze Stuttgarts musste ich feststellen, dass das, was ich vor Cottbus und Berlin noch vermisst hatte, langsam zurückkehrt. Bock auf Fußball.
So weit ist es schon gekommen. Da verliert der VfB sein erstes Bundesligaspiel nach dem Aufstieg und irgendwie hat es mich nicht einmal überrascht. Ist es so, dass mich nach den bitteren Momenten des Abstiegs nichts mehr erschüttern kann? Widert mich das Gesamtkonstrukt des Profifußballs etwa schon so sehr an, dass nicht mehr mein komplettes Herzblut an der obersten deutschen Spielklasse hängt? Es gibt so viel mehr Gedanken, die mich beschäftigen; Entscheidungen, die in den nächsten Wochen und Monaten anstehen; neue Wege, die ich beschreiten werde. Ob der Gang zu mehr Gelassenheit auch dabei sein wird, wird die Zukunft zeigen müssen.
Zwei Monate, drei Wochen und zwei Tage sind vergangen, seit ich mitten auf dem Rasen im Neckarstadion auf die Anzeigetafel schaute, wo in großen Lettern „Weiß-rot ist erstklassig“ geschrieben stand. Zwölf Wochen sind vergangen, seit dem VfB nach einer abenteuerlichen Saison die Rückkehr in die Bundesliga geglückt ist. 84 Tage Sommerpause sind vergangen. Man sollte meinen, wer (fast) nichts anderes außer Fußball im Kopf hat, der sollte sich doch eigentlich darauf freuen, dass es nach so vielen Wochen der Abstinenz endlich wieder losgeht. Endlich wieder Fußball. Endlich wieder ins Stadion. Endlich wieder.
Von diesem Moment habe ich oft geträumt. Lange habe ich mir nur im Entferntesten vorstellen können, wie das wohl wäre, wenn alles vorbei ist. Diese Emotionen, die einen überwältigen und ich vor Worten schlicht und ergreifen übersprudeln würde. Keine 24 Stunden würde es dauern und ich hätte jene Zeilen zu Papier gebracht. Nichts sehnte ich mehr herbei als den Augenblick, wenn das letzte Spiel beendet und der letzte Tag unserer Zweitligasaison vorbei gewesen wäre. Ich hatte geglaubt, es würde leicht fallen, euch alle daran teilhaben zu lassen, so sicher war ich mir, es wäre ganz einfach, euch Einblick in meine Fanseele zu gewähren, die ein ständiges Wechselbad der Gefühle hinter sich hat.
Eigentlich hätte ich mit den Schultern zucken müssen und sagen müssen “Was solls”. Eigentlich hätte ich mich dem süßen Gedanken hingeben müssen, zu 99% aufgestiegen zu sein. Eigentlich war diese Niederlage gar nicht weiter schlimm. Eigentlich. Was übrig blieb, fühlte sich keineswegs nach dem beinahe sicheren Aufstieg an. Am Ende war da dieses unbehagliche, eigenartige Gefühl der Enttäuschung, das uns über all die Jahre bis hin zum Abstieg begleitet hatte, dieser Frust, dass die Mannschaft so viel mehr könnte, wenn sie nur wollte.
Wer glaubt, beim Fußball ginge es um nicht mehr als 22 Männer, die einem Ball hinterherrennen, hat den tiefen Zauber dieser Sportart niemals verstanden. Es geht um so viel mehr, es geht um die bedingungslose Liebe zu einem Verein, dem Willen, aller Widrigkeiten zum trotz alles zu geben, dafür einzustehen und auch Opfer zu bringen. Es geht um das Gefühl, tief im innersten seines Herzens zu wissen, dass es Momente gibt, die einem alles bedeuten können. In diesen Tagen und Wochen schlagen die Herzen der Mannschaft und der Fans als eines, auf dass wir alle schon bald belohnt werden. Der Weg bis dahin ist noch kurz. Und doch noch so weit.
Es gibt so viele wunderbare Worte auf dieser Welt. Dennoch fällt es schwer, die richtigen zu finden, sie als Zeichen einer angemessenen Würdigung sinnvoll aneinander zu reihen und sie an euch da draußen, die das Auswärtsspiel in Nürnberg zum Heimspiel gemacht haben, weiterzugeben. Worte der Leidenschaft, der Begeisterung, die dafür geschaffen sind, für solche Momente genutzt zu werden und die jeden einzelnen mit Gänsehaut erfüllen. Lange suche ich nach diesen Worten, die des Spielberichts würdig sind. Tage wie diese vergisst man wahrscheinlich nie. Das weiß jeder, der bis zu einer halben Stunde nach Abpfiff noch im Gästeblock stand und sich die Seele aus dem Leib gesungen hatte.
So viel gibt es zu erzählen und doch weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Minutenlang sitze ich vor dem leeren Dokument an meinem Rechner, während mir tausende Gedanken durch den Kopf schießen. Über 48 Stunden ist es her, seit wir sie mit brachialem Applaus in die Kabinen schickten und doch zehre ich noch heute von all den Emotionen, die wir an diesem Montagabend im Neckarstadion erleben durften. Ich könnte euch viel erzählen, wie der VfB ein Zweitligaspiel gegen Union Berlin gewann, aber wie will man das verstehen, wenn man es nicht fühlen kann.
Alles tat mir furchtbar weh. Die Füße schmerzten, das Wasser staute sich in meinen Waden, um die Nieren war ich unterkühlt, der Hals kratzte und meine Stimme, die ich erst vor gefühlt wenigen Tagen zurück erlangte, drohte wieder wegzubrechen. Es war still geworden. Leise öffnete ich das Fenster, warf einen Blick nach draußen auf die nassen Pflastersteine als mir der kalte Wind ins Gesicht wehte. Ich schloss das Fenster wiegte, schaltete das Licht aus und atmete nochmal tief durch, bevor ich meine Augen schloss. Mein Puls hatte sich wieder beruhigt. Zwei Stunden zuvor war daran nicht zu denken.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich ins Wohnzimmer, ließ meinen müden Körper auf die Couch plumpsen, legte die Beine hoch und nahm einen ersten Schluck aus der Bierflasche. Einmal tief durchatmen. Es war geschafft. Ein seliges Lächeln huschte über meine Lippen, während mein von der Sonne gezeichnetes Gesicht spannte und sich das Blut in den angeschwollenen Waden nur langsam zurückzog. Vollkommen fertig, aber für einen Moment glücklich und entspannt. Es ist spät geworden, der Tag hat seine Spuren hinterlassen. Und doch genoss ich des Abends noch dieses eine wunderbare Gefühl, nahm noch einen Schluck und seufzte zufrieden, ohne dass mich jemand hören konnte: “Derbysieger”.
Zehntausend. In Zahlen 10.000. Zehntausend, die sich unter der Woche auf den Weg nach München gemacht hatten. Zehntausend, denen es wichtig genug war, die Mannschaft zu unterstützen und sie zum Auswärtssieg zu schreien. Zehntausend, die keinen Zweifel daran hatten, dass die Mannschaft alles dafür tun würde, rechtzeitig vor dem Derby die Köpfe freizubekommen. Und Elf, die sich dessen offenbar nicht einmal im Ansatz bewusst waren und es geschafft haben, jene Zehntausend enttäuscht zurückzulassen. Insgeheim wissen wir alle, wie wir dieses Spiel einordnen müssen: für den Aufstieg ist das schlichtweg zu wenig.
Hin und wieder hinterlässt mich mein Verein in völliger Sprachlosigkeit. Schon oft war ich nicht im Stande, etwas zu sagen, sei es aus Frust, Entsetzen oder vollkommener Schockstarre. Noch nie jedoch stand ich da und konnte gar nichts sagen – nicht einmal, wenn ich gewollt hätte. Acht Tage waren vergangen, seit mich meine Stimmbänder im Stich gelassen haben. Manche Dinge lernt man erst zu schätzen, wenn man sie verloren hat, da bildet die Fähigkeit zum Sprechen keine Ausnahme.
Ich hasse es, wenn ich Recht habe. Ich hasse es, wenn meine schlimmsten Befürchtungen eintreten. Ich hasse es, wenn die Entwicklung genau diese Richtung annimmt, die ich geahnt habe. Ich hasse es, dem VfB dabei zuzusehen, wie er ein Spiel verliert und damit den schönen Vorsprung, den man hatte, geradewegs wieder hergegeben hat. Ich hasse es, mit dem Gefühl allein gelassen zu sein, dass sich unsere Aufstiegshoffnungen fürs erste in Luft aufgelöst haben. Dass noch immer neun Spiele Zeit sind, dieses Polster wieder draufzupacken und das einzige zu tun, was uns weiterhilft – Spiele zu gewinnen – ist mir bewusst. Es kann klappen. Und genau das ist das Problem: es kann nämlich genauso gut noch schief gehen. Ich hasse diesen Gedanken, das könnt ihr mir glauben.
Fünf Tage. Zwei Spiele. Zwei Untentschieden. Im Jahr 2017 weiterhin ungeschlagen. Man sollte meinen, das alleine reicht, um nach dem Freitagsheimspiel gegen Bochum gut gelaunt am Rechner zu sitzen und diese Zeilen niederzuschreiben. Aber das alleine reicht eben nicht. Unterschiedlicher konnten beide 1:1-Spiele gegen Braunschweig und Bochum nicht sein. Das eine fühlte sich wie ein Sieg an, doch gegen Bochum fühlte es sich wie eine Niederlage an. Im Grunde ist das doch vollkommen absurd, oder etwa nicht?
„Okay, das wars jetzt“ murmelte ich in mein Halstuch hinein. Mit Marcin Kaminski verließen meine Hoffnungen das Spielfeld, die Mannschaft am Ende ein weiteres Mal feiern zu können. Das letzte Mal, als ich das schon zur Halbzeitpause sagen musste, gerieten wir in Dresden komplett unter die Räder. Das ist nun 134 Tage her. Der Nackenschlag nach dem euphorischen Heimsieg gegen Fürth landeten wir unsanft auf dem Boden der Tatsachen. Wie soll der Aufstieg denn gelingen, wenn man sich noch nicht einmal gegen einen Aufsteiger behaupten kann? Nach 19 Wochen bin ich umso zuversichtlicher – was nicht bedeuten soll, ich wäre mir schon sicher.
Fünf Siege in Folge. Souveräne Mannschaftsleistung. Positiver Teamspirit. Motivierter Trainer. Enthusiastische Fans. Immernoch Tabellenführer. Es gab schon schlechtere Zeiten als VfB-Fan. Lange nach Abpfiff stand ich noch auf meiner Betonstufe am ersten Wellenbrecher des Blocks 33, öffnete den Knoten meiner Jacke, die ich darum gebunden hatte und machte mich milde lächelnd auf den Weg nach nach draußen. Ein Lächeln, dass davon zeugt, wie sehr ich versuche, jeden einzelnen Moment in mich aufzusagen, im Bestreben, alles zu konservieren, als sei es für schlechte Zeiten gedacht. Ein Körnchen Wahrheit mag durchaus dabei sein – denn so sehr ich die aktuelle Zeit genieße, zurücklehnen kann und will ich mich nicht. Das sollte keiner von uns.
Die vermeintlich einfachsten Worte sind oftmals die schwersten. Der Plan war genial, am Vormittag die Fotos fertigmachen, Mittagessen und dann am Nachmittag bereits mit diesen Zeilen fertig sein. Und dennoch fiel es mir schwer, wo doch jene magische Momente noch frisch im Gedächtnis sind und besonders gut zu Papier gleiten sollten. Mitnichten, wie ich in den letzten Stunden feststellen musste, denn das eigentliche Problem war: Wo fängt man da an? Beginne ich damit, wie ich grinsend in einem leeren Gästeblock stand? Oder wie ich vor der Partie ein ganz mieses Gefühl hatte? Oder doch lieber damit, dass es Momente gibt, die man aufsaugt wie ein Schwamm und für nichts auf der Welt hergeben möchte?
Der dänische Schriftsteller Søren Kierkegaard hat einmal gesagt, dass man das Leben nur rückwärts verstehen kann, leben jedoch müsse man es vorwärts. Wisst ihr noch, wie weit entfernt uns die Rückkehr zum Guten vorkam, als wir einst in Wolfsburg mit hängenden Köpfen das Stadion verließen? In Tränen versinken wollte ich nicht, also redete ich mir ein, dass man jetzt nicht weiß, wozu das alles gut gewesen sein soll. Einige von uns hat der Abstieg gelassener gemacht, einige von uns entdeckten ihre Liebe zum Verein auf eine ganz neue Weise, doch das wohl wichtigste ist, dass es uns allen bewiesen hat, dass es irgendwie immer weiter geht.
Minutenlang schallte es durchs Stadion, immer und immer wieder, mit jeder Runde deutlicher, lauter, begeisterter. Außenstehende mögen uns Größenwahn und Hochmut vorwerfen, doch aus unseren Kehlen vernahm man nichts anderes als die Melodien einer längst vergangenen Zeit. “Wenn du mich fragst, wer Meister wird, dann sage ich zu dir, das können nur die Schwaben sein, die Jungs vom VfB” – nach allem, was wir in den letzten Jahren durchgemacht haben, tat das verdammt gut. Auch ich sang jene Zeilen mit, ungeachtet der Tatsache, dass man in der gesamten Cannstatter Kurve vermutlich keinen größeren Pessimisten als mich finden wird.
“Ich werde zu alt für diesen Scheiß” murmelte ich und fiel nahezu komatös ins Bett. Fast 24 Stunden war ich nun auf den Beinen, jeder einzelne Kilometer, jede einzelne Minute steckte mir in den Knochen und ließ mich binnen weniger Minuten einschlafen. Gefühlt waren wir die letzten VfB-Fans, die sich auf den weiten Weg nach Hamburg gemacht haben, die einzigen, die sich mit dem Spiel nicht ganz zufrieden zeigten, waren wir jedoch nicht.
Weihnachten. Diese besinnliche Zeit im Jahr, in der man nervlich herunterfährt, sich auf die schönen Dinge des Lebens besinnt und sich bewusst wird, wie wundervoll und kostbar das Leben ist. Oder wie man es beim VfB kennt: die Zeit, in der man sich kollektiv gegenseitig an die Gurgel geht, einander wüst beschimpft und sich die Fangemeinde in zwei Lager spaltet. Kochend vor Wut trennen sich hier diejenigen, die weiterhin das Positive sehen und sich auf nichts Anderes konzentrieren wollen von denjenigen, die ihre dunkelsten Befürchtungen schon frühzeitig kundgetan haben. Zurück bleibt Frust, Unverständnis dem Anderen gegenüber und mitunter zerrüttete Freundschaften. Oh du besinnliche Weihnachtszeit.
Man sollte keine Entscheidungen treffen, wenn man wütend ist. Man sollte keine Versprechungen machen, wenn man euphorisch ist. Und man sollte auch keine Spielberichte schreiben, wenn man frustriert ist. Nur wenig ist von dem Zorn der letzten 48 Stunden verflogen, was nachwievor bleibt sind Enttäuschung, Frust und Unverständnis. Dabei ist es nicht nur die Niederlage an sich, oder die Art und Weise, wie Sie zustande kam, sondern vielmehr, wie sorglos das ein Großteil der VfB-Fans einfach so hinnimmt – denn sie erinnert mich zu sehr an jene schicksalhaften Ereignisse im Februar diesen Jahres.
Meine Nase hatte ich tief in den Schal vergraben, als ich mich entspannt auf einem der noch immer von Schneereif bedeckten Wellenbrechern abstütze. Ein Mal schnaufte ich tief durch, die Gläser meiner Brille beschlugen und für einen Moment konnte ich die Leute nicht sehen, die sich an mir vorbei nach draußen drängte. Meine Füße fühlten sich komplett gefroren an, aber ein Ende war bereits in Sicht. Schon bald würde ich im warmen Auto sitzen, den Laptop auf meinem Schoß aufklappen und mich an die Arbeit machen, hunderte Bilder zu sichten. Mit einem Schmunzeln schaute ich minutenlang in den malerischen Sonnenuntergang und dachte mir: „Was für ein tolles Wochenende“.
“Komm schon, Mädchen, du hast schon Schlimmeres durchgestanden als das hier” sprach meine innere Stimme zu mir, und so presste ich meine Lippen zusammen, vergrub sie in meinem Schal und versuchte zu ignorieren, dass von meinen Füßen die Kälte nach oben stieg. Es gab schon Schlimmeres. Wer erinnert sich nicht auch an jenes Heimspiel gegen Hoffenheim vor gut sieben Jahren, als man bei -17 Grad in der Kurve stand und allenfalls das Spiel für warme Gemüter sorgte.
“Hey Ute, wie du vielleicht weißt, ist am 23. November das Kabinenfest. Hast du Bock?” – in genau diesem Augenblick wird mein Kumpel Philip schon gewusst haben, wie überflüssig diese Frage war. Natürlich hatte ich! Tausende Fans haben sich beworben oder ihr Glück über die diverse Gewinnspiele versucht, vermutlich wäre ich ohne diesen Anruf keine davon gewesen, denn beim Kabinenfest waren Felix und ich noch nie. Bis zu diesem Tag, andem mir mein weitreichendes VfB-Netzwerk ein weiteres Mal nützlich war.
Es war einfach zu wenig. Zu wenig von Vielem. Zu wenig Konsequenz. Zu wenig Durchschlagskraft. Zu wenig Wille. Zu wenig Konzentration. Zu wenig Tore. Zu wenig Punkte. Man könnte fast sagen “Luxusprobleme”. Mein Papa sagte mir am Abend, als wir auch Berlin zurückgekehrt waren: “Ganz schön weite Reise für nur einen Punkt”. Ich schaute ihn an, runzelte kurz die Stirn und entgegnete: “Wir sind schon weiter gefahren für weniger”. Bedenkt man die Vielzahl der Möglichkeiten, die sich den Eisernen am Ende der Partie noch geboten hatten, sollten wir zufrieden sein, mit einem Punkt heimzufahren. Aber wir sind es nicht.
Wenn ich euch in gut sechs Monaten danach frage, was von der (am Ende hoffentlich einzigen) Zweitligasaison des VfB übrig geblieben ist, werdet ihr alle mir sicherlich einiges zu erzählen haben. Zwar steht uns die Winterpause noch bevor, doch wer erinnert sich am Ende nicht gerne an das ausverkaufte Neckarstadion zum ersten Heimspiel gegen St. Pauli, die fast 15.000 Verrückten in Kaiserslautern und das erhabene Gefühl des Derbysiegs in Karlsruhe. Von diesem Heimspiel gegen Bielefeld wird vermutlich nicht viel hängen bleiben. Zumindest nicht bei jedem von uns.
Ich wünschte, ich hätte nur annähernd die richtigen Worte dafür. Lange sitze ich vor einem leeren Blatt und stelle mir die Frage, wie ich anfangen sollte. Mit dem erhabenen Moment, in dem uns Alexandru Maxim endgültig zum Derbysieger machte? Dem grenzdebilen Dauergrinsen, das seit gestern Nachmittag mein Gesicht ziert? Oder vielmehr darüber, wie es sich so anfühlte, kritisch beäugt inmitten von einer Heerschar an Sicherheitskräften mein erstes Derby in Karlsruhe erleben zu dürfen. Eines nach dem anderen.
Die Überschrift für meinen Spielbericht hatte ich schon viele Tage zuvor vorbereitet, so sicher war ich mir, wie wohl für den VfB in Gladbach laufen würden. Während fast alle Augen schon angespannt in Richtung Karlsruhe gerichtet sind, war die Dienstagspartie allenfalls „Pokal egal“. Selten hatte mich eine Niederlage, die uns bereits in der zweiten Runde aus dem Pokal wirft, so wenig aus der Bahn geworfen. Damit stehe ich bei weitem nicht alleine, und doch scheiden sich offenbar die Geister an der Pokalniederlage. Ein Erklärungsversuch.
Es wäre so typisch gewesen. Als Nico Karger in der 93. Minute mit dem Kopf den Ball in die Maschen drosch, rutschte mir zeitgleich das Herz in die Hose. Eine gefühlte Ewigkeit hatte es gedauert, bis ich entdeckte, dass der Linienrichter die Fahne oben hatte. Es wäre das 2:2 gewesen, das uns wenige Sekunden vor Schluss erspart geblieben ist und damit den Schlusspunkt setzte hinter eine zum Ende hin enorm nervenaufreibende Partie. Da hätte es die Aussage, es sei keinesfalls Abseits gewesen, nicht einmal dazu gebraucht.
Einfach vergessen. Gar nichts schreiben. Alles schwärzen. Über die Erfolge der U17 und U19 berichten. Ein Waffel-Rezept veröffentlichen. Auswandern. Die Alternativen, die mir im Laufe des Wochenendes offeriert wurden, waren vielfältig. Und dennoch entschied ich mich für das Schmerzhafteste von allem: über das zu schreiben, was am Samstagmittag passiert ist. Auch wenn ich es nicht will. Auch wenn mir tausend andere Beschäftigungen lieber wären als diese. Auch wenn es so unendlich weh tut, neu gewonnene Hoffnungen wieder davon schweben zu sehen. Auch deswegen. Und vielleicht sogar auch genau deswegen.
Ach, Sascha. Schwätz du nur. Breit grinsend lief er an mir vorbei die Treppe hoch und rief mir noch hinterher, ich solle positiver denken. Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf beim Gedanken daran, wie absurd die Worte waren, die er eben sagte: “Pass auf, Mané macht heute zwei Tore!” Es war kurz vor acht Uhr abends, in Kürze sollte das Spiel beginnen und erstmals würden unsere Neuzugänge Carlos Mané und Benjamin Pavard in der Startelf stehen. Mehr aus der Not heraus, doch wie verrückt war es, eine solche Ansage zu machen? Sascha wird es schon gewusst haben.
Eigentlich sollten wir dankbar sein. Dankbar dafür, dass wir mit einem Punkt gut bedient sind. Dankbar dafür, dass eine englische Woche mit sieben von neun möglichen Punkten Ende ging. Dankbar dafür, dass es bei uns besser läuft als bei anderen Vereinen. So unentschlossen meine Gefühlslage mit der Verpflichtung unseres neuen Trainers Hannes Wolf war, so sehr bin ich es jetzt mit dem Unentschieden in Bochum.
Ihr alle, die ihr da draußen seid und diese Zeilen lest. Ihr alle, die ihr dem Brustring gewogen seid und euer Herz für diesen Verein gegeben habt. Ihr alle, die ihr mit mir in der Kurve gestanden seid und genau wisst, wie ich empfinde. In diesen Tagen eint uns alle das gleiche Gefühl: jene schmale Gradwanderung zwischen hoffnungsvoller Euphorie und vorsichtiger Skepsis, diese bizarre Mischung, Hoffnung geschöpft zu haben, obwohl man das nicht wollte.
Unser Ruf eilt uns bereits meilenweit voraus. Jene Tage, an denen der Gegner mit Ehrfurcht den VfB empfing und das Beste hoffte, sind vorbei. Heute sind wir nur selten mehr als ein gern gesehener Aufbaugegner. Immer wieder bewies unser Verein mit schierer Leidenschaft, wie gern er seinem zweifelhaften Image nachkommt, nämlich jedem strauchelnden Verein, der dringend Punkte benötigt, bereitwillig zu helfen. An die leidtragenden Fans, die das seit langer Zeit mitmachen müssen, denkt da natürlich niemand. Von Absicht würde ich nicht unbedingt sprechen, aber man bekommt diesen Ruf einfach nicht los.
Andere Worte kann es für diese Darbietung nicht geben. Für manche war es der Tiefpunkt der letzten Jahre, und von denen gab es wahrlich viele, für andere wiederum der allerletzte Schuss vor den Bug. Für manche überlebt Jos Luhukay den Herbst nicht als VfB-Trainer, andere wiederum sind der festen Überzeugung, er sei der richtige für die Mission Wiederaufstieg. Jeder soll selbst entscheiden, was er glaubt und woran er bis zum Ende der Saison glauben will, ich weiß nur, woran ich nach dem Freitagabend nicht mehr glaube: dass wir ein ernsthafter Kandidat für den Aufstieg sind.
Der Inbegriff der Zweitklassigkeit. Sandhausen. Lange hatte ich in der Nacht davor noch wach gelegen, habe die Schlafzimmerdecke angestarrt und mir bewusst gemacht, am nächsten Tag nach Sandhausen aufzubrechen. Keinem anderen Gegner haftet dieses unbequeme Gefühl der Zweitklassigkeit mehr an als dem SV Sandhausen, der kleinen 15.000-Einwohner-Stadt im Rhein-Neckar-Kreis, acht Kilometer südlich von Heidelberg. Wer nach Sandhausen muss, ist wirklich abgestiegen und muss sich klar machen, dass einem nichts geschenkt wird. Das alleine machte es auch gefährlich.
Es gibt sie also doch noch. Wir kennen sie alle, diese kleinen Momente, in denen alles friedlich und in allerbester Ordnung ist und nichts diesen Augenblick trüben kann. Wenn du all die Sorgen für ein paar Minuten vergisst, dich zurücklehnst und die Situation genießt. Als sich am Samstagabend die Sonne am Rande des Saarlands am Horizont unterging und den Gästeblock in ein warmes Sonnenlicht tauchte, das nur durch den hellen Schein unzähliger bengalischer Fackeln noch heller wurde, stand ich mit beiden Beinen fest auf den Betonstufen, zwischen denen das Unkraut hervorkam, schaute stillschweigend auf gut 3.000 mitgereiste VfB-Fans und dachte mir mit einem Lächeln: Warum kann es nicht einfach immer so sein?
Niemand hatte gesagt, es würde leicht werden. Im Gegenteil. Viele Jahre wischten wir uns spätestens am letzten Spieltag den Angstschweiß von der Stirn, schnauften erleichtert “Grad nommol gut gange!” und wollten nie erleben müssen, wie sich die zweite Liga wohl anfühlen würde. Kein Zuckerschlecken, das wurde uns immer suggeriert. Kleinere Stadien, weniger Tickets, unattraktiverer Fußball, ganz zu schweigen von den bescheidenen Anstoßzeiten. Dass in Liga 2 alles viel blöder ist, haben wir Fans schon vorher gewusst. Doch die Mannschaft wusste es anscheinend nicht.
So richtig bereit war ich dafür noch nicht. Zweite Liga. Der Begriff, vor dem ich so viele Jahre so unwahrscheinlich viel Angst hatte. So richtig echt fühlt es sich noch nicht an. Nun also Aue, Sandhausen und Heidenheim statt Bayern, Schalke und Dortmund. So richtig freuen konnte ich mich nicht, wenngleich die Vielfahrerei zu jeglichen Spielen des VfB meine Aussage nur umso absurder erscheinen lässt. Auf uns wartet nun eine neue, spannende und auch aufregende Zeit, von der keiner so recht erahnen kann, was sie für uns bereit hält.
Mit den Worten “Es dürften zwei Tickets für uns hinterlegt sein…” stellten wir uns an den Schalter des alten Stadions in Weinstadt-Benzach, nur wenige hundert Meter entfernt von dem Startpunkt so mancher Auswärtsfahrt. “Jaja, auf Sie beide habe ich schon gewartet” schmunzelte der ältere Herr und schob uns durch die Fensteröffnung zwei VIP-Pässe zu. Da hatte unser Kumpel Sammy, der selbst im Verein SG Weinstadt aktiv ist, ganze Arbeit geleistet. Artig bedankten wir uns und freuten uns auf einen tollen Tag beim Testspiel gegen Fürth. Dass uns die pralle Hitze des Julis zu schaffen machen würde, hätten wir dabei aber auch vorher bedenken können.
Gut anderthalb Monate war es her, dass in Wolfsburg der letzte Vorhang gefallen war und den VfB in die Niederrungen der zweiten Liga beförderte. Viel zu lange hatte man keine Mittel gefunden, aus einem anfänglich harmlos wirkenden Zeitraum verlorener Spiele wurde eine ernsthafte Krise, immer lauter wurden die Gedanken, dass in diesem Jahr der Abstieg unausweichlich war. Was hatte ich in den letzten Jahren nicht immer wieder davon gesprochen, dass es gerade dieses Mal schief gehen würde, irgendwas oder irgendwer hatte uns bisher immer retten können. Nicht so in jenem tristen Frühsommer 2016.
Wie schnell sich der Gästeblock wirklich geleert hat, habe ich nicht einmal mitbekommen. Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da, frierend ob des doch recht frischen Windes, der uns um die Nase wehte, mit Rückenschmerzen, Magengrummeln, dickem Kopf und der letztendlichen Gewissheit, dass jetzt alles vorbei ist. Vorbei ist sie, die Saison voller Tiefen und auch einigen Höhen. Vorbei ist sie, eine erneute Niederlage, die sich nahtlos in all das einreihte, dass ich seit acht Jahren in Wolfsburg hinnehmen musste. Vorbei ist sie, die wunderbare Zeit in der ersten Liga. Der VfB ist abgestiegen. Und zwar mit Ansage.
Eigentlich hatte ich gedacht, Tränen der Trauer würden über meine Wangen laufen. Eigentlich hatte ich gedacht, der VfB nutzt die letzte Chance, die er noch hat. Eigentlich hatte ich gedacht, das alles würde irgendwie anders laufen. Da waren keine bitteren Tränen, keine hemmungslose Aggression in mir, nur die große Fassungslosigkeit, wie uns das noch passieren konnte. Wieder einmal. Es scheint wirklich so zu sein, dass sich die Geschichte immer wiederholt, bis man es eines Tages doch richtig macht. Jahr für Jahr wachen wir auf wie Bull Murray an einem jeden Tag und stellen fest, dass es immer so weiter geht.
Kaum etwas hat in den letzten Wochen so polarisiert wie die Ansetzung unseres Auswärtsspiels. Eigentlich sollte ich heute Abend in Bremen sein, im Gästeblock, da, wo ich hingehöre, um meine Mannschaft im wohl wichtigsten Spiel der Saison zu unterstützen. Stattdessen bin ich in Stuttgart geblieben – wie viele andere meiner Freunde, Bekannte und Weggefährten auch. Sie alle sitzen in diesem Moment im Büro, zuhause auf der Couch, auf der Terasse oder dem Balkon, mit flauem Gefühl im Magen und dem Gedanken, man solle jetzt eigentlich in Bremen sein.
“Wie ich noch hoffen soll, ist mir schleierhaft. Wie der VfB es noch schaffen soll, ist mir schleierhaft. Wie die Fans wohl mit den nächsten Wochen umgehen, ist mir schleierhaft. Es sind noch drei Spiele und damit die rechnerische Möglichkeit von neun Punkten und dem direkten Klassenerhalt. Die Köpfe hängen schwer, während alle anderen mentalen und sportlichen Erfolg verbuchen, hadern wir mit uns selbst.” – Jene Worte stammen vom Auswärtsspiel auf Schalke, an genau diesem Spieltag vor genau einem Jahr. An dem Tag, als man genau am gleichen Punkt war, gefühlt bereits abgestiegen war und es viel schlimmer nicht mehr kommen konnte.
Viele Stunden sind vergangen, seit ich am späten Sonntagvormittag meine Augen öffnete. Mein größter Wunsch blieb unerfüllt: das alles wirklich nur geträumt zu haben. Gerädert stand ich auf, tapste ins Bad und direkt an den Rechner. Mit einem Kaffee vor mir starrte ich lange Zeit ein leeres Blatt auf dem Bildschirm an. Hier sollten in einigen Stunden ein paar Seiten stehen über das Erlebte, was es im Nachgang des Augsburgspiels aufzuarbeiten galt. Der Drang war groß, einfach nichts zu schreiben bis auf die Worte: “Hier gibt es heute keinen Spielbericht zu lesen, da der VfB sich weigerte, am Spiel teilzunehmen”, doch einfach ist das leider nicht.
Es ist nicht so, dass ich wirklich etwas anderes erwartet hatte. Ich habe genau das erwartet, was es am Ende war, eine weitere Niederlage gegen die Bayern. Und doch sind es jene Spiele, die am bittersten sind: jene, in denen du für einen Moment an der Sensation schnuppern kannst, das Gefühl fast schon riechen kannst, bevor dir ein einziger grausamer Schuss mitten ins Herz alle Hoffnungen nimmt. Eigentlich war es wie immer. Und dann aber doch irgendwie nicht. Was wäre es nur für eine Sensation gewesen, wenn der VfB die letzten notwendigen Punkte für den Klassenerhalt ausgerechnet bei denen holt, die man so gar nicht auf dem Zettel hatte? Es wäre schlichtweg zu schön gewesen, um wahr zu sein.
Wenn es etwas gibt, das mir den letzten Nerv raubt, dann ist es jenes Gefühl der Unruhe, das mich ergreift, wenn ich an das Saisonfinale unseres VfB Stuttgart denke. Geben sich die meisten noch erstaunlich gelassen, werden doch Stimmen lauter und lauter, die Mannschaft müsse sich wieder auf das besinnen, was sie noch bis vor einigen Wochen ausgezeichnet hat. Ich will mich nicht darauf warten müssen, dass es am Ende irgendwie reicht. Ich will nicht nach Wolfsburg fahren müssen mit dem Gedanken, es ginge doch noch einmal um Alles. Ich will mich nicht fragen müssen, welcher der liegen gelassenen Punkte nun wirklich unser Schicksal besiegelt hat.
Er tut weh. Dieser eine Moment, wenn du feststellst, dass all deine Hoffnungen vergebens waren und du dich dann doch wieder zurück im Abstiegskampf befindest. Dieser Augenblick, wenn du den Blick wieder nach unten richten musst und hoffst, nicht wieder das selbe wieder durchzumachen, was dich vor nicht einmal einem Jahr bereits so viele Nerven gekostet hatte. Er tut unheimlich weh. Nicht nur vorm VfB liegt in dieser Saison noch ein weiter Weg zum Klassenerhalt, auch vor mir persönlich. Ohne es zu wollen, bringt mich eine solche Niederlage wie diese gedanklich dorthin, wo ich nie wieder sein wollte: nach Paderborn. Sinnbild der blanken Angst, wenn das Ende nah ist.
Samstag. 12. März 2016. 16:31 Uhr. Langsam schüttelte ich den Kopf und starrte ins Nichts. Als der Freistoß von Dario Lezcano im rechten Torwart einschlug und Przemyslaw Tyton alt aussehen ließ, war es mir klar: wir würden dieses Spiel verlieren, die Frage war lediglich, wie hoch. Dabei hatte es trotz des frühen Rückstandes in den ersten zehn Minuten so ausgesehen, als würde der VfB mit seiner spielerischen Qualität vor allem bei gefährlichen Kontern die Oberhand behalten. Nach 61 gespielten Minuten sah es so aus, als sei das Rückgrat der Mannschaft fürs erste gebrochen, meine Hoffnungen auf einen Punktgewinn auswärts waren es auf jedem Fall.
Man sollte meinen, es fällt nach solchen Tagen leichter, die richtigen Worte zu finden. Zu erzählen gibt es genug, angefangen von erneuten Zweifeln am Charakter der Mannschaft, über die Hoffnung auf eine Trotzreaktion, bis hin zu den Momenten, die einem die Freudentränen in die Augen treiben. Ohne jeden Zweifel gibt es einiges zu berichten und ich denke nicht, mit ein paar wenigen Seiten auszukommen, was mir nicht einmal gelingt, wenn ich nicht viel schreiben möchte. Das einzige Problem, was ich nun habe: Wo soll ich denn da nur anfangen?
Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären. Verzweifelt sucht man nach Erklärungen, dreht jeden Stein um, zermartert sich den Kopf, sinniert über jeden einzelnen Aspekt, nur um festzustellen, dass man keine Erklärung finden kann – jedenfalls keine, die logisch erscheint. Bis heute vermag ich keine rechte Erklärung haben, wie es nur passieren konnte, dass wir die ersten Saisonspiele durch die Bank weg verloren hatten. Bis heute habe ich nicht verstanden, welche Hebel es war, den Jürgen Kramny mit seinem Amtsantritt umlegen konnte. Bis heute suche ich nach Antworten, wie man das Spiel gegen Hannover nur verlieren konnte. Und die nächste Frage wird sein: War es das schon wieder mit all der neuen Herrlichkeit?
Vielleicht sollte ich in diesem mentalen Zustand nicht die ersten Zeilen meines Spielberichtes schreiben. Vielleicht sollte ich mich nach einem harten Tag einfach nur schlafen legen, mich beruhigen und eine Nacht darüber zu schlafen, bis sich der größte Frust gelegt hat. Vielleicht sollte ich das alles nicht überbewerten. Doch kann ich es nicht, nichts von alledem. Innerlich aufgewühlt sitze ich nun her, doch anders als noch vor einigen Monaten, als es Hoffnungslosigkeit und tiefe Enttäuschung waren, ist es in diesen Stunden nicht mehr als nur die pure Verbitterung. Es will mir einfach nicht in den Kopf, wie das passieren konnte. Auch wenn mich das zum Prellbock macht.
Das Wort “traumatisiert” trifft es vielleicht ganz gut. Anders könnte ich es mir ansonsten nicht erklären, warum ein Punktgewinn im achten ungeschlagenen Bundesligaspiel in Folge für mich persönlich ein bisschen zu wenig ist. Dass ich damit weitgehend alleine stehe, muss ich wohl oder übel in Kauf nehmen. Der Grund für das einzige finstere Gesicht im Gästeblock mag zwar nicht rational sein, doch er ist zumindest nachvollziehbar: je schneller wir ganz viele Punkte holen, desto früher können wir den Abstiegskampf zu den Akten legen. Nichts wünsche ich mir sehnlicher als das. Obwohl.. Nein. Es ist die Gelassenheit, die ich mir mehr wünschen würde. Fraglich nur, was in den nächsten Wochen und Monaten realistischer ist.
Wisst ihr, ich wollte in meinem Leben vieles sein, nur nicht gewöhnlich. Vor zehn Jahren hatte ich noch nicht gedacht, an einem verregneten Sonntagnachmittag in meiner Stuttgarter Wohnung zu sitzen, still vor mir hin grinsend, und nach Worten zu suchen, die ich für zahlreiche Leser und nicht zuletzt für mich selbst, niederschreiben. Mein ganzes Leben lang vertrete ich die Überzeugung, dass ein Leben ohne Begeisterung eine Verschwendung ist. Jene Begeisterung hat mich zuletzt sonntags hier sitzen lassen, Worte der Enttäuschung habe ich niedergeschrieben ohne nennenswerte Hoffnung, so bald wieder die schönen Seiten genießen zu dürfen. Doch wenn sie zurückkehren, fühlen sie sich um ein Vielfaches schöner an.
Eine halbe Ewigkeit lang starre ich das weiße Blatt vor mir an und versuche, mich zu überwinden. Was hatte ich mir nicht dieser Tage alles anhören müssen, ich sei verrückt geworden, zu glauben, dass nun alles schlecht sei. Ein bisschen erinnert es mich an den Saisonbeginn, als ich am zweiten Spieltag den Zeigefinger erhob und ahnte, die Niederlage in Hamburg würde ihre Spuren in den Köpfen der Spieler hinterlassen, und ich behielt Recht – was an dem heißen Augustwochenende ein Jeder als Hirngespinst abtat.
Vier Jahre, acht Monate, vier Wochen und zwei Tage. Die Statistik hatte ich mir genau angesehen, bevor wir uns auf den Weg nach Frankfurt machten. Viel Zeit ist vergangen, seit der VfB zuletzt vier Spiele in Folge gewinnen konnte, und ungeachtet meines sonst so trüben Pessimismusses war ich mir sicher. Was auch immer Jürgen Kramny in dieser Mannschaft bewegt hat, an welchen Stellschrauben er gedreht hat und welche Worte er gefunden hat, die Früchte seiner Arbeit zeigten sich schnell: aus einer Ansammlung einzelner Fußballer wurde ein Team. Leidenschaftlich. Kompromisslos. Effizient.
Die Angst stand mir deutlich ins Gesicht geschrieben, mein Herz raste und eiskalter Schweiß rannte mir den Rücken hinunter. Meine Knie schlotterten, mir war abwechselnd heiß und kalt. Vor meinem inneren Auge sah ich es schon, das späte Gegentor, die jubelnden Hamburger, die frustrierte Cannstatter Kurve. Wie nah das pure Glück und die bittere Verzweiflung beieinander liegen, zeigt oft nur ein einziger kleiner Moment. Gerade eben fürchtest du noch, dass dir das Rückgrat gebrochen wird, im nächsten Augenblick schreist du dir die Seele aus dem Leib, weißt nicht wo oben und unten, vorne und hinten ist, liegst mit Tränen in den Augen in den Armen deiner Mitmenschen und fragst dich, wie du nur für eine Sekunde daran zweifeln konntest.
Hier stand ich, röchelte, hustete, krächzte. Nur schwer bekam ich Luft, doch trug ich das Lachen in meinem Gesicht. Um mich herum nur freudige Gesichter, wohin ich auch sah, alle lagen sich in den Armen – damals wie heute. Erinnerungen wurden wach an den 20. Februar 2010, als ich genau hier stand im Gästeblock des Kölner Stadions, vom Husten geplagt, doch zufrieden aufgrund des Ergebnisses und der spielerischen Leistung. 2163 Tage später wiederholte sich die Geschichte, irgendwie gleich, doch irgendwie ganz anders.
Wohin nur mit all diesen Emotionen? Darauf war ich absolut nicht vorbereitet. Was wir gestern im Neckarstadion zu sehen bekamen, entbehrt normalerweise jeglicher Logik, fassungslos standen wir ein weiteres Mal da, doch nicht vor entsetzen, sondern gar vor Freude. Wer hätte es denn ahnen können? Am Tag danach, den ich unfreiwillig ausgeschlafen begann, sollte man eigentlich meinen, diese Zeilen würden sich so einfach schreiben lassen wie noch nie in dieser Saison. Ein Trugschluss, wie ich gut zwei Stunden nach dem Aufstehen feststellen musste.
Nass wie ein begossener Pudel. Als wir des Nachts heimkehrten, erinnerte mein Anblick an den VfB selbst, wie er zwischenzeitlich auf dem neu ausgelegten Rollrasen stand. Eine gefühlte Ewigkeit später war ich endlich aus den nassen Klamotten heraus. Stiefel, Socken, Jeans, zwei Pullis und meine Thermo-Strumpfhose, alles wurde lustlos in der Wohnung verteilt. Eine kleine Last fiel von mir ab, selbst wenn in einigen Wochen niemand mehr danach fragen würde, wie das Viertelfinale erreicht wurde.
Im Grunde gibt es an dem einen Punkt rein gar nichts zu beschönigen. Wie schon in der vergangenen Wochen reicht er nicht aus, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, die sich Woche für Woche enger und schmerzhafter um unserem Hals legt und uns die Luft abschnürt. Wir dachten alle, wir hätten mehr Zeit. Wir dachten alle, es würde uns erspart bleiben. Im eiskalten Regen vor dem Mainzer Stadion fragte mich mein Kumpel Markus Stunden vor der Partie, wann genau die Spielzeit gekippt war. Der Zerfall kam schleichend, die Erkenntnis spät. Schadensbegrenzung. Um sehr viel mehr kann es diese Saison nicht mehr gehen.
Wo ist sie hin, diese Unbeschwertheit aus vergangenen Tagen? Wo ist es hin, dieses Vertrauen bei jedem einzelnen Spiel, dass die Mannschaft das allerbeste geben würde, wozu sie fähig ist? Wo ist sie hin, dieser unbeirrbare Glaube daran, dass alles am Ende gut wird? Ich kann nicht genau sagen, wann genau ich den Glauben verloren hatte – die Jahre des Abstiegskampfs ließen mich schon längst verbittert zurück, inmitten einer Cannstatter Kurve, die nach wie vor immer alles für den Verein gibt, auch wenn die Spieler auf dem Feld, die unsere Trikots tragen, schon längst nicht mehr deren würdig sind.
“Was mache ich hier eigentlich? Ist es das hier wirklich wert? Ich könnte jetzt daheim sein, unter einer kuscheligen Decke auf der Couch sitzen und ein Buch lesen oder ein bisschen fernsehen. Ich könnte einen leckeren Tee trinken und mich entspannen.” Das könnte ich. Aber ich entschied mich anders. Meine Waden krampften schon, als mir unablässig der Regen ins Gesicht prasselte, der kalte Wind meinen durchnässten Körper auskühlte, meine Brille beschlug und ich für einen Moment überall sein wollte, nur nicht hier.
Das Ringen um Worte ist mir nicht fremd. Wie oft saß ich in den letzten Jahren genau an dieser Stelle, an meinem Rechner im Arbeitszimmer unserer Cannstatter Wohnung, starrte auf den Bildschirm, atmete schwer und wusste nicht, was ich schreiben soll. Oder schlimmer noch, nicht zu wissen, wie ich mich motivieren sollte, etwas zu schreiben, was ich am liebsten gar nicht erst erlebt oder genauso schnell wieder vergessen hätte. Zu oft saß ich hier, hineingefallen in ein dunkles Loch voller Frust.
“Was auch immer passiert: du kannst nur positiv überrascht werden!” – so sehr ich mir vornahm, mir von keinem üblen Ergebnis die Laune verderben zu lassen, desto mehr scheiterte ich an mir selbst. Wenn es ein Spiel gibt, über das man sich wahrlich nicht aufzuregen brauch, so war es dieses – und doch blieb am Ende Verbitterung und Enttäuschung. Es ist schwer, gegen die Bayern zu bestehen, am Ende bleibt ein Geschmäckle, dass man drei Mal in dieser Partie benachteiligt wurde und sich letztendlich als „bemitleidenswert“ betiteln lassen muss. Es sollte mir egal sein. Ist es aber nicht.
Mit weit ausgebreiteten Armen drehte er ab und hinterließ in der Cannstatter Kurve das Bildnis der Verwüstung. Küsschen, Küsschen! Küsschen für das leidgeprüfte Publikum, Küsschen für die Teamkameraden, die alles andere als eine souveräne Leistung darboten, Küsschen für alle, vielleicht sogar auch für Alexander Zorniger. Küsschen, Küsschen, lieber Timo Werner! Beinahe nichts ist schöner als der Moment der endgültigen Erlösung, zwischen nervöser Panik, in den letzten entscheidenden Konter zu laufen und jenem herrlichen Glücksgefühl, wenn du weißt: „Das Ding ist durch!“, ein Schuss ins Glück, mitten ins Herz.
Ein wenig absurd ist es ja schon ein wenig. Anders kann man die Tatsache nicht bezeichnen, dass es die Mannschaft mit einem der gefälligsten Offensivspiele geschafft hat, nur bei mehr als mäßigen bis geradezu richtig schlechten Spielen die Siege einzufahren. Welcher Logik das Ganze folgt, habe ich noch nicht entschlüsseln können – vermutlich gibt es gar keine. Gedankenverloren sitze ich hier mit einem Radler zu meiner linken, der zuletzt benutzten Eintrittskarten zu meiner rechten, auf meiner linken Schulter ruht ein heißes Kirschkernkissen.
Es gibt Momente, da wird es ganz schnell schwarz um einen. Man fällt in ein Loch und während man auf den Schmerz beim Aufschlag wartet, fällt man immer weiter, bis man kein Licht mehr sieht. Überall ist Dunkelheit, sie lähmt, sie verängstigt und entzieht die Fähigkeit zu Atmen. Regungslos schwebt man in einem luftleeren Raum, orientieren kann man sich nicht, festhalten kann man sich nicht. Welch beklemmendes und ohnmächtiges Gefühl uns umhüllt, während uns ein modriger Geruch in die Nase steigt. Und dann schlägt man unvermittelt am Boden auf.
“Ohje, bist du erkältet?” fragte man mich, als ich am Montagmorgen das Büro betreten hatte. “Nein, nur ein wenig zu viel rumgeschrien”. Noch im gefühlten Halbschlaf legte ich meine Sachen ab, schlurfte zum Wasserkocher und machte mir Wasser für meinen Zitronentee, auf dass es dem Halse gut tun würde und setzte mich schließlich an meinen Rechner. “Und? Wie haben sie gespielt?” fragte mich erwartungsvollen Blickes meine Kollegin Renate. “Nicht so gut…”, ihre Miene verfinsterte sich kurz, “…aber sie haben gewonnen!”.
Ob es wohl jemandem aufgefallen wäre, hätte ich einfach an Stelle eines aktuellen Spielberichts meine Worte von letzter Saison verwendet hätte? Bittere Erinnerungen an den Valentinstag 2015, das letzte Gastspiel in Sinsheim endete jäh mit einem Gegentor in der Nachspielzeit. Für viele war klar, dass wir jetzt absteigen würden, zu einem weit späteren Zeitpunkt der Spielzeit als jetzt. Das Wort „Abstiegskampf“ möchte keiner so recht in den Mund nehmen, dabei deuten viele Zeichen darauf hin. Dass wir vor dieser Spielzeit mit ganz anderen Erwartungen, Hoffnungen und Träumen ins Stadion gingen, scheint nun beinahe vergessen.
Um 19:28 Uhr schrieb ich via WhatsApp meinem Chef, seines Zeichens ebenfalls VfB-Fan: “Ich weiß net mal, was ich sagen soll.” – “Verdient?” – “Natürlich nicht.” – “So wie immer also.” Während ich die Bilder von der Speicherkarte auf meinen Rechner kopierte, schaute ich wortlos auf den Bildschirm und beobachtete den Fortschrittsbalken im Statusfenster. So wie immer also. Besser konnte man es wohl kaum ausdrücken. Sollte man einfach nur traurig sein? Oder ist der Punkt sogar schon längst überschritten und zur Wut übergegangen? Ich kann es nicht einmal beantworten.
Es war kurz vor Mitternacht. Still saß ich auf dem weich gepolsterten Stuhl in unserem nett eingerichteten Hotelzimmer, legte meine Handflächen andächtig auf den braunen Holztisch und schaute auf meinen Laptop, den ich gerade eben aufgeklappt und eingeschaltet hatte. Ich schloss meine Augen und atmete drei Mal ganz tief ein und wieder aus. Mein Hals kratzte, dagegen konnten selbst zwei Lemocin-Tabletten nicht helfen. In den Speicherkartenschlitz steckte ich den ersten von zwei Datenträgern und schaute mir die Fotos an, die darauf gespeichert waren. Alles schmerzte. Ich war todmüde. Und grinste dennoch über beide Ohren.
Was wäre, wenn das erste Heimspiel gegen Köln anders verlaufen wäre? Was wäre, wenn der eine oder andere Spieler seine hochkarätigen Möglichkeiten genutzt hätte? Was wäre, wenn wir einfach befreit aufspielen könnten? Was wäre, wenn man sich nicht jeden Tag fragen müsste, was nur falsch gelaufen war. Fußball ist bisweilen schlichtweg grausam, das haben wir schon mehr als einmal in dieser Spielzeit erleben müssen. Jammern auf hohem Niveau? Mag sein. Doch sollten wir uns mit dem zufrieden geben, was der neutrale Zuschauer und die populistischen Gazetten von uns erwarten, nämlich am Abgrund zu sein?
“Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht Meister werden” – die Worte meines Kumpels Heinz, an Ironie kaum zu überbieten, trifft es doch den Kern der Sache: wer den Brustring im Herzen und auf dem Trikot trägt, braucht Galgenhumor, sonst sind die Geschehnisse der letzten Wochen, Monate und Jahre nur schwer zu verkraften. Eine Eigenschaft, die ich für mich selbst auch noch erst entdecken muss. Solange wird jede einzelne Niederlage ihre Spuren hinterlassen, und vor allem werden sie Zweifel hervorrufen.
Es tut weh. Nicht, dass man gegen Frankfurt zuhause verloren hat. Auch nicht, dass man nach drei Spieltagen mit zehn Gegentoren nicht einen einzigen Punkt geholt hat. Erst recht nicht, weil noch so viele Spiele zu spielen und so viele Punkte zu vergeben sind. Es tut weh, mit anzusehen, wie das, wo man so viele Hoffnungen hinein investierte, vielleicht gar nicht funktioniert. Das Konzept des Trainers mag durchaus das richtige sein – aber passt es zu genau dieser Zeit zu genau dieser Mannschaft? Erste Zweifel werden wach, ob das wirklich gut gehen kann.
Ich wünschte, ich hätte euren Optimismus. Ich wünschte, ich könnte diese Partie als das ansehen, was es wirklich ist, ein unglücklich verlorenes aber kein kriegsentscheidendes Spiel. Ich wünschte, ich hätte jenen Gedanken nicht, der mich an all das Unheil erinnert, was in nicht allzu ferner Vergangenenheit bereits hinter uns lag. Ich wünschte, ich könnte am Tag danach wieder lächeln. Ich kann es nicht. Eine Geschichte über unendlichen Frust, böse Vorhersehungen und fehlende Zuversicht.
Fußball kann so unheimlich grausam sein. An dem einen Tag bist du noch quietschvergnügt, erfreust dich an den Geschehnissen rund um deinen Herzensverein, blickst optimistisch in die Zukunft – und auf einmal stehst du da, mit einem Hauch von Nichts in der Hand. Der Frust türmte sich hoch auf in mir, bewog mich zu Aussagen, die ich nun zwei Tage später relativieren muss. Was bleibt vom Saisonauftakt gegen Köln? Die Enttäuschung, dass es zu mehr nicht gereicht hat. Doch auch: ein Hoffnungsschimmer. So ist es unser VfB, der gerade dabei ist, sich neu zu erfinden.
Träum ich oder wach ich? Der VfB führte gerade zur Halbzeit mit 4:0 gegen Manchester City, die mit ihren besten Leuten auf dem Platz standen. Was klingt wie ein Traum längst vergangener Tage des internationalen Geschäfts, war in Wahrheit das letzte Testspiel vor dem Saisonauftakt in einer Woche in Kiel. Vier zu Null. Mehrmals in Folge fast abgestiegen, nun watschte man hier den englischen Vizemeister nach allen Regeln der Kunst ab. Nur nicht überbewerten. Gar nicht so leicht, wenn man so viel Spaß hatte wie schon lange nicht mehr.
Ja, wir stecken noch mitten in der Vorbereitung. Ja, die Mannschaft ist natürlich noch nicht eingespielt, wenn sie erst seit zwei Wochen miteinander trainiert. Ja, die Abstimmung im Team funktioniert noch nicht einwandfrei. Ja, der heutige Gegner startet bereits eine Woche später in die Saison und steht schon voll im Saft. Aber trotzdem: tut eine 4:1-Niederlage wirklich Not? Manche meinen, ein gehöriger Tritt auf die Euphoriebremse täte gut. Doch ich frage: Welche Euphorie meinen sie denn genau?
Felix und ich hatten unseren Urlaub redlich verdient. Eine Saison voller Rückschläge und Enttäuschungen hatte unheimlich viel Kraft gekostet. Dass wir nach dieser Spielzeit eine dringende Auszeit benötigen würden, ahnten wir bereits im Winter und buchten schon einmal eine Woche Südtirol und Gardasee. Nach einer durchaus entspannten und wunderbaren Woche hatte uns der Alltag wieder – und der VfB auch! Der lud nämlich gleich am Montag zum Trainingsauftakt in Kombination mit der offiziellen Vorstellung der neuen Trikots, die wir schon mit Spannung erwartet hatten.
So langsam beginne ich zu begreifen. Es ist tatsächlich vorbei, es ist überstanden, der VfB bleibt erstklassig. Gezeichnet von den Strapazen einer weitgehend frustrierenden und enttäuschenden Saison sickert auch bei mir nun langsam die Erkenntnis durch, dass ich jetzt loslassen kann. Alle Sorgen, aller Kummer, alle Angst, ich kann loslassen. Wohin nur mit all diesen Emotionen? Wie soll man nur über jene Emotionen schreiben, die man mehr als 24 Stunden später noch nicht einmal vollständig verdaut hat?
Fassungslos stand ich da. Wenige Sekunden, bevor Manuel Gräfe die Partie beenden konnte, riss es uns den Boden unter den Füßen weg. Noch einmal Freistoß für den HSV, das 1:1 würde uns nicht reichen, das wussten wir. Raffael van der Vaart trat an, bange Blicke in der Cannstatter Kurve, der Angstschweiß saß uns auf der Stirn. Da flog er, der Ball, direkt auf den Kopf von Gojko Kacar, der nur noch einnicken musste. Daniel Schwaab war den einen Schritt zu spät, Sven Ulreich war ohne Chance. Bruno Labbadia kannte kein Halten mehr und rannte zur Eckfahne, wo der Torschütze zum 1:2 unter einer Jubeltraube von Hamburgern begraben wurde.
Man möchte meinen, an solchen Tagen fällt das Schreiben so viel leichter. Das stimmt nicht so ganz, der Sonntagnachmittag ist bereits vorangeschritten, hinter mir scheint die Sonne durchs Fenster, fast so, als würde sie für meine aktuelle Stimmungslage stehen. Vergangene Woche regnete es unablässig, als ich jene bitteren Zeilen niederschreiben musste am Tag nach dem gefühlten Abstieg auf Schalke. Wie nah Ernüchterung und Wahnsinn beieinander liegen, beweist uns der VfB immer wieder aufs Neue – ob wir das nun wollen oder nicht.
Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Hier sitze ich nun, ein weiteres Fußballwochenende voll komplett desaströster Ergebnisse liegt hinter mir. Mit einem dicken Kloß im Hals schaue ich auf die Tabelle des 31. Spieltags. Heute morgen lag ich noch eine Stunde im Bett und starrte regungslos die Decke unseres Schlafzimmers an. Wie sollte ich mich nach so einem Spiel aufraffen, mich an den Rechner setzen und das niederschreiben, was jedem VfB-Fan so sehr schmerzt? Stunden später habe ich noch nicht einmal eine einzige Seite vollgeschrieben. Genau genommen: erst 628 Zeichen in über neun Stunden.
“Unfassbar” – Das wohl am häufigsten benutzte Wort der letzten 24 Stunden. Unfassbar, wie man nach einer 2:0-Halbzeitführung eine Partie so aus der Hand geben kannst. Unfassbar, wie man einen absolut harmlosen Gegner so bereitwillig wieder aufbauen kann. Unfassbar, dass man sich eine denkbar gute Ausgangsposition für die nächsten Wochen selbst wieder zunichte machen kann. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich ein Spiel das letzte Mal so frustriert, gewurmt und aufgeregt hat, wie dieses. Wo sind sie, die letzten Optimisten?
Nichts wiegt schwerer als der Frust am nächsten Tag. Wie gerne ich nun darüber schreiben würde, dass es der VfB geschafft hat, all jene Patzer der Konkurrenz auszunutzen und den Sprung auf den Relegationsplatz geschafft hat. Hannover: Verloren. Paderborn: Verloren. Freiburg: Verloren. Eine Steilpassvorlage, die man nur noch über die Linie zu drücken brauchte. Wir reihten uns letztendlich ein in die Riege der Abstiegskandidaten, die keine Punkte geholt hatten. Nun müssen uns die lange Zeit gefürchteten Heimspiele retten. Die Spiele werden weniger und wöchentlich schwanke ich zwischen Verzweiflung und Zuversicht.
Mit Tränen in den Augen lagen wir uns in den Armen, laut schreiend und mit zitternden Knien. Noch besser kann man ein Spiel nicht erfinden. Führung, Ausgleich, Führung, Platzverweis, Ausgleich kurz vor Schluss und das Siegtor in der Nachspielzeit. Es ist der Stoff, aus dem die verrücktesten Geschichten entstehen. Eine solche hat der VfB am Sonntag Nachmittag geschrieben. Keine solche, die uns den sicheren Klassenerhalt bescheren wird. Aber ohne jeden Zweifel eine solche, die in Erinnerung bleiben wird. Eine Geschichte über den Wagemut eines Tabellenletzten, die Verzweiflung der Treuesten und einen goldenen Pass ins Glück.
“Warum sollte es auch im verflixten siebten Jahr anders laufen?” bruddelte ich und knallte frustriert mein Bauchtäschle auf die Couch meiner Eltern. Auf dem Tisch klappte ich den Laptop auf und setzte meine Bildbearbeitung in den Abendstunden fort, nachdem wir aus Wolfsburg zurückgekehrt waren. Vor meinem inneren Auge erschienen noch einmal all jene Auswärtspartien bei den Wölfen, die dieses Spiel seit Jahren zu meinem ganz persönlichen Trauma gemacht haben. Eine Geschichte über einen jahrelangen Fluch, über unzählige Stiche ins Herz und über die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum es mich trotz alledem immernoch hierher zieht.
Was ist das da in meinem Gesicht, und warum fühlt es sich so gut an? Tiefe Grübchen in meinen Wangen zeugen von jenen Moment, auf den ich so lange hatte warten müssen. Welch ungewohntes Gefühl, am Sonntag Vormittag am Rechner zu sitzen und nicht erneut um Worte ringen zu müssen, die wie der Abgesang eines Vereines klingen, dem der bittere Gang in die zweite Liga bevor steht. Vermag sich zwar am Tabellenplatz zunächst nichts geändert haben, doch diesmal ist alles anders. Etwas, was wir schon lange verloren geglaubt haben, ist an den Neckar zurückgekehrt: die Hoffnung der Gescholtenen.
Es tut so weh. Das, was wir am meisten lieben, wofür wir einstehen und woran wir immer geglaubt haben, es bricht uns das Herz. Es tut weh, Woche für Woche den Niedergang eines einst so stolzen Vereins mit ansehen zu müssen. Es tut weh, zu wissen, dass man vor gut fünf Jahren noch im Champions League Achtelfinale gegen den FC Barcelona stand. Es tut weh, zu sehen, wie ein Teil der Fans nach gut einer Stunde den Block verlassen und nach Hause fahren. Doch am meisten tut mir weh, dass wir, denen der Verein augenscheinlich am wichtigsten ist, das Wenigste bewirken können.
Von nichts und niemanden wollte und konnte ich mich trösten lassen. Als die meisten der leidgeprüften Fans der Cannstatter Kurve bereits in die Nacht entschwunden waren, verblieben wir noch lange Zeit vor den Toren des Stadions. Am Samstag wollte ich am liebsten über jenen umgestoßenen Bock berichten, der das Saisonende noch einigermaßen erträglich gemacht hätte. Was ich denn nun darüber schreibe sollte, hatte ich verzweifelt gefragt. Fanbetreuer Christian Schmidt hatte mir gesagt, ich solle nur einen Satz schreiben: „Dieses Spiel bewerte ich erst am Ende der Saison“.
Es gibt keine neuen Worte mehr, die ich finden kann. Woche für Woche ringe ich erneut, mit den Zeilen, mit den Gedanken – und nicht zuletzt mit mir selber. Woche für Woche der leere Blick, der Kloß im Hals, die Angst im Nacken. Woche für Woche sehen wir den Abgrund näher kommen. Stets erfüllt mit dem flehenden Gedanken, das Unheil müsse doch irgendwie aufzuhalten sein, doch Woche für Woche mit der ewig gleichen Frage: Ist es schon zu spät?
Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Der Kloß in meinem Hals wird größer. Jedes Mal, wenn ich das Bild sehe, wie der große junge Blonde in den Armen eines Fans versinkt, vermögen auch mir die Tränen zu kommen. Es war die eine Szene, die von der Partie gegen Dortmund die emotionalste war. Eine spontane Geste des liebevollen Trosts, in einer Zeit, in der Frust und Verzweiflung unsere Emotionen beherrschen.
“Okay, das wars!” – Und kaum jemand konnte einem widersprechen. Auch am Tag danach lässt es sich schwer greifen, was in Hoffenheim vorgefallen ist. Man möchte fast meinen, man sei sie ja noch gewohnt, die späten Gegentore, mit denen man das Spiel verliert – und trotzdem schocken sie einen wie am ersten Tag. Was vor einigen Wochen und Monaten noch den Pessimisten vorbehalten war, hat mittlerweile weitreichend um sich gegriffen: die Angst vor dem Abstieg hat uns voll und ganz im Griff.
Ratlosigkeit. Enttäuschung. Verzweiflung. Ich bin es ja fast schon gewohnt, am Tag nach bitteren Niederlagen dann doch noch ein paar Worte zu finden und meine Sicht der Dinge niederzuschreiben. Es gab Zeiten, da war es durchaus einfacher, sich Sonntags an die Tastatur zu setzen und Seite für Seite den Worten freien Lauf zu lassen. Die Jahre im Abstiegskampf haben mich mürbe gemacht. Ist es nicht seltsam, dass mir bereits Stunden oder gar Tage vor einem Spiel der Gedanke durch den Kopf schießt, wie unerträglich zäh am nächsten Tag das Berichten einer weiteren Niederlage werden würde? Wo ist nur der Glaube geblieben, an das Beste in der Mannschaft zu appellieren?
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge machten wir uns spät Abends auf den Heimweg. Einen großen Anlass zum Lachen gab die spielerische Darbietung des VfB zwar nicht, doch waren es ein weiteres Mal die Umstände, die auch diese fade Auswärtspartie zu etwas Besonderem gemacht haben: eines meiner deutschen Lieblingsstadien, tolles Essen und noch viel tollere Leute, darunter auch meine langjährige Freundin Melanie, ihres Zeichens dem FC verschrieben. So wiegt die Freude über einen ansonsten gelungenen Tag doch ein wenig mehr als jeder Frust über viele vergebene Möglichkeiten.
„Alles wie immer“ meinte ein langjähriger Kumpel zu mir, als er den Block verließ. Wirklich überrascht war ich vom Ausgang des Spieles nicht, ist doch jeglicher Optimismus in den letzten zwei Jahren ohnehin vollständig verloren gegangen. Ich bin mir nicht sicher, was alle anderen erwartet hatten. Man konnte nicht davon ausgehen, dass ein als erfolgreich tituliertes Wintertrainingslager an der portugiesischen Küste all das ausmerzen würde, woran der VfB schon seit Jahren krankt. Schwermütig schreibe ich auch heute meine Zeilen und weiß genau, warum ich die Winterpause so genossen habe. Sie konnte einem nämlich nicht weh tun.
Fast schon wehleidig musste ich mich von jenen verabschieden, mit denen ich ein wunderbares Wochenende verleben durften. Lange nachdem das letzte Spiel gespielt, die Pokale übergeben und das Flutlicht in der Halle ausgeschaltet wurde, saßen wir noch in der VIP-Loge zusammen, tranken und aßen noch etwas und formulierten ein erstes Resümmee von zwei beeindruckenden und spannenden Tagen. Für Felix und mich ein absolutes Novum – es war unser erstes Mal im Sindelfinger Glaspalast, und dazu noch ein ganz besonderes Debüt.
“Gott sei Dank” – es war nicht die Freude über den einen Punkt, den man nach 90 Minuten zu verzeichnen hatte, es war vielmehr die Erleichterung, dass nun endlich Winterpause ist. Selten hat man ein paar freie Wochen so sehr herbei gesehnt wie in dieser schweren Saison. Sechs Wochen hat der VfB nun Zeit, sich auf das vorzubereiten, was ihnen in der Rückrunde bevorsteht. Mit Sicherheit wird es nicht einfacher, im Gegenteil. Umso trauriger, dass man seinen Treuesten noch nicht einmal einen auch nur halbwegs erträglichen Jahresabschluss bereiten konnte.
Eine halbe Stunde kann so verdammt lang sein. Eine nervliche Zerreissprobe für gut 1.500 mitgereiste Fans, die noch eine halbe Stunde bis zum Abpfiff überstehen mussten. Wie man ein solches Spiel in einem doch nicht gerade vor Selbstbewusstsein strotzenden Zustand gewinnen kann, bleibt ein Rätsel, das nicht einmal der VfB selbst zu beantworten vermag. So oft hatten wir in dieser Saison sagen müssen “Es gibt manchmal solche Tage” – das funktioniert zum Glück auch mal anders herum.
Ist es nicht traurig, womit man heutzutage schon zufrieden sein muss? Einen Punkt hatten wir aus Mainz wieder mit nach Hause gebracht. Zwei weniger, als benötigt – einer mehr, als erwartet. Schlechter kann es in der Tabelle kaum werden, man sollte umso dankbarer sein für jeden einzelnen Punkt, den man in diesen unruhigen Zeiten ergattert. Und dennoch vermag man nicht so recht zu wissen, was man davon nun eigentlich halten sollte.
Wieviel kann ein Fan ertragen? Minutenlang sitze ich vor dem Dokument, mit nicht mehr darauf als dieser einen Frage. Die Suche nach Antworten dauert an. Das Seuchenjahr 2014 neigt sich dem Ende, und mit ihm die letzten Hoffnungen und Träume. Wir wissen, was hinter uns liegt. Wir wissen jedoch nicht, was vor uns liegt. Vermutlich nicht viel mehr als Sorgen und Kummer. Es tut weh. Mit einem Kloß im Hals schreibe ich diese Zeilen nieder, atme schwer und frage mich, wieviel Schmerz wir noch erdulden müssen, bevor ein Schrecken ohne Ende im Sommer des kommenden Jahres sein erwartetes Ende nimmt.
Der Heizkörper hinter mir blubbert leise vor sich hin, bequeme Kuschelsocken wärmen meine chronisch unterkühlten Füße und neben meiner Tastatur steht ein Kamillentee auf dem Tisch. Vorsichtig nehme ich einen Schluck. Es ist schön, sich etwas Gutes zu tun, nachdem man seinem Körper viel abverlangen musste. Schattige Temperaturen, ein schmerzhaftes Handicap und ein enormer Kraftaufwand in Sachen Support waren von Nöten, um trotz allem ein Lächeln in mein Gesicht zu zaubern.
Einige Tage sind ins Land gegangen seit jenem Sonntagsspiel gegen Augsburg. Was in den nachfolgenden 48 Stunden folgte, schlug mir im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen, davon musste ich mich zunächst erstmal erholen. Vor einigen Tagen sah die Welt noch ein wenig anders aus. Darüber zu schreiben, fällt mir schwer. Den öffentlichen Medien offensichtlich nicht, nach dem Hamburger SV und Schalke 04 hat man nun den nächsten Chaos-Klub, der nach allen Regeln der Kunst an den Hörnern durch die Arena der Gazetten geschleift wird. Hier gilt nur eine Regel: wer schon am Boden liegt, wird getreten.
Seit vielen Jahren das gleiche Spiel. Einige Male ist im Moment des größten Frusts schnell gesagt, man könne es nicht mehr ertragen, und man habe keine Kraft mehr dazu. Nur um dann doch jede Woche aufs Neue hinaus zu ziehen und ein Glück zu suchen, das man eine Woche zuvor noch für immer und alle Zeiten abgehakt hat. Woche für Woche hofft man zumindest ein kleines bisschen auf ein kleines Wunder, furchtlos ins Stadion zu gehen, das gibt es schon sehr lange nicht mehr.
Es gibt so Tage, da soll es einfach nicht sein. Ein bisschen Wehmut ist dabei, wenn meine Gedanken noch immer um das 3:3 gegen Leverkusen und das 5:4 gegen Frankfurt kreisen. Für solche Spiele lebt man, dafür gibt man sein Herzblut, hält die Flagge weit nach oben und sagt voller Stolz, wie froh man ist, Fan dieses Vereins zu sein. Zu was der VfB im Stande ist, haben wir zuletzt eindrucksvoll gesehen. Umso ernüchternder die Tatsache, dass man nun auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.
Ungläubig stand ich da und schüttelte den Kopf. Gut 3.999 taten es mir gleich. Wieviele unzählige Male wir in den letzten Jahren am Ende dastanden wie die begossenen Pudel, wir wollten nicht glauben, dass ein weiteres Spiel ohne Not verloren wurde. Erneute Fassungslosigkeit – aber dieses Mal doch so anders. 90 Minuten für die Geschichtsbücher, ein wirres Spektakel hatte gegen 17:25 Uhr ein glückliches Ende. Die allermeisten Brustringträger, die sich auf den Weg in die Europastadt gemacht hatten, zückten am Ende das Smartphone und machten ein Foto. Das Motiv war stets das gleiche. Hoch über unseren Köpfen war das Ergebnis zu lesen. Vier zu Fünf.
Manchmal liegen Freud und Leid näher beieinander, als man sich vorstellen kann. Zwanzig Minuten zwischen dem absoluten Schockzustand nach einer indiskutablen Darbietung, nach der selbst ein junger Kreisklassenspieler gesagt bekommt, er wäre für diesen Sport einfach nicht gemacht; und jener großartigen Aufholjagd, die nach einem aussichtslosen 0:3-Rückstand noch einen Punkt sicherte. Die Geschehnisse vom gestrigen Tage aufzuarbeiten, fällt mir nicht leicht, ich kann es noch gar nicht richtig fassen, was da gestern im Neckarstadion passiert ist.
Brrrrt. Brrrrt. Brrrrt. Brrrrt. Brrrrt. Unaufhörlich vibrierte mein Telefon auf dem kiefernfarbenen Couchtisch. Nein, ich werde jetzt nicht nachschauen. Brrrrt. Brrrrt. Brrrrt. Mein Herz schlug so laut, ob das jemand hören konnte? Felix hielt meine Hand ganz fest, während wir – umringt von seiner Familie – am Sonntag Abend vor dem großen Flachbildschirm im Wohnzimmer saßen. Brrrrt. Brrrrt. Brrrrt. Nach einigen Minuten schaute ich dann doch nach.
2.400 ratlose Gesichter. Sehr viel mehr war vom Flutlichtspiel im altehrwürdigen Olympiastadion in der Hauptstadt nicht übrig geblieben. Dass es der VfB häufig einfach nicht besser kann und mit lediglich begrenzten Mitteln arbeiten muss, ist bisher durchaus schon bekannt gewesen, dass er sich ohne jede Not selbst besiegt, gehört zu den wirklich grausamen Dingen dieses Sports. Mein bester Freund meinte nach dem Spiel, er habe sich nach langer Zeit mal wieder richtig aufgeregt, denn ein solches Spiel darfst du nie im Leben verlieren. Recht hat er.
…schlägt mein Herz in weiß und rot. Ich lass dich niemals allein, du bist ewig mein Verein. Wir werden niemals untergehn, solange unsre Fahnen wehn. Minutenlang klang uns das Lied in den Ohren und führte uns letztendlich dahin, wonach wir uns nach so vielen Monaten so leidenschaftlich gesehnt haben: den Heimsieg, den Moment, in dem die ganze Kurve tobt. Es ist lange her, seit der VfB den letzten Sieg eingefahren hatte, umso größer sind nun die Erleichterung und die Freude.
Es wäre ja auch zu schön gewesen. Gerade eben noch schaute ich ungläubig auf die große Anzeigetafel links neben mir und konnte nicht fassen, was ich da sah. 0:2 stand da in riesigen Lettern geschrieben, um mich herum eine ausgelassene Stimmung, wie sie es schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gegeben hat. Und doch kam es am Ende anders. Dankbarkeit, zumindest einen Punkt mitzunehmen, sieht anders aus. Den Sieg verschenkt, den man gerade noch auf dem Serviertablett hatte. Das ganz üble Spiel blieb uns erspart, ein weiteres Mal am Ende den Dreier zu verschenken, ist am Ende aber fast noch übler.
Mit leeren Blicken starrte ich auf das Spielfeld hinaus, wie bereits zuvor in dieser Saison, wie bereits zuvor in der letzten Saison, wie bereits zuvor in der Saison vor der letzten Saison. Die tollen Zeiten sind vorbei. Es blieb ruhig in Bad Cannstatt. Jedenfalls fürs Erste. Wirklich überraschend kam es für die wenigsten von uns. Wir wussten, wie groß die Verunsicherung der Mannschaft schon zu diesem Zeitpunkt der Saison ist, es fehlt an Toren, und meist auch, an der Gier nach eben solchen.
Warum tu ich mir das eigentlich noch an? Weil ich es mir so ausgesucht habe. Mit einem schweren Kopf hänge ich motivationslos über der Tastatur. Nur langsam setzt die Wirkung der Schmerztablette ein, die ich mir vor wenigen Minuten eingeworfen hatte. Es trifft die aktuelle Situation beim VfB ganz gut – die Sorge um den eigenen Verein verursacht Kopfschmerzen. Immer wieder kreisen meine Gedanken um das Unabwendbare, das uns bevorsteht, wenn der Schalter nicht umgelegt wird. Dabei dachten wir alle, es könne nicht schlimmer kommen als in der vergangenen Saison.
Langsam und bedächtig lief ich umher, meine Hand streifte über Wände und Türen, ehrfürchtig schaute ich mich um. Kaum einen Ort kenne ich besser als diesen hier, und doch war es so anders, so merkwürdig, so beeindruckend. Gedankenverloren stand ich am Anstoßpunkt im Neckarstadion, starrte auf die vollkommen leere Cannstatter Kurve vor mir, schloss die Augen und atmete tief durch.
Es gibt Tage, da fehlen einem die Worte. Zu wissen, dass die neue Saison gerade erst begonnen hat, aber nicht zu wissen, was einem noch Hoffnung machen soll, ist beängstigend. Das kurze Loblied nach dem durchaus positiven Spiel in Gladbach ist schnell wieder verstummt. Zwei Spieltage sind jetzt vorüber, nachdem wir monatelang auf den Start der neuen Spielzeit warten mussten. Jetzt sitzen wir hier und stellen uns schon jetzt die Frage, von der wir gehofft hatten, sie die ganze Saison nie stellen zu müssen: „Wird es etwa noch schlimmer?“
“Ich glaub, es geht schon wieder los…” – keine andere Melodie klingelte in unseren Ohren häufiger als jene sieben Worte. Setzt der VfB nun tatsächlich nahtlos das fort, was uns letzte Saison so unzählige Punkte gekostet hat? Wie ordnet man ein Spiel ein, von dem man glaubte, man würde es (gemessen an der Schande von Bochum) haushoch verlieren, und das ein weiteres Mal in wenigen Minuten zum Faustschlag in die Magengrube wurde? Die wichtigste Frage allerdings: wie geht es weiter?
Seit Stunden schleiche ich immer wieder um meinem Rechner herum, schaue wissenden Blickes auf die Tastatur, die noch völlig unbehelligt auf dem buchefarbenen Schreibtisch liegt. Ich weiß, was zu tun ist. Aber ich weiß nicht, ob ich es möchte. Mehr als 24 Stunden hatte ich nun Zeit, die Geschehnisse des Samstag Nachmittags für mich selbst zu verarbeiten, sie einzuschätzen und sie schlussendlich zu Papier zu bringen. Was bleibt ist das Gefühl, es bereits geahnt zu haben, und zu guter letzt: dass es wohl besser wäre, nichts mehr von diesem Verein zu erwarten.
Da war gar nichts mehr. Nur noch Frust. Enttäuschung. Verbitterung. Dabei hatte die Saison noch nicht einmal angefangen. Mit hängenden Köpfen fuhren wir am Tag zuvor heim, mit 2:0 unterlag der VfB beim Zweitligisten in Bochum. Welch eine Schmach, welch eine Schande. Wirklich mit der Möglichkeit des Ausscheidens geplant hatte der VfB offenbar nicht und vereinbarte bereits Monate zuvor mit Krombacher ein Benefizspiel im benachbarten Fellbach. Niemand hatte auf dem Schirm, dass die Köpfe tief hängen würden und sie sich die Frage gefallen lassen mussten, was am Tag zuvor passiert war.
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